Die Stille des Meeres von Donal Ryan

Die Stille des Meeres von Donal Ryan - Astrolibrium

Die Stille des Meeres von Donal Ryan

Das Meer ist eine tragfähige Metapher für Geschichten voller Tiefgang, tosende Stürme, Flauten ohne jedes Vorankommen, Sehnsucht nach den letzten Abenteuern, rettungsloses Hoffen auf die Sichtung erster Leuchttürme und nicht zuletzt für all die Flüsse, die ihrem Lauf folgen und sich letztlich ins Meer ergießen. Wer eine gewisse Affinität zu den großen Ozeanen unserer Erde verspürt und literarisch immer wieder gerne in See sticht, der wird sicher hellhörig beim Titel des neusten Romans aus der Feder des irischen Schriftstellers Donal Ryan. „Die Stille des Meeres“ vermittelt auf den ersten Blick – auch in Anbetracht des atmosphärischen Wellengang-Covers – das Gefühl, es mit einem wahrhaftigen Meeres-Roman zu tun zu haben. Schaut man sich jedoch den Originaltitel „From a Low and Quiet Sea“ etwas genauer an, dann dürfte schnell klar werden, dass wir es eher mit einer Geschichte zu tun haben, die sich aus der Mitte einer ruhigen und nicht allzu tiefen See an unsere Ufer mäandert. Doch wie wir alle wissen: „Stille Wasser sind tief“ und so ist es auch mit diesem Buch. Es reißt uns mit, entwickelt einen unwiderstehlichen Sog, changiert in den unterschiedlichsten Windstärken und tritt schließlich über die Ufer, um alle Flüsse, von denen es gespeist wird, miteinander zu vereinen.

Es wirkt schon fast wie ein Schreib-Experiment, dem wir in „Die Stille des Meeres“ ausgesetzt sind. Schon der Klappentext bereitet uns auf drei einzelne Geschichten vor, die sich erst am Ende in einer kleinen irischen Stadt auf unwahrscheinliche Weise und mit fatalen Folgen miteinander vereinen. Und schon taucht hier der zweite Eyecatcher auf, der mich dazu führte, diesem Roman zu folgen. Irland. Land der Verheißung und literarischer Sehnsuchtsort, Schauplatz wahrlich großer Romane und Ausgangspunkt bewegender Schicksale, die von Auswanderung, Armut und der Flucht aus einem von der Weltgeschichte zerrissenen Land berichten. Im Gegensatz zu diesen Geschichten jedoch ist es diesmal die Grüne Insel, die zum Schmelztiegel der Geschichten dreier Männer wird. Hier fließt alles zusammen. Hier wird „Die Stille des Meeres“ zu einem tiefgründigen Rauschen und Murmeln von Wellenschlägen, die unsere Ufer erreichen.

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Die Stille des Meeres von Donal Ryan

Um im maritimen Jargon zu bleiben, den „Die Stille des Meeres vorgibt“ möchte ich meine Wahrnehmung der drei Einzelgeschichten mit einem Aggregatzustand der hohen See überschreiben:

Der Sturm – Farouk

Es ist die Geschichte von Farouk, einem syrischen Arzt, der sich dazu durchringt, seine kleine Familie vor den Folgen des Krieges zu retten. Ein Flüchtlingsschicksal, das wir gerne als typisch bezeichnen würden, dem sich Donal Ryan jedoch literarisch in einer Wucht annähert, die Ihresgleichen sucht. Es sind nur knappe 80 Seiten dieses Buches, in denen er ein Land im Krieg, eine übermächtige Religion und den Vorbehalt beschreibt, unter dem ein Leben steht, das rein westlich orientiert ist. Am Ende steht die Flucht. Die letzte Chance für Farouk, sich selbst, seine Frau und seine Tochter retten zu können. Es ist die Hoffnung, die sie antreibt. Es ist das Entsetzen, das sich in ihnen ausbreitet, als sie das abgewrackte Schiff sehen, das sie nach Europa bringen soll. Es ist die perfide Masche der Schlepper, ihre Schutzbefohlenen zu betrügen. Das Drama ist vorprogrammiert. Das Scheitern auf hoher See nur eine Frage der Zeit. Und es ist die literarische Brillanz, mit der uns Donal Ryan zu Schiffbrüchigen macht. Wir folgen Farouk bis zum fatalen Wendepunkt seines Lebens. Als seine Geschichte endet, war ich den Tränen nah. Hier in eine neue Geschichte einzusteigen fühlte sich an, wie ein „Legere Interruptus“ – ein unterbrochenes Lesen vor dem Höhepunkt.

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Nur die Hoffnung aus dem Klappentext trieb mich weiter. Am Ende sollte ich ihm erneut begegnen, also hinein in die zweite Geschichte. Hinein in eine Begegnung mit jenem zweiten Mann, der dieses Buch prägt. Seine Geschichte überschreibe ich mit:

Die Flut – Lampy

Jetzt sind wir in Irland. Jetzt begegnen wir Lampy, der mit seiner Mutter und seinem Großvater auf dem Land lebt. Eigentlich hat er gerade nur „Scheiße am Schuh“. Seine Mutter verheimlicht ihm, wer sein Vater ist. Sein Großvater nervt mit seinen Witzen auf Kosten anderer Leute und die erste große Liebe Chloe hat ihm den Laufpass gegeben und sein Herz bei ihrer Abreise gleich mit nach Dublin genommen. Sein Leben scheint im Schlick zu versinken, den die Ebbe zurückgelassen hat. Zumindest hat er einen Job als Busfahrer in einem Seniorenheim. Zumindest hier fühlt er sich nützlich. Seine alten Leutchen in den Bus setzen, sie zur Therapie oder zu Verwandten fahren und dann ins Heim zurückbringen. Was soll da schon schiefgehen? Wie die steigende Flut sich dem Alltag von Lampy langsam nähert, ahnen wir, dass aus der harmlosen Fahrt mit seinen Senioren eine Situation erwächst, in der er den Überblick verliert… Kein Vater, den Job als letzten Halt, eine Mutter voller Ausflüchte, die Freundin, die gar keine mehr ist, und ein Großvater, der sich sicherlich über ihn lustig machen wird. Das sind die Aussichten eines Lebens, als wir Lampy am Straßenrand verlassen. Die Flutwelle kommt.

