Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie - Astrolibrium

Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Oh natürlich. Gerade in den letzten Tagen, besonders am Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, las und liest man immer wieder, ob es nicht langsam genug sei. Ob man nicht andere Probleme habe. Ob es nicht an der Zeit sei, das Vergangene ruhen zu lassen. Den Holocaust zu den Akten zu legen. Oh natürlich. Bevorzugt fragen dies die Erben der rechten Ideologie, die heute nur von Hass und Spaltung leben. Jene, die sich als harmlose  Alternative bezeichnen, gegen Flüchtlinge und Migration ins Feld ziehen, und dann in plötzlicher Ermangelung ihrer eigentlichen Kernthemen, für Freiheit und gegen Diktaturen spazieren gehen.

Und genau hier stehe ich auf und halte die Stellung: Nein, es ist nicht genug. Jetzt fragen uns Kinder und Jugendliche, die Montagsspaziergänge erleben: Warum sagen die Leute „Man geht nicht mit Nazis“? Gerade jetzt braucht es Haltung, Meinung und relevante Literatur für Kinder und Jugendliche. Jetzt müssen sie kapieren, dass die ideologischen Wölfe von einst im Schafspelz von heute unterwegs sind, und andere als schlafende Schafe bezeichnen. Darum lese ich. Darum schreiben unsere Schriftsteller und Schriftstellerinnen Gegen das Vergessen und darum wird von mutigen Verlagen verlegt. Schließt euch an. Bewahrt Haltung und helft anderen dabei, sich zu orientieren. Lest und geht raus ins Leben. Erzählt von diesen Geschichten. Das ist meine Message in diesen Tagen. Bringt diese Erzählungen mit in die Schulen, macht sie zur Lektüre in den Fächern, die nicht ausgehöhlt werden dürfen. Ich habe euch vor wenigen Wochen „Dunkelnacht“ von Kirsten Boie ans Herz gelegt. Ich schrieb in meiner Rezension:

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Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Dunkelnacht sprengt den Rahmen eines Jugendbuches. Dunkelnacht fordert viel von seinen Lesern und Leserinnen. Wer verstehen will, muss wissen, wer wissen will muss lesen. Wer liest, wird sich erschrecken, angewidert den Kopf abwenden und sich fragen, wie das nur geschehen konnte. Kirsten Boie hat viele Antworten in diesem Text verborgen. Manche augenscheinlich, andere wieder gut versteckt. Es ist gerade an der Jugend von heute, diese Antworten zu finden, und eigene Antworten für die Zukunft zu entwerfen. Und dann heißt es, dafür einzustehen.

Was in den letzten Kriegstagen in Memmingen geschah, gehört zu den sogenannten Endphasenverbrechen. In einer Phase der Auflösung war alles denkbar und erlaubt. In wenigen Wochen jedoch wäre der Krieg Geschichte. Dann, ja dann wäre doch alles im Lot. Das war die Hoffnung und so sieht heute unser Denken aus. Am Ende des Krieges steht der Frieden. In welchen menschlichen Verwerfungen sich dieser Nichtmehrkrieg allerdings abspielt, wird selten erzählt. „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ bildet hier eine literarische Ausnahme. Kirsten Boie hat keinen Trümmerfrauenroman für Kinder und Jugendliche geschrieben. Sie hat sich nicht ins mehrfach ausgebombte Hamburg hineinversetzt, um den Aufbruch in eine neue Zeit zu erzählen. Nein, Kisten Boie lässt uns eine Trümmerwoche unmittelbar nach der deutschen Kapitulation erleben. Es sind die Tage vom 22. Juni bis zum 29. Juni 1945, die wir an ihrer Seite erleben. Tage, die wir in der Realität niemals erleben wollten. Glaubt mir.