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Die Stille des Meeres von Donal Ryan

Zeit, dem letzten Protagonisten zu begegnen. Ich nenne sein Kapitel:

Die Ebbe – John

Ihm steht der Schlick sprichwörtlich bis zum Hals. Das Lebenselixier Wasser hat sich zurückgezogen und ihm bleibt nur noch dieser letzter Versuch, mit sich und Gott seinen Frieden zu machen. Es ist eine Beichte, die John in der letzten Stunde seines Lebens ablegt. Und er hat viel zu erzählen. Der große Manipulator und Betrüger hat zeitlebens im irischen Ardnamoher die Strippen gezogen. Ob es die Verluste seines Lebens waren, die ihn zum Betrüger, Erpresser und schamlosen Lobbyisten gemacht haben? Wer weiß das schon.. Er versucht sich zaghaft in Ausflüchten, doch je näher sein Ende kommt, desto drängender wird die Frage, ob er mit seiner Lebensbeichte überhaupt seinen Schöpfer erreichen kann. John hatte nie anderes im Sinn, als Hass zu säen, Profit aus Gerüchten zu ziehen und sich an den Menschen seiner Heimat zu bereichern. Jetzt rechnet er mit sich ab, während das Lebensmeer sich zurückzieht. Auch hier gelingt es Donal Ryan, uns in einem außergewöhnlichen Beichtstuhl zum Zuhörer einer verlorenen Seele zu machen. Ob wir ihm seine Reue abnehmen oder nicht, sie ist essenziell für „Die Stille des Meeres„…

So lässt uns der Autor am Ende von drei Geschichten zurück, bevor er schließlich sein letztes Kapitel aufschlägt. Ein Kapitel, dem wir entgegenfiebern, eine letzte Welle eines stillen Meeres, das uns so sehr bewegt hat. Es ist dieser Spannungsbogen, der mich bis zum Ende trieb. Wie wollte der Autor diese drei Geschichten auf wundersame Weise miteinander verbinden? Wie wollte er auf einen Nenner bringen, was bisher für mich nur lose Enden waren? Zu weit voneinander entfernt bewegten sich drei Männer durch das Setting ihrer jeweiligen Geschichten. Sollte sein Finale „Seeinseln“ halten, was der Klappentext so geheimnisvoll angedeutet hatte?

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Der Gezeitentümpel – Meine Überschrift für das Ende

In „Die Nordsee“ von Tom Blass wurde ich auf diesen Ausdruck aufmerksam. Es sind kleine Seen, die von Stürmen verursacht werden, all das beinhalten, was die Flut angespült hat und was die Ebbe zurücklässt. In diesen Zeittümpeln bilden sich kleine Inseln, die bis zur nächsten Flut Bestand haben. Ein Brennglas der Zeit. Ein solcher „Gezeitentümpel ist es, in den uns Donal Ryan am Ende eintauchen lässt. Hier sind die Spuren seiner drei Geschichten zu finden. Hier vereinen sie sich und als Leser ist es nicht mehr die Frage, wie ihm diese Vereinigung gelingt. Die Frage lautet eher, wann und wo man selbst die Verbindungslinien hätte sehen können. Brillant konstruiert und großartig erzählt. Er führt uns die Zufälligkeiten des Schicksals vor Augen, spielt mit unserer Wahrnehmung und ruft uns aus der Stille des Meeres zu, dass es ja vielleicht gar keine Zufälle gibt. Es ist ein Roman der Bestimmung. Es ist eine Antwort auf die Frage, was es bedeutet, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Oder eben nicht. Versagen, Verlust und Hoffnung spiegeln sich in der Oberfläche dieses kleinen Gezeitentümpels wider. Ein würdiges Ende für einen lesenswerten Roman.

Weitere Meeresbücher in der kleinen literarischen Sternwarte. Meer geht immer! Und literarische Reisen nach Irland sind immer lesenswert. Hier geht´s lang!

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SEESUCHT von Marlies van der Wel

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SEESUCHT von Marlies van der Wel

Seesuchtsvoll habe ich nach einem Zoom-Meeting mit dem Mixtvision Verlag auf dieses Buch gewartet. Seesüchtig freute ich mich auf den Moment des Eintauchens in einem besonderen Bilderbuch. Inzwischen hat dieses Kunstwerk hohe Wellen in der kleinen literarischen Sternwarte geschlagen. „Seesucht“ von Marlies van der Wel hat mich eingesaugt, meine Wahrnehmung verändert und mich bereichert wieder an Land abgesetzt, wo ich jetzt – festen Boden unter den Füßen – darüber schreiben kann, was ich in diesem Buch erlebt habe. Doch Vorsicht, es kann sein, dass ich zwischendurch immer wieder mal abtauchen muss, um unter Wasser Luft zu holen, damit ich mir hier keine nassen Füße bei der Rezension einfange. Die Seesucht ist einfach zu groß.

Schon beim Lesen des Buchtitels verspürte ich schon tiefe Dankbarkeit. Ich bin literarisch oft „draußen auf See“. Ich bin fasziniert von diesem tiefblauen Element, das unser Leben bestimmt. Zahllose Bücher zu den Themen Meer und Wasser bevölkern meine kleine Bibliothek und vermitteln das Gefühl, eine kleine Aquanautik-Abteilung zu führen. Was ich bisher nicht in Worte fassen konnte, gelingt Marlies van der Wel mit dem Titel ihres Bilderbuchs. Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes „seesüchtig„. Jetzt gibt es endlich ein Wort für die Sehnsucht nach dem Meer. Ein Wort für die tiefe Lust, in die Wellen zu laufen, mich schwerelos zu fühlen, treiben zu lassen, und in der Tiefe nach allem zu suchen, was sich dort verbirgt. Es ist die ungestillte Seesucht, die mich immer wieder in Bücher, an Strände und an Bord von Schiffen treibt.