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Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Wer auf der Suche nach altersgerechten Antworten auf die oben genannte Frage ist, warum man nicht mit Nazis spazieren geht, dem sei dieser Roman empfohlen. Ja, zugegeben, es ist auch für 14jährige Lesende harter Stoff, weil Kirsten Boie keinen leichten Weg mit uns geht. Dieses Buch stinkt, es ekelt uns an, wir haben Angst, sehen einer ungewissen Zukunft ins Auge, vertrauen niemandem, sind chancenlos und tragen dabei auch noch eine Vergangenheit in uns, die wir wohl nicht wieder loswerden. Wenn man sich auf diesen Roman einlässt, wird man selbst zum Jugendlichen in einer Stadt, die einer Trümmerwüste gleicht. Die tägliche Versorgung gleicht einem Glücksspiel und ein unbeschwerter Alltag findet nicht statt. Keine Schule, keine Hoffnung, keine Zukunft. So sieht es aus für die Teenager, die uns Kirsten Boie an die Seite schreibt. Da ist der ehemalige Hitlerjunge Hermann, der in den schäbigen Resten einer Uniform die Reste seiner einstigen Autorität zu finden sucht. Sein Vater, Kriegsinvalide, zerstört die Idylle des Friedens und macht aus Hermann einen Jungen, der nur dazu taugt, seinen Vater in der Ruine des Hauses zur Toilette zu tragen. Oftmals zu spät. Alles stinkt. Da bleibt der burschikosen Traute nichts anders übrig, als zu stehlen, um von den Jungs in der Straße wahrgenommen zu werden. Sie, die kaum noch Platz für sich hat, weil doch in der Wohnung der Eltern Flüchtlinge aus dem Osten einquartiert sind.

Da sind Jungs, die auf der Flucht nach Hamburg ihre Geschwister verloren haben. Da wird mit einem Fußball des großen Bruders gespielt, der inzwischen gefallen ist und da sind die amerikanischen Soldaten, die in der Trümmerwüste Patrouille fahren. Nichts in Hamburg fühlt sich normal an, nichts schmeckt nach Frieden. Und über allem hängt der Beigeschmack des verlorenen Krieges. In Hermann toben die Schlachten intensiv, hat er doch so an alles geglaubt, was die Partei und alle ihm vorgebetet haben. Aus seiner Sicht werden wir mit dem Vokabular des Dritten Reichs konfrontiert. Schmarotzer am Volkskörper, Untermenschen, Volkssturm. Schwer zu ertragen. Es ist eine Gruppe, die sich langsam in das neue Leben findet. Mit allen Verletzungen, offenen Wunden in ihren Seelen und in den Seelen ihrer Familien und vor dem Hintergrund einer Stadt, in der man kaum noch überleben kann. Als dann ein Junge zu ihnen stößt, der in keines der Bilder passt, die hier ständig aus dem Rahmen fallen, bricht ein emotionaler Krieg im Frieden aus.  Die letzten Wände beginnen zu wanken. Jakob taucht auf. 

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Es ist dieser Jakob, den gerade jetzt niemand wahrhaben will. Er hat sich in den Trümmern versteckt. Er wurde von den Nazi-Tätern an den Rand einer Gesellschaft gedrängt, die sich als reinrassig bezeichnete. Sein Fehler: Die jüdische Mutter. Hier zeigt sich das Opferbild des Nationalsozialismus in der Trümmerwelt einer Ideologie, die gescheitert ist. An Jakobs Familie zeigt sich die schrittweise Entrechtung und die gnadenlose Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Rassegesetze, Rassenschande und jüdische Versippung lesen sich hier wie Todesurteile. Jakobs Vater stirbt, seine Mutter wird deportiert. Er bleibt zurück. Er macht sich unsichtbar. Fürchtet sich täglich davor entdeckt zu werden und doch treibt ihn der Hunger zurück ans Licht und in die Arme der Jugendlichen, die hier Fußball spielen. Hier zieht Kirsten Boie alle Register der Verdrängung und des Nichtwissens über die Opfer. Hier geht sie mit der Jugend und mit der Geschichte ins Gericht. Wie konnte man nur glauben, wie konnte man nicht sehen… wie konnte man wegschauen… wie konnte man mithelfen… Diese Fragen brennen diesem Roman ihren Stempel auf.