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SEESUCHT von Marlies van der Wel

Da darf man sich nicht wundern, dass ich in literarische Schnappatmung verfiel, als ich auf diese Neuerscheinung aufmerksam gemacht wurde. Ich jedoch durfte mich wundern, in welche Tiefen mich dieses Buch entführen konnte. In bewegenden Bildern mit minimalistisch erscheinenden, jedoch vielsagenden Texten, erzählt uns die Autorin und Illustratorin die Geschichte von Jonas. Wir lernen ihn im Kinderwagen am Strand kennen, sehen seine ersten, magisch vom Meer angezogenen, Schritte zum Meer und das erste Eintauchen in dem fremden Element. Den großen Augen sieht man die tiefe Begeisterung an, die Schwerelosigkeit umfasst das Kleinkind, doch atmen funktioniert nicht. Im letzten Moment rettet die Mutter ihren kleinen Sohn. Was niemand ahnt. hier beginnt die „Seesucht“ des kleinen Jonas.

In interessanten Zeitscheiben dürfen wir ihm weiter auf der Suche nach seinem Sinn des Lebens folgen. Ob als Acht- oder Achtzehnjähriger, man spürt  dass seine Faszination für das Meer kein Ende findet. Nur sein Ideenreichtum nimmt zu. Es sind Zufallsfunde, die ihm nun dabei helfen, seine Aufenthalte im Meer zu verlängern. Hier erlangt auch der Begriff „Strandgut“ eine neue Bedeutung. Letztlich jedoch scheitern seine Versuche immer wieder. Der dreißigjährige Jonas experimentiert mit einem U-Boot und endlich gelingt ihm eine Tauchfahrt auf Augenhöhe mit den Fischen. Seine Konstruktion ist gewagt und nur ein dummer Zufall beendet das Abenteuer. Die Jahre ziehen vorüber und Jonas sammelt beharrlich Strandgut. Er lässt sich treiben, es sind die Zufälle, die ihn mit neuen Fundstücken versorgen. Die Liebe zum Meer bleibt. Bis wir ihn zuletzt mit achtzig Jahren sehen. Bilder, die wir kaum glauben können. Bilder, die belegen, dass lebenslang geträumte Träume und Visionen real werden können. Wir versinken in großzügigen 78 Seiten eines kleinen Wunders.

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SEESUCHT von Marlies van der Wel

Marlies van der Wel erzählt mit ihren facettenreichen Mitteln die Geschichte einer wahrhaftigen Bestimmung. Sie erzählt von nicht enden wollender Ausdauer und einer Beharrlichkeit, die ein ganzes Leben bestimmt. Sie malt uns ein Bild des Scheiterns ins Herz und zeigt zugleich, dass Aufgeben für Jonas niemals in Frage kommt. Sie erzählt in Wort und Bild, dass man Lebensziele nicht immer auf direktem Weg erreicht, und in vielen Fragen des Lebens geduldig sein muss. Das Meer steht hier als Sinnbild für das Glück, nach dem wir alle streben. Wenn wir die Flinte ins Korn werfen (oder den Anker über Bord), dann kommen wir keinen Schritt weiter. Und genau hier wird das Buch für Eltern und Kinder oder sogar für Großeltern und das gemeinsame Lesen interessant. Auch wir hatten und haben unsere Träume, auch wir haben ihnen hinterhergejagt, mal mit mehr und mal mit weniger Erfolg. Wenn wir Werte an unsere Kleinen weitergeben möchten, dann sind dies eben gerade Beharrlichkeit und der Wille, nicht aufzugeben.

Was hier „Seesucht“ heißt, trägt für viele Kinder und Jugendliche andere Namen. Der Transfer zu ihren Visionen und Träumen fällt leicht. Vielleicht ist es ihre Sportsucht, die Reitsucht, die Ballettsucht oder einfach die Sucht nach Freiheit. Darüber lässt sich nach diesem aufrüttelnden Bilderbuch trefflich reden. Wovon träumst Du? Was bist Du bereit für Deinen Traum zu investieren, und hast Du die Geduld, es auch auf Umwegen zu schaffen? Die Themen gehen uns nicht mehr aus. Versprochen. Und wenn man es bis hierhin geschafft hat, dann kan man das Strandgut suchen und definieren, was uns helfen kann, Lebensträume zu verwirklichen. „Seesucht“ ist ein Traumbuch. Es sind in erster Linie die faszinierenden und großformatigen Bilder, die uns bestechen. Es sind die Details, die wir in ihnen entdecken. Es ist aber auch ein Muster, das jedem einzeln geträumten Wunschtraum zugrunde liegt, das wir hier auf unser Leben übertragen.

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SEESUCHT von Marlies van der Wel – Mit einem Klick zum Film auf Vimeo

„Seesucht“ ist nicht zuletzt auch der Beharrlichkeit von Marlies van der Wel zu verdanken. Was mit einem Kurzfilm begann, an dem sie viele Jahre gearbeitet hat, ist nun zu einem Buch geworden. Aus „Zeezucht“ oder „Jonas und das Meer“ wird jetzt ein Bilderbuch, das wir jederzeit wieder hervorholen können, wenn uns die Sehnsucht mal wieder packt. Es ist das Strandgut des Lebens, das uns die Autorin überreicht. In der Geschichte finden wir das Muster der Gegenstände, die ans Ufer gespült wurden. Auch wir haben unser Strandgut immer in unserer Nähe. Auch, wenn wir denken, es sei nutzlos und wenig wert, weil es anderen verloren ging. Einen wahren Nutzen zeigt unser Strandgut nur, wenn wir ihn erkennen wollen. Dieses Buch hilft uns dabei.

Das Meer und das Wasser bei AstroLibrium. Dies ist mein Strandgut, das ich mehr als gerne mit euch teilen möchte: Es sind die Bücher, die ich fand.

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SEESUCHT von Marlies van der Wel

Ich habe die Suche niemals aufgegeben, und vielleicht schreibe ich mit 80 Jahren mein erstes Buch. Träumen wird man ja wohl noch dürfen. Das ist der Jonas in mir.