Es ist bewegend, den Weg dieser Jugendlichen zu verfolgen. Es ist erschütternd zu sehen, wie tief Vorurteile und Hass sich verankern können. Es ist grandios zu erkennen, welche Auswege es aus der Ausweglosigkeit gibt. Es macht Mut zu lesen, dass es auch in dunkelsten Zeiten Hoffnung geben kann. Und es ist ein Beispiel für uns alle, nicht zur Seite zu schauen, wenn Menschen ausgegrenzt, beschimpft und verfolgt werden. Kein Grund rechtfertigt das. Weder die Herkunft, noch die Religion, noch Geschlecht der die sexuelle Neigung. Diejenigen, die diesen Hass verbreiten, haben kein anderes Thema. Sie sind klein, wenn sie niemanden finden, den sie zum Underdog machen können. In all ihren Worten schwingt diese Ausgrenzung mit. Die Jugendlichen von heute müssen lernen, was wirklich gesagt wird, wenn die alten Begriffe wieder salonfähig werden. In diesem Roman finden sie Klartext zu damals und damit auch einen Leitfaden für heute. Macht euch eure eigenen Bilder. Lasst nicht zu, dass die Hermanns von heute erneut ihr Unwesen treiben können. Geht euren Weg.

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Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Wer nach diesem Roman immer noch glaubt, alternative Patrioten würden gerade und ausgerechnet gegen eine Diktatur auf die Straße gehen, dem ist kaum noch zu helfen. Wer darüber hinaus auch noch der Meinung sein sollte, Impfgegner hätten das Recht, das nationalsozialistische Kennzeichen für Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 rechtlich als Juden galten, zu tragen, sollte sich einfach überlegen, welche Chancen die Opfer von damals hatten, sich selbst zu retten? KEINE. Es ist die Verharmlosung der Taten der Nazis, es ist das Aneignen eines Opfer-Narratives, das im Moment salonfähig wird. Augen auf.

Heul doch nicht, du lebst ja noch“ – Prädikat besonders empfehlenswert – Ein Buch, das seinen Weg in die Schulen finden sollte, damit nicht wieder Länder in Brand gesetzt werden müssen, bevor man bereit ist, umzudenken. Danke, Kirsten Boie. 

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Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Blicke ich am Ende dieser Zeilen in die Ukraine, dreht sich mir der Magen um. 

Emma Bonn – Eine Spurensuche

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Emma Bonn – Eine Spurensuche

Mein Name ist Bonn, Emma Bonn… Das war meine erste Assoziation, als ich diesen Namen zum ersten Mal hörte. Ich denke, das hätte der wahren Emma Bonn ein wenig gefallen, wenn sie das Spiel mit ihrem Namen heute miterleben könnte. Kann sie nicht, wie mir die weitere intensive Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte deutlich machte. Es war erneut ein Buch aus der Münchner Stroux Edition, das mich in seiner schlicht und doch so erfreulich auffällig gestalteten Aufmachung auf einen Menschen neugierig machte, den man eigentlich hätte vergessen sollen. Einen Menschen, der in vielfacher Hinsicht keinem der sozialen Bilder seiner Zeit entsprach und dem man zeigen musste, wie Fehl am Platz er war. Ein Mensch, dessen Besitz man sich aneignete, dem man in Anwendung eindeutiger Gesetze alles verbieten konnte, was für andere Bürger normal war. Das Schreiben, die Behandlung in einer Klinik oder medizinischen Beistand durch eine eigene Haushälterin. Alles verboten. Nichts sollte sie, die deutsch-jüdische Autorin Emma Bonn der Nachwelt hinterlassen, nichts sollte an sie erinnern. Die Auslöschung war das Ziel.

Ich stelle mir gerade vor, wie sehr die Nazis von einst vor Wut schäumen würden, wenn sie noch am Leben wären und in Feldafing am Starnberger See vor der Villa der Schriftstellerin stehen und ein paar Details bestaunen müssten. Eine Gedenktafel, die an die Dichterin und nicht an ihre Unterdrücker erinnert. Ein Stolperstein, der auf ihre Vergangenheit in ihrer Villa und ihre Deportation hinweist und nicht auf die Machthaber, die sich hier breitgemacht hatten. Menschen, die plötzlich ihre Geschichte erzählen und sich an sie erinnern. Eine Schriftstellerin, die zugleich eine Verwandte von Emma Bonn ist, Bürger und Bürgerinnen von Feldafing, die neuen Besitzer dieses Anwesens und in zunehmender Anzahl Interessierte, die von ihrer tragischen Geschichte erfahren. Leser und Leserinnen, die sich der Spurensuche nach jener deutsch-jüdischen Schriftstellerin und Dichterin anschließen, um ihre Gesichte aufleben zu lassen und an sie zu denken. Sie dem Vergessen zu entreißen und der menschenverachtenden Ideologie eine klare Abfuhr zu erteilen. Ein für alle Mal. Jetzt und für alle Zeiten. 

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Emma Bonn – Eine Spurensuche

Und so hat sich Angela von Gans einer Mission verschrieben, die der eigenen weit verzweigten Familiengeschichte gerecht wird. Die in Melbourne geborene, in Indien und Österreich aufgewachsene, und seit 1970 in München lebende Weltenbürgerin hat sich intensiv mit ihrem Stammbaum auseinandergesetzt und ist dabei doch eher zufällig auf ihre entfernte Verwandte Emma Bonn gestoßen. Es waren Recherchen im Kreise ihrer Familie und ein unerwartetes Paket voller unveröffentlichter Gedichte aus Amerika, die der Spurensuche neue Nahrung verliehen und zu diesem Buch führten. „Emma Bonn, 1879 – 1942, Spurensuche nach einer deutsch-jüdischen Schriftstellerin„. Ich habe mich schnell dazu entschieden, mich ihrer Mission anzuschließen, liegt doch Feldafing fast vor meiner Haustür. Also rein ins Buch, versinken in den Gedichten und auf mit der ganzen Familie raus zum Starnberger See. Das Erinnern mit allen Sinnen und auf allen Kanälen ist unsere Triebfeder…..

„Doch einst, das weiss ich, wird die Seele frei,
Bleibt mir verhüllt auch, wann und wie das sei,
Die Kehle bebt schon vor dem Jubelschrei,
Die Flamme zieht mich hoch, die Stricke sind entzwei.“

Emma Bonn (März 1941)

Angela von Gans braucht nicht viel Raum, wenn sie das Leben von Emma Bonn rekonstruiert. Es sind zarte 150 Seiten, die nun Zeugnis ablegen von einem Leben in Deutschland, das in anfänglich behüteten Bahnen verläuft, doch langsam und sicher in eine Richtung abdriftet, die ins absehbare Chaos führt. Es sind Familienchroniken und Stammbäume, die der Familie von Emma Bonn Kontur verleihen, es sind diese frühen Aufzeichnungen, die der Spurensuche Halt geben. Dann jedoch verliert sich Emma im Schreiben und in ihren Romanen und Gedichten. Es ist ein brillanter Versuch, ihr durch die Enthüllung der autobiografischen Anteile ihres Schreibens auf die spur zu kommen. Angela von Gans beschreibt die Hoffnungen und Ängste eines jungen Mädchens, die zunehmende Verzweiflung angesichts einer unerklärlichen Nervenkrankheit, die Emma ans Bett fesselt und zuletzt die letzten Strudel in der Hass-Spirale der Judenverfolgung durch die Nazis. Enteignung, Deportation, Tod.

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Emma Bonn – Eine Spurensuche

Angela von Gans lässt die Hoffnungen und Wünsche eines jungen Mädchens neu entflammen, und bringt uns dadurch einer Schriftstellerin näher, die erst in ihrer Poesie und in ihren Geschichten das konnte, was ihr die Gesundheit verwehrte.