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Die Nordsee von Tom Blass

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Die Nordsee von Tom Blass

Als der Entschluss feststand, in diesem Jahr das Städtedreieck Amsterdam, Delft und Den Haag in den Mittelpunkt unserer Urlaubsreise zu stellen, begann auch schon die Sichtung meiner literarischen Wegbegleiter. Sehnsuchtsorte und Sehnsuchtsbücher gehen Hand in Hand, wenn die Reisetaschen und Koffer gepackt werden. Museen und Galerien erzählen nicht immer ihre eigene Geschichte. Manchmal ist es ein Roman, der für die Auswahl der Destination verantwortlich ist. Mit dem „Distelfink“ nach Den Haag, „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ nach Delft bringen und das Anne-Frank-Haus in Amsterdam mit dem Buch „Alles über Anne“ besuchen. Entscheidungen, die meine literarische Landkarte schicksalhaft vorbestimmt hatten. So ist das im Lesen.

Und doch drängte sich ein weiteres Buch auf, ohne das man eigentlich gar nicht verreisen darf, wenn man ein Land besucht, das unter dem Meeresspiegel liegt. Mein Eindruck sollte mich nicht trügen, denn schon bei der Ankunft an unserem Ferienhaus standen wir vor einem Deich, der das gesamte kleine Dorf vor dem Wasser beschützte. Sollte er brechen, das war schnell klar, würde es auch nicht reichen, sich aufs Dach zu flüchten. Leben unter dem Meeresspiegel, eine besondere Rahmenbedingung für eine Zeit, die von Entspannung, Kultur und Lebensfreude geprägt sein sollte. „Die Nordsee“ war omnipräsent. Ob direkt am Strand, in Kanälen, Grachten und Wasserwegen, die in der Landschaft tiefe Spuren hinterlassen.

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Die Nordsee von Tom Blass

Die Nordsee – Landschaften, Menschen und Geschichte einer rauen Küstevon Tom Blass stach aus der Reihe aktueller Neuerscheinungen als Wegbegleiter deutlich heraus. Einen weiteren Reiseführer wollte ich nicht mitnehmen. Ein wissenschaftliches Sachbuch sollte es nicht sein, aber ich wollte mehr über ein Meer erfahren, das im Lauf der Zeit einen Ruf erworben hat, der es rauer, gefährlicher und wilder erscheinen lässt, als es vielleicht wirklich ist. Nein, seichter Badeurlaub mit Bestwettergarantie ist mit der Nordsee nicht drin. Das sieht man deutlich, wenn man sich an unterschiedlichen Stellen der Küste nähert. Besonders bei schlechtem Wetter, wolkenverhangenem Himmel und entsprechender Windstärke zeigt dieses Randmeer, das es sich sehr wohl zu größerem berufen fühlt. Das ist ein Meer. Keine Randerscheinung des Atlantiks. Ein Meer mit der Identität eines Schelfmeeres, das den randlichen Bereich eines Kontinents bedeckt.

Tom Blass erweckt schon auf den ersten Seiten nicht den Eindruck, ein Sachbuch oder eine Meeresreportage verfasst zu haben. In diesem Buch ist Leben drin, es passt sich der Gezeitenlage seines Namensgebers an. Es überflutet mich mit Anekdoten und wasserdichten Geschichten. Es bringt mich den Menschen näher, die im wahrsten Sinn nah am Wasser gebaut haben und es lässt mich in den Phasen der Ebbe im Sediment nach Zeugen der Vergangenheit suchen. Dabei ist das Buch keine Wattwanderung für wasserscheue Landratten. Hier muss man sich schon drauf einstellen, dass einem das Wasser manchmal bis zum Hals steht. Spätestens dann, wenn die Menschen ins Spiel kommen, die von und mit der Nordsee leben.

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Die Nordsee von Tom Blass

Spannend wird ein solch umfassendes Werk, wenn man es selbst greifen kann. Ich stand mit dem Buch staunend an unserem Deich, betrachtete das Brassemermeer, als Teil der holländischen Seenplatte über dessen weitläufige Wasserarme die Nordsee in greifbare Nähe rückte. Was mir Tom Blass in diesen ruhigen Momenten meines Lesens über Deiche erzählte, hat mich tief beschäftigt und steht noch immer stellvertretend für die von ihm beschriebene komplexe Welt, in der ich mich befand. Fast schon poetisch erklärte er mir die Poesie dieser Polder. Als gäbe es eine Deichhierarchie bezeichnet man die Schutzwälle je nach ihrer Nähe zum Meer mit eigenen Namen. Der wachende Deich ist der wichtigste, der schlafende Deich sichert ihn in der zweiten Reihe ab und ganz zuletzt, wenn alle Dämme brechen, steht der träumende Deich bereit, sich in die Wellen zu werfen. 

Ich freundete mich mit meinem träumenden Deich an. Vertraute ihm. Und las mich an jedem Tag ein wenig tiefer in das wundervolle Buch hinein. Ich habe viel gelernt, bin bestens unterhalten worden und verbinde viele Details mit Ausflügen an die Strände in der näheren Umgebung. Die Magie der alten Seebäder, die Naturbelassenheit einiger menschenleerer Abschnitte und die umtriebige Geschäftigkeit der Hafenstädte zeigten mir viele Facetten eines Meeres, das Lebensader und Lebensgefahr in sich vereint. In den Kapiteln seines Buches lässt Tom Blass die Menschen nicht aus dem Auge, die im Angesicht mit den Nordseewellen lebten, leben und weiterleben werden. Eingriffe in die Natur spielen eine wichtige Rolle in seinem Buch. Der Mensch hat begradigt, dem Meer Land abgewonnen, Wasserwege schiffbar gemacht, Hafenbecken ausgebaggert und in letzter Zeit Windparks mitten im Meer errichtet. Blass stellt Zusammenhänge dar, die mit bloßem Auge nicht sichtbar wären.

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Die Nordsee von Tom Blass

Bedrohlich wirkt nicht immer nur die Nordsee. Viel bedrohlicher ist der Mensch, der ihre strategisch wichtige Lage zu nutzen sucht. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass kriegerische Auseinandersetzungen immer zur Folge hatten, dass man die Nordsee im schlimmsten Sinne nutzbar machte. Da wurden im Zweiten Weltkrieg Deiche gesprengt um Landstriche zu überfluten und Gegner zu ersäufen. Da wurde mit dem Leben jener Menschen gespielt, die hier nicht mehr auf dem Trockenen saßen und nicht zuletzt hat man auf dem Meer selbst die ein oder andere große Schlacht ausgefochten. Tom Blass arbeitet viele dieser Facetten so intensiv und unterhaltsam heraus, dass es keine Arbeit ist, dieses Buch zu lesen. Es riecht und schmeckt nach Meer. Es hinterlässt auch nach dem Lesen Gezeitentümpel, die nicht mehr austrocknen. Es bringt Kuriositäten zutage, über die man nur kopfschüttelnd schmunzeln kann und lenkt doch den Blick auf mehr.