„Hätte sie frei laufen und in dem natürlichen Rhythmus des kleinen Körpers
sich austoben dürfen, Schnee und Kälte wären ein Spaß gewesen…“

Emma Bonn (Das Kind im Spiegel)

Auf diese Art und Weise gelingt nicht nur eine kleine Rennaissance sondern auch die Retrospektive auf das Gesamtwerk einer Autorin, die im Dritten Reich weder als lebens- noch als lesenswert betrachtet wurde. Angela von Gans verliert sich dabei nicht in Sentimentalitäten oder Gefühlsausbrüchen. Es ist eine gesunde Distanz, die sie hier einnimmt, um der Rolle der Berichterstatterin gerecht zu werden. Die Emotionen sind in weiten Teilen uns überlassen. Es sind die Gedichte, die berühren, es sind die Romane, in denen wir Emma Bonn wiederfinden und ganz zuletzt ist es die Bürokratie der Nazi-Diktatur, die Zeugnis über Deportation und Tod ablegt. All dies wird wieder lebendig. In jedem Wort, auf jeder Seite und in jedem Kapitel zeigt dieses Buch auf, dass man auch Jahrzehnte nach dem Vergessen Menschen ins Erinnern retten kann. Es ist die höchste und zugleich nachhaltigste Form des Sieges gegen die nationalsozialistische Ideologie.

„Was wirklich lebt, kann nie und nie ersticken.
Es keimt und sprosst und grünt, es steigt der Saft.
Mag dich die Zeit, in der Du lebst, auch nicht erquicken,
Die Zeit, in der Du lebst, hält Dich in Haft.“

Emma Bonn (April 1933)

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Emma Bonn – Eine Spurensuche

Ich fand die Villa Bonn in Feldafing, ich las die Inschrift der Gedenktafel, ich sprach mit den neuen Besitzern, denen es so wichtig ist, an Emma zu erinnern, ich stand vor dem Stolperstein, der das Wort Theresienstadt trägt, wie den ewig zu hörenden Schrei der Ungerechtigkeit und ich wurde auf den jüdischen Friedhof Feldafing aufmerksam. Eine dramatische Geschichte von befreiten KZ-Insassen, die in Feldafing aufgefangen wurden. Nach dem Krieg entstand hier ein Hoffnungsort. Dieser Friedhof zeugt jedoch auch von jenen Opfern, die den Krieg nicht lange überlebten. Aber das ist eine andere Geschichte. Typisch jedoch für die Geschichte von Emma Bonn, weil das Erinnern an ein Opfer des Nazi-Terrors das Erinnern an so viele andere Opfer nach sich zieht. Ein lesenswertes Buch über unsere jüngere Geschichte, eine Wiederentdeckung und die Neuentdeckung von Gedichten, die uns die Geschichte fast vorenthalten hätte. Wenn es nicht so viele aufrechte Menschen gegeben hätte, die dem widerstanden haben.

Ich danke auf diesem Weg ganz besonders jenen Lesern, die mir auf meinem Weg zu Emma auf Instagram oder Facebook gefolgt sind. Jürgen Gielsdorf zum Beispiel war mit Buch und Kamera zeitgleich im Norden unseres Landes unterwegs. Man kann sich vorstellen, wie bewegend es ist, mit den Erinnerungen an Emma Bonn nicht allein zu sein. Der Weg geht weiter. Erinnern und immer weiter erinnern, das ist mein Ziel im Lesen und Schreiben gegen das Vergessen. Wir werden Emma Bonn in der nächsten Ausgabe unseres literarischen PodCasts „GlockenbachWelle“ mit der Stroux Edition einen ganz besonderen Platz einräumen. Dazu schon bald mehr, wenn wir mit Marie Gaté, Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt, der Verlegerin Annette Stroux und einem noch gut gehüteten Geheimnis auf Sendung gehen. 

Hier geht´s zu meiner Bibliothek „Gegen das Vergessen„.

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Dunkelnacht von Kirsten Boie

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Dunkelnacht von Kirsten Boie

Was geht in einer versierten und etablierten Kinder- und Jugendbuchautorin vor, wenn sie in diesen Tagen, in unserem Land, in diesem gesellschaftlichen Szenario um sich blickt und politische Tendenzen und Automatismen erkennt, die an die Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland erinnern? Was geht in einer Autorin vor, die in ihrem gesamten Schaffen immer wieder an die Jugend der Welt appellierte, niemanden aufgrund seiner Herkunft, seiner Hautfarbe, seiner Religion oder seines Geschlechtes auszugrenzen oder anders zu behandeln? Welche Kriege toben in ihr, wenn sie merkt, dass es gerade jetzt an der Zeit ist, erneut und eindringlich Farbe zu bekennen, Flagge zu zeigen und in aller Deutlichkeit mit ihren Mitteln gegen die Verführung einer Jugend anzukämpfen, die ihr so sehr am Herzen liegt. Was geht da in Kirsten Boie vor?

Man kann es sich ganz gut vorstellen, wenn man ihr aktuelles Buch zur Hand nimmt. Man kommt schnell dahinter, wenn man sich anschaut, mit welcher Verve sie sich einer Zeit angenommen hat, die auch sie nur vom „Hörensagen kennt. Oder sollte man hier besser vom „Verschweigen sagen, weil man der im Jahr 1950 in Hamburg geborenen vielseitig interessierten jungen Frau von einst ihre bohrenden Fragen zur Vergangenheit in Deutschland beharrlich nicht beantwortete? Ja, man spürt sofort, was in der vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin vorgegangen sein muss, als sie in ihren Gedanken die ersten Spuren einer Geschichte aufspürte, die sich zum Ende des Zweiten Weltkrieges im bayerischen Städtchen Penzberg zugetragen hatte. Eine unerzählte Geschichte, die auch im heutigen veränderten Stadtbild kaum Spuren hinterlassen hat. Und doch eben eine Geschichte, die wie kaum eine andere geeignet ist, den Irrsinn einer ideologischen Verblendung aufzuzeigen. Der Titel dieses Buches zeigt, wie sich das Herz verkrampft.

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Dunkelnacht von Kirsten Boie

DUNKELNACHT

Mit diesem Titel werden schon die Weichen gestellt. Kein ausschweifender Roman, keine Geschichte, die nur vierundzwanzig Stunden erzählt und eine ganze Epoche nur als Kulisse missbraucht, keine Dokumentation mit uferlosen Quellenangaben und auch kein Erlebnisbericht aus der Sicht eines Protagonisten. Nein, Kirsten Boie schrieb eine Novelle, in der sie sich als allwissende Erzählerin alle Perspektiven aneignet, Zugänge zu den Gedanken aller Charaktere hat und auf allen Zeitebenen weiß, was passiert war, gerade geschieht und noch passieren wird. Dabei dient ihr eine wahre Begebenheit als Kern einer Erzählung, die sie mit Protagonisten anreichert, die erfunden sind und somit den Zugang zu den Geschehnissen erleichtern. Es ist diese distanzierte Nähe, die aus Zeitgeschichte einen Jugendroman werden lässt, der sich zur Pflichtlektüre für Schüler und Schülerinnen eignet, die im Alter von 15 Jahren sehr gut nachempfinden können, warum diese Geschichte relevant für ihre Gegenwart und Zukunft ist.

Es ist eine Geschichte von Schuld, Verantwortung, Opportunismus (also eine der wissentlichen Mitläufer) und Versagen. Es ist eine Geschichte, die sich in einer Zeit abspielt, in der die Machtstrukturen instabil und die Variablen des Handelns vielfältigst waren. Der Zweite Weltkrieg steht kurz vor seinem Ende. Die Nationalsozialisten sind an den meisten Fronten geschlagen und die Alliierten stoßen gegen Berlin vor. Auch in Bayern warten nun die ehemaligen Anhänger auf ihre Niederlage, ihre Gegner auf ihre Befreiung durch die Amerikaner. Ein größeres Ungleichgewicht der Kräfte ist nur kaum vorstellbar. Niemand weiß, was der morgige Tag bringt. Während man sich in Penzberg mit weißen Fahnen auf eine friedliche Übergabe der Stadt vorbereitet, sind es nicht die amerikanischen Soldaten, die einmarschieren. Es ist die Wehrmacht auf ihrem Weg in die Heimat. Allen Gerüchten und allen falschen Meldungen des Radios zum Trotz wird dieser 27. April 1945 nicht zum Tag der Befreiung in Penzberg. Ganz und gar nicht.