Kulturelle Vielfalt, wirtschaftliche Abhängigkeiten im Wandel der Zeit und der ganz normale kleine Mann oder die kleine Frau im Hafen machen dieses Buch fast zu einem Standardwerk dieses Meeres. „Die Nordsee“ hat mir ein Bild vermittelt, das auch nach meiner Heimkehr haften geblieben ist. Es macht mich schon neugierig auf neue Reisen in die Länder, die ihre Küste an die Nordsee anlehnen. Es macht mich aber auch wach für aktuelle Nachrichten, wie sich die Region verändert, welche Pläne man hat, wie ein ewiges Gleichgewicht vielleicht doch aus der Bahn geworfen werden kann und was der Mensch seiner Umwelt durch kleine Eingriffe im Großen antun kann. Dem Mare Verlag ist nicht nur inhaltlich ein maritimer Volltreffer gelungen. Das kleine Buchkunstwerk hat einen Ehrenplatz in meiner Bibliothek und wird sicher erneut mit mir auf Reisen gehen.

Danke an meinen träumenden Deich. Schlaf gut…

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Die Nordsee von Tom Blass

Noch mehr Meer bei AstroLibrium. Stecht mit mir in die literarische See.

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Die Nordsee von Tom Blass

„Nordwasser“ von Ian McGuire – Moby Dick 2.0

Nordwasser von Ian McGuire

Ich habe lesend schon auf so manchem Seelenverkäufer angeheuert. Ich war Teil der Besatzung an Bord von Kriegsgaleonen, Walfangschiffen und Expeditionskreuzern. Ich habe gelernt, in die Wanten zu gehen, im Orlopdeck zu schlafen, Rettungsboote im richtigen Moment abzufieren und Kanonen bei hohem Seegang zielgerecht abzufeuern. Ich habe es mit Kapitänen zu tun gehabt, die all ihre Neurosen an mir ausgelassen und mich an den Rand der Meuterei gebracht haben. Einige haben mit ihrem Orgelspiel die ganze Mannschaft um den Verstand gebracht und andere schlugen Dublonen in einen Mast, um dem weißen Schreckgespenst der Meere nachzujagen. Nemo, Ahab, Drake, um nur einige von denen zu nennen, unter deren Kommando ich stand. Ich dachte, ich sei gewappnet für meine nächste Seereise. Ich dachte, ich hätte bereits alles erlebt.

Diese Rezension kann man auf Literatur Radio Bayern hören… Oder weiterlesen.

Diese Rezension kann man auf Literatur Radio Bayern hören

Weit gefehlt. Da schippert man auf den Weltmeeren umher, sieht Schiffe kommen und gehen, überlebt selbst die aberwitzigsten Situationen und lernt, selbst mit Kapitänen zu leben, die vom Pech verfolgt sind und absolut jedes Schiff auf Grund setzen. Ich dachte genügend gesponnenes Seemannsgarn entwirrt zu haben, um an Bord der Volunteer überleben zu können. Um es mit Elias zu sagen, der bereits einen gewissen Ismael vor der Fahrt mit der Pequod unter dem Kommando von Kapitän Ahab gewarnt hat: Nehmt Abstand von der Volunteer, wenn ihr sie im Hafen seht. Geht nicht an Bord. Heuert auf keinen Fall an, nehmt eure Beine in die Hand und rettet euch, bevor es zu spät ist. Eine Fahrt auf diesem Walfangschiff kann euch das Leben kosten. Ich weiß, wovon ich rede. Wenn ihr mir nicht glaubt, dann vertraut auf Ian McGuire. Lest das Logbuch der letzten Fahrt dieses Schiffes. Folgt ihm auf das Nordwasser und sagt später nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.

Nordwasser von Ian McGuire

Wir befinden uns in der Mitte des 19. Jahrhunderts im englischen Seehafen Hull. Der traditionelle Walfang ist im Niedergang begriffen. Einerseits wurden die Weltmeere von zahllosen Walfangflotten leergefischt und andererseits beeinträchtigen Erdölfunde den Absatz von Tran als Schmiermittel und Lampenbrennstoff. Umso verwunderlicher mutet es an, dass gerade ein Schiff für eine große Walfangexpedition ausgerüstet wird. Die „Volunteer“ liegt bereits im Hafen, die Mannschaft wird angeheuert und das Schiff wird beladen. Es werden Harpuniere, Schiffsjungen, Zimmerleute, Maate und Matrosen benötigt. Einen Kapitän hat der Schiffseigner Baxter bereits gefunden. Brownlee haftet jedoch der Makel an, vom Pech verfolgt zu sein. Katastrophen pflastern seinen Weg.

Und doch vertraut man gerade ihm die Volunteer an. Und wie überall in den großen Hafenstädten dieser Zeit tummeln sich undurchsichtige Gestalten, die auf einem Schiff anheuern wollen. Gründe gibt es viele. Die Suche nach Reichtum, der Wunsch einfach mal eine Zeitlang unterzutauchen, oder die Sehnsucht nach der Weite des Meeres. So setzt sich auch die Mannschaft der Volunteer zusammen. Heterogen, könnte man fast sagen. Als katastrophal müsste man es bezeichnen, wenn man ehrlich ist. Denn neben dem vom Seepech geplagten Kapitän gehen ein perverserer Serienmörder und ein Arzt an Bord, der unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde. Henry Drax ist eine tickende Zeitbombe mit brutalsten Neigungen und Patrick Sumner therapiert sein Versagen auf dem indischen Kontinent, indem er der beste Kunde der eigenen Medikamente ist. Sie sind beide gleichermaßen süchtig. Gemeingefährlich ist nur Drax.

Nordwasser von Ian McGuire

Ian McGuire pfercht uns im Erzählraum Volunteer ein. Sie wird unser Schicksal und die Mission des Schiffes mündet in die Katastrophe. Spätestens als ein Schiffsjunge an Bord mehrfach vergewaltigt und auf bestialischste Art und Weise ermordet wird, wird es richtig eng auf der Volunteer. Jeder gegen jeden, so könnte man sagen und mittendrin ein Arzt, der als einziger einen kühlen Kopf bewahrt und dem Täter auf die Spur kommt. Hier schreibt uns der Autor in ein Hybridszenario aus Moby Dick und Das Schweigen der Lämmer hinein. Das Wagnis Walfang scheint ihm nicht zu genügen. Ian McGuire macht aus diesem Schiff ein schwimmendes rechtsmedizinisches Inferno. Man braucht gute Nerven, um angesichts der Taten bei Leseverstand zu bleiben. Hier geht es brutal und heftig zu. So behandelt man nicht Mal die gejagten Wale. Ehre ist ein Fremdwort.

Um dem gesamten Szenario die Spannungskrone aufzusetzen mischt Ian McGuire einige weitere eisige Zutaten in diese Mischung aus Abenteuerroman und Thriller. Das Nordwasser als Schauplatz der verwegenen Fahrt der Volunteer mutiert zum Szenario großer gescheiterter Expeditionen. Ernest Shackleton lässt grüßen, wenn das Eis droht, die Volunteer zu zerquetschen. „Wild“ von Reinhold Messner wird zum Setting, als die Kälte die Kabinen des Walfängers erreicht. „Everland“ von Rebecca Hunt könnte Pate gestanden haben, wenn es gilt auf verzweifelte Robben- und Bärenjagd zu gehen. Und „Moby Dick“ von Hermann Melville grüßt uns auf jeder Seite von „Nordwasser“. Keine Frage: Dies ist das facettenreichste vielschichtigste Abenteuer, auf das ich mich jemals einließ.

Nordwasser von Ian McGuire

Überlegt euch sehr gut, ob ihr das „Nordwasser“ befahren wollt. Stellt euch darauf ein, an Bord der Volunteer grausamste Verbrechen zu erleben. Rechnet damit, dass es kälter wird, als ihr es euch je vorstellen konntet. Lernt die Sprache der Eskimos. Wenn ihr ihnen im Roman begegnet, wisst ihr, wovon ich hier rede. Scheut nicht davor zurück, Robben zu jagen, Wale zu schlachten und Eisbären zu verfolgen. Bereitet euch darauf vor, das Indien der Kolonialzeit zu erleben, weil ihr nur so begreift, warum ein britischer Arzt unehrenhaft das Schlachtfeld räumen muss. Und habt keine Angst davor, an Bord an allem zu leiden, woran man nur leiden konnte, wenn man zur falschen Zeit nicht am richtigen Ort ist.

Spannender kann eine Schiffsreise nicht sein. Ian McGuire hat den bekannten und legendären Abenteuerklassikern die Krone aufgesetzt, indem er uns mit einer multiplen Szenerie konfrontiert. Es gibt keine Rettung aus seinem Erzählnetz. Wenn er die Leser harpuniert hat, gibt es kein Entrinnen. Weder an Bord, noch an Land könnt ihr gerettet werden. Ihr müsst schon bis zum finalen Showdown ausharren, die Augen offenhalten und den Mut nicht verlieren. Ich kann euch nur raten, euch dem Arzt anzuvertrauen. Er weiß, was er tut. Zumindest, wenn das Laudanum wirkt. Patrick Sumner ist in der Tiefe seines Charakters so treffend beschrieben, dass man sich am Ende der Reise mit ihm auf jede weitere Reise begeben würde. Ob das möglich ist? Ob er überlebt? Ob es ihm gelingt, den Orkan auf dem „Nordwasser“ zu besänftigen? Wer weiß, wenn man nicht liest? So ist es immer im Leben.

Nordwasser von Ian McGuire

Geht an Bord. Leinen los. Winkt euren Lieben ein letztes Mal und seid versichert, dass ihr gut versichert seid. Das ist allerdings auch das Einzige, das ich euch mit auf diesen Weg geben kann. Natur, Verbrechen, Hass, Glaube und Hoffnung gehen Hand in Hand in der Klaustrophobie dieser fulminanten Erzählung. Nur eines werdet ihr auf der Reise nicht finden. Romantik oder Liebe, Frauen oder Familien, die auf euch warten. Das hier ist eine Männerwelt, die allerdings geeignet ist, gerade weiblichen Lesern Gänsehaut in ihr beschauliches Leben zu zaubern. Hier gibt es kein „Frauen und Kinder zuerst“. Hier geht nicht der Kapitän als letzter Mann von Bord.

Dieser Roman ist ehrlos, schamlos und aufrichtig authentisch. Selten habe ich im Lesen so viele schlechte Gerüche erlebt. Selten war das Essen so mies. Selten waren Menschen in meinem Umfeld abgestumpfter, brutaler und ursprünglicher. Selten haben meine Beine so sehr geschlottert, wenn ich frierend in meiner Hängematte einschlafen durfte. Wenn Kälte ein literarisches Prädikat wäre, Ian McGuire hätte es verdient.

Ich winke euch ein letztes Mal zu. Gute Reise. Ahoi ihr Mare – Landleseratten…

Nordwasser von Ian McGuire

Jetzt ist Ian McGuire wieder zurück. Es ist „Der Abstinent„, der uns ins England des Jahres 1867 entführt. Es ist ein historisches Szenario, das er als Impuls für den neuen Roman für sich entdeckte. Es ist die Zeit des irischen Widerstandes gegen das britische Königshaus. Ein Widerstand, der brutal niedergeschlagen werden soll. Ganz egal, wo er zutage tritt. Zum Beispiel in Manchester – fernab von der grünen Insel…

„Eine Krähe krächzt, als zöge man einen trockenen Korken aus einer Flasche; irgendwo am Fluss klappern Wagenräder und ein Pferd wiehert. Einen langen Augenblick stehen die drei Männer Seite an Seite unter dem schweren Eichenbalken wie grob gehauene Karyatiden, getrennt und doch vereint,
dann erschreckend plötzlich sind sie weg.“