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Dunkelnacht von Kirsten Boie

Hier holt Kirsten Boie nicht weit aus, sie agiert und schreibt präzise an der Timeline der wahren Ereignisse entlang und lässt uns fortan nicht mehr zum Luftholen kommen. Drei Jugendliche stellt sie in den Mittelpunkt ihrer Novelle. Drei Charaktere, die für alle stehen, die damals in Penzberg und an anderen Orten gelebt haben könnten . Es sind Marie, Schorsch und Gustl, aus deren Sicht wir die wichtigen Details erleben. Wobei der Schorsch eher hoffnungsvoll in Marie verliebt ist, während der Gustl das nicht von sich behaupten kann. In diesem Strudel der Gefühle verliert man leicht den Überblick, im Strudel der Geschichte verliert man sich nunmehr plötzlich ganz. Was eben noch in den baldigen Frieden zu münden schien, entpuppt sich nun als das letzte Aufflammen der Macht der Nazis in Penzberg. Nichts spricht mehr von der Übergabe der Stadt an die Eroberer. Jetzt hallen Parolen vom „Halten bis zum letzten Mann“ durch die leeren Straßen. Jetzt soll Geschichte geschrieben werden. Jetzt ist die Endzeit da. Es kommt zur DUNKELNACHT. Und Gustl ist mittendrin im letzten Aufgebot der Nazis. Werwölfe.

Kirsten Boie wertet und bewertet nicht. Sie erzählt und überlässt die Deutungshoheit ihren atemlosen Lesern und Leserinnen. Sie lässt allerdings keinen Zweifel an Wahrheit und Lüge, an Propaganda, Hass und Manipulation. Sie zwingt uns alle sehenden Auges in eine Mordnacht in Penzberg, die kaum vorstellbar ist. Endphasenverbrechen nennt man heute halbjuristisch, was damals nicht nur in Penzberg geschah. In den Wirren der letzten Kriegstage kam es vielerorts zu den wahnwitzigsten Taten der Nazis. Hier führt die Autorin alle psychologischen Parameter ins Feld, die zu den Ausschweifungen und letztlich zu den Morden führten. Angst, Rache, Eifersucht und Endzeitstimmung. Jedes Gefühl für sich schon tödlich genug. Die Kombination in der Dunkelnacht jedoch ist ein tödlicher Mix, dem man nicht entfliehen konnte. Der Ruf des Werwolfs erschallt…

„Hass ist unser Gebet, und Rache ist unser Feldgeschrei.“

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Dunkelnacht von Kirsten Boie

Angesichts der heutigen gesellschaftlichen Entwicklungen, angesichts der Parolen gegen Andersdenkende und der zunehmenden rechten Gewalt in unserer Gesellschaft, sind es gerade diese Geschichten, die in Erinnerung gerufen werden müssen. Es sind jene Ereignisse, die zeigen, wie leicht es Mitläufern gemacht wird, wenn sie das Gefühl haben, nur Befehlen zu folgen. Es sind genau jene wahren Geschichten, die uns heute noch zeigen, wie hilflos man sich in unsicheren Zeit fühlen konnte. Und doch war und ist es möglich, die richtigen Entscheidungen zu treffen, nicht auf der falschen Seite zu stehen, Mensch zu bleiben und nicht willenlos zum Täter oder Mittäter zu werden. Hier geht Kirsten Boie jeden erforderlichen Schritt, den man gehen muss, um uns heute zu erklären, was damals geschah, wie es geschehen konnte und wie nah wir erneut einer Gefahr ausgesetzt sind, rechten Populisten Glauben zu schenken.