Hier geht´s zur Rezension… gar nicht abstinent… 

Der Abstinent von Ian McGuire - Astrolibrium

Der Abstinent von Ian McGuire

„Die Schönheit der Nacht“ von Nina George

Die Schönheit der Nacht von Nina George

Ich denke, wir sind uns darüber einig, dass alle Schriftsteller dieser Welt mit dem durchaus vergleichbaren Zeichenvorrat arbeiten. Es sind Buchstaben und Worte, in welcher Sprache auch immer, die auch uns zur Verfügung stehen. Im Unterschied zum Autor jedoch gelingt es uns nicht, diesen Zeichenvorrat so anzuordnen, dass daraus im Ergebnis Literatur oder Kunst entsteht. Stellen wir uns doch einfach mal eine Schmiede vor, in der Buchstaben gegossen und gehämmert werden. Sie werden anschließend im Rohformat auf dem Markt angeboten und stehen der Welt zur Verfügung. Es gibt dann Autoren, die sie polieren, aufhübschen und verzieren, sie zu Worten verbinden und das Ergebnis der Wortschöpfung als Geschichte bezeichnen.

Die Schöheit der Nacht - PodCast bei Literatur Radio Bayern - AstroLibrium

Die Schönheit der Nacht – PodCast bei Literatur Radio Bayern – Hier geht´s lang…

Es gibt jedoch auch Schriftsteller, die lediglich mit dem Rohmaterial auskommen. Mit den unbearbeiteten Buchstaben und Wörtern, die sie ohne jegliche Verzierung oder Veredelung für sich selbst sprechen lassen, indem sie Verbindungen entstehen lassen, die ausschließlich durch den Prozess des Schreibens zu Kunstwerken werden. Ich bin der Autorin Nina George bisher lesend noch nicht begegnet. In der Literatur jedoch ist es nie zu spät für ein erstes Treffen. Ihr Roman „Die Schönheit der Nacht“ gehört nun eigentlich nicht unbedingt zu den Büchern, die mich inhaltlich dazu verführen, sie lesen zu wollen. Und doch bin ich dem Ruf der Seiten gefolgt, weil ich von guten Freunden in der Bloggerszene auf den besonderen Schreibstil von Nina George hingewiesen wurde. Schon bin ich beim Bild des Schmiedes angelangt. Bei einer Autorin, die es nicht nötig hat, die Rohstoffe Buchstabe und Wort an sich zu verkünsteln oder aufzuhübschen. Ich bin bei einer Schriftstellerin angekommen, die aus der ursprünglichen Rohmaterie eine Geschichte entstehen ließ, die sich deutlich von anderen Erzählungen abhebt.

Die Schönheit der Nacht von Nina George

Kein einziger Satz aus der Feder von Nina George klingt gewöhnlich. Kein Absatz wirkt so, als sei er in einem ungezügelten Schreibfluss entstanden. Mit Bedacht und mit unglaublichem Gefühl scheint sie Buchstaben und Worte zu arrangieren, Bilder im Kopf des Lesers zu erzeugen und Metaphern in völlig neuem Licht erstrahlen zu lassen. Hier sind es keine gestylten Kunstworte, die dem Text Glanz verleihen. Hier ist es die Magie der Komposition, die aus Buchstaben, Worten, Sätzen, Kapiteln und Seiten etwas ganz Besonderes entstehen lässt. Würde ich auf der Suche nach Zitaten aus diesem Buch jene auswählen müssen, die mir besonders gelungen scheinen, ich müsste den Roman an dieser Stelle wiedergeben. Müsste ich hervorheben, welche Passagen des Romans mich besonders beeindruckt haben, ich wüsste nicht, worauf ich mich beschränken und reduzieren könnte.

Der wahrhaft literarische Kreis schließt sich nun in der Verheiratung dieser Gabe mit einer Geschichte, die einfach erzählenswert ist. Die Begegnung zweier Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, bildet den Rahmen der Geschichte. Claire, 44 Jahre alt, etablierte Verhaltensbiologin, verheiratet und Mutter eines Sohnes, der selbst schon ein Mann ist, begegnet in einem Pariser Hotel dem 19-jährigen Zimmermädchen Julie. Klingt an sich nicht besonders aufregend. Wäre nicht Claire gerade nach einem erotischen Tête-à-Tête mit einem unbekannten Mann auf dem Rückweg in ihr normales Leben und würde sie nicht auf diese junge Frau stoßen, die sie dabei durchschaut. Aus dem Geheimnis ihres Lebens wird ein Augenblick des stillen Verstehens. Julie wird zur Komplizin der Momentaufnahme. Zur stillen Zeugin lauten Verlangens und damit sofort zur Gefangenen der neiderfüllten Vorstellung, so stark und selbstbestimmt zu sein, wie die Frau, die ihr im Hotelflur gegenübersteht.

Die Schönheit der Nacht von Nina George

Zwei Generationen, zwei Frauenbilder, zwei Rollen und letztlich zwei verletzliche Menschen werden auf dem Flur zu Gefährtinnen des Augenblicks.

„Die Gewordene.
Die Werdende.“

So beschreibt Nina George die beiden Frauen. So lässt sie uns eine Distanz fühlen, die sie scheinbar trennt. Und doch ist in der Schnittmenge der beiden Persönlichkeiten die Treibladung versteckt, die aus der Geschichte einer Begegnung die Geschichte von zwei Frauen macht, die nur Alter und Zeit voneinander trennen. Im Kern ihres Wesens jedoch sind sie sich näher, als sie es selbst wahrhaben wollen. Aus der Begegnung im Augenwinkel des Erkennens wird eine Begegnung im echten Leben. Das Geheimnis in der Verborgenheit des Hotelflurs wird jetzt zum dramaturgischen Spannungsbogen, als Claire die neue Freundin ihres Sohnes kennenlernt. Julie.

Aus den Komplizinnen des Augenblicks wird mehr. Die Werdende hütet das große Geheimnis der Gewordenen. Aus Vertrauen wird Zuneigung. In der Zuneigung werden alle Fragen des Lebens beantwortet und Julie verliert ihre Scheu, nicht nur sich selbst, sondern alles zu hinterfragen, was sie bisher am Leben gehindert hat. Seite an Seite begeben sich die beiden Frauen vor dem idyllischen Hintergrund der Bretagne auf die Selbstfindungsreise ihres Lebens. Die Gewordene an der Seite ihres Ehemannes, die Werdende an der Seite ihres Zukünftigen. Tiefgründig, poetisch und metaphorisch hält uns Nina George auf Augenhöhe mit den beiden Frauen. Sie gewährt tiefe Einblicke in das verborgene Intimste und lässt uns Sehnsucht, Verlangen und existenzielle Fragen des Lebens erfühlen, als würden wir sie uns selbst stellen.

Die Schönheit der Nacht von Nina George

„Vier Sorten Salz.
Das Salz des Meeres.
Das Salz der Tränen.
Das Salz des Schweißes.
Das Salz des »Ursprungs der Welt«,
wie Gustave Courbet die dunkle Blüte einer Frau nannte.“

Es sind diese vier Sorten Salz, die uns Nina George schmecken lässt. Es ist „Die Schönheit der Nacht“, die sie in ihrem Roman ans Tageslicht bringt. Es sind Gemälde von unglaublicher Tiefenschärfe, die sie mit ihren Worten malt. Es ist das Meer, in dem das Leben entdeckt wird. Es ist das Meer, das beherrscht werden kann, wenn man sich freigeschwommen hat. Es sind zwei Frauen, die das Meer miteinander neu entdecken. Die Gewordene als Schwimmlehrerin, die Werdende als Nichtschwimmerin. Es sind die Ängste, die überwunden werden. Es ist das pure Nichts der Nacht, in dem Schönheit in aller Klarheit entsteht und es sind die Entscheidungen zweier Frauen, die uns am Ende eines fulminanten und emotionalen Romans nicht mehr fremd erscheinen.

Nina George macht uns zu Seelenverwandten ihrer Charaktere. Keine ihrer Fragen lässt uns kalt. Keine Betrachtung unseres oberflächlichen Miteinanders verfehlt uns. Es ist erstaunlich, wie tief Nina George unter der Oberfläche taucht, um fündig zu werden. Es ist erstaunlich, wie atemlos wir bereit sind mit einzutauchen, obwohl wir in unserem Leben oftmals nicht gewillt sind, die vier Sorten Salz zu kosten. Und es ist einfach mehr als grandios erzählt, was die beiden Frauen in den gemeinsamen Strudel zieht. Dieses Jahr habe ich für mich zum Lesejahr des Wassers und des Meeres erklärt. Maja Lunde hat mir „Die Geschichte des Wassers“ erzählt. Ein „Meeresroman“ hat mich auf hohe See entführt. Dass „Die Schönheit der Nacht“ das Meer mit solcher Wucht an meinen Lesestrand anbranden lässt, hätte ich nie vermutet.

Die Schönheit der Nacht von Nina George

Ich habe „Die Schönheit der Nacht“ für mich entdeckt. Ich bin zu nachtschlafender Zeit erneut in mein Paris gereist und an der Seite von Nina George in ein Nachtleben in der Metropole an der Seine eingetaucht, das eine ganz spezielle Vitalität versprüht. Ein Leben, das in den Silhouetten einer Stadt ihre wahre Schönheit offenbart. Schönheit ist auch ein Prädikat, das man diesem Roman verleihen kann. Eine Schönheit, die jedoch der Handlung nicht im Wege steht. Nichts wirkt künstlich überhöht oder verkitscht. Hier ist Platz für Emotion, Geheimnis, Missverständnis und hemmungslose Lust am Leben.

„Wie viele Frauen ist eine Frau?
Und wie viele Jahre fließen dahin, bis eine Frau das Eigene gefunden hat?
Und hat die Zeit dann noch eine Nische für das, wer sie wirklich ist, für ihre Pläne, ihre Gedanken, für den Reichtum ihrer Fähigkeiten – oder ist die Zeit zugeziegelt mit den Dingen, die sie tagtäglich tut und tun muss?“

Gehen Sie den Fragen selbst auf den Grund. „Die Schönheit der Nacht“ hilft bei der Beantwortung, schwingt sich jedoch nicht zum Almanach der weiblichen Psyche auf. Zum Abschluss noch ein Tipp, der mich selbst schon sehr traurig stimmt. Ich wäre gerne dabei, wenn Nina George bei meinem Herzensbuchhändler aus ihrem Roman liest. Ich hätte viele Fragen und wäre sehr gespannt darauf, in welchem Tempo sie mit welchem Timbre liest, was sich mir ins Herz gebrannt hat. Vielleicht gehen ja Sie selbst zur Lesung und erzählen mir davon… Das wäre schön…

Nina George im Buchmesse-Interview – Frankfurt 2018

Nina George auf der Frankfurter Buchmesse. Ein exklusives Interview für Literatur Radio Bayern. Ich hatte das Vergnügen und die Ehre, vielen Fragen auf den Grund zu gehen. Eine Interviewkabine am Stand von Droemer Knaur; eine faszinierende Autorin; viele Hintergründe zu Die Schönheit der Nacht; ein fassungsloser Tontechniker; eine umfassende Beschreibung der Initiative Frauenzählen; worüber Nina George niemals schreiben würde; welches Buch sie gerne mit ihrem Namen versehen würde, wenn sie ein Plagiat begehen dürfte; was sie aus dem Stand an die Decke gehen lässt und zum Schluss eine Interviewfrage, auf die sie gerne antworten würde, die ihr aber leider noch nie gestellt wurde… An dieser Stelle bin dann auch ich als Fragensteller leicht ratlos.

Folgen Sie diesem Link zum Interview mit Nina George, genießen Sie die Stimmung auf der Buchmesse und wenn Sie mögen, kommentieren Sie diesen Artikel. Unter allen Einsendungen verlose ich ein Exemplar des Buches „Die Schönheit der Nacht“. Diese Aktion läuft bis zum 21. Oktober 2018. Die Frage lautet:

Achten Sie bei der Auswahl Ihrer Bücher bewusst darauf, ob es von einem Mann oder einer Frau geschrieben wurde?