Dunkelnacht sprengt den Rahmen eines Jugendbuches. Dunkelnacht fordert viel von seinen Lesern und Leserinnen. Wer verstehen will, muss wissen, wer wissen will muss lesen. Wer liest, wird sich erschrecken, angewidert den Kopf abwenden und sich fragen, wie das nur geschehen konnte. Kirsten Boie hat viele Antworten in diesem Text verborgen. Manche augenscheinlich, andere wieder gut versteckt. Es ist gerade an der Jugend von heute, diese Antworten zu finden, und eigene Antworten für die Zukunft zu entwerfen. Und dann heißt es, dafür einzustehen. Die Mordnacht von Penzberg kostete 16 Menschenleben. Die Spur der Hinrichtungen zog sich durch die ganze Stadt. Dabei gingen den Nazi-Schergen die Bäume für die Erhängung der willkürlich ausgesuchten Opfer aus. Nichts lässt Kirsten Boie im Verborgenen. Klartext ist Synonym für dieses Buch. Die deutsche Geschichte ist nichts für Zartbesaitetes. Das wird in diesem Buch mehr als klar. Dieses Sonnenklare besiegt die möglichen Dunkelnächte.

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Dunkelnacht von Kirsten Boie

Kirsten Boie und Gudrun Pausewang gehen in ihren Geschichten Hand in Hand. „Der einhändige Briefträgervon Gudrun Pausewang beschreibt ebenfalls eines der tragischsten Kapitel in den letzten Kriegstagen. Ich habe dieses Jugendbuch aus gleich mehreren Gründen sehr oft verschenkt. Es ist die Geschichte, die aufrüttelt, es sind die unkalkulierbaren Zeiten, die uns nicht ruhen lassen und es ist die Tatsache, dass diese wundervolle Autorin ihre junge Leserschaft so ernst genommen hat, um ihr eine solche dramatische Geschichte anzuvertrauen. Dieses kraftvolle Vertrauen spüre ich auch bei Kirsten Boie und die Reaktion ihrer Leser und Leserinnen spricht Bände. Ich weise an dieser Stelle auf den „Buchpalast in München Haidhausen hin. Katrin Rüger war in unserer Buchhändlerinnen-Glockenbachwelle zu Gast in einem Gespräch über Buch und die Welt. Hier stellte sie „Dunkelnacht“ als Empfehlung für den Gabentisch vor.

Und nicht nur das. Die Bücherfresser (der Jugendleseclub der Buchhandlung trifft sich wöchentlich als Jugendjury des Deutschen Jugendliteraturpreises) haben nicht nur „Dunkelnacht“ für sich entdeckt, sie haben es rezensiert und Kirsten Boie in einem bewegenden Interview zu dieser Geschichte befragt. Hier findet ihr dieses Gespräch. Und erneut muss ich sagen: Nicht nur das. Derzeit befinden sich ungefähr 50 signierte Exemplare des Buches im Buchpalast. Frei nach dem Motto, wer zuerst kommt, liest zuerst. Ach ja. Sagte ich eigentlich schon: Und nicht nur das? Ich sage es jetzt zur Sicherheit ein letztes Mal: Eines der von Kirsten Boie signierten Exemplare gehört zu unserem Preisausschreiben der Buchhändlerinnenwelle… Wie Ihr das vom Buchpalast gestiftete Buch gewinnen könnt, erfahrt ihr hier

Dunkelnacht von Kirsten Boie - AstroLibrium

Dunkelnacht von Kirsten Boie

Der neue Roman von Kirsten Boie ist da…

Was in den letzten Kriegstagen in Memmingen geschah, gehört zu den sogenannten Endphasenverbrechen. In einer Phase der Auflösung war alles denkbar und erlaubt. In wenigen Wochen jedoch wäre der Krieg Geschichte. Dann, ja dann wäre doch alles im Lot. Das war die Hoffnung und so sieht heute unser Denken aus. Am Ende des Krieges steht der Frieden. In welchen menschlichen Verwerfungen sich dieser Nichtmehrkrieg allerdings abspielt, wird selten erzählt. „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ bildet hier eine literarische Ausnahme. Kirsten Boie hat keinen Trümmerfrauenroman für Kinder und Jugendliche geschrieben. Sie hat sich nicht ins mehrfach ausgebombte Hamburg hineinversetzt, um den Aufbruch in eine neue Zeit zu erzählen. Nein, Kisten Boie lässt uns eine Trümmerwoche unmittelbar nach der deutschen Kapitulation erleben. Es sind die Tage vom 22. Juni bis zum 29. Juni 1945, die wir an ihrer Seite erleben. Tage, die wir in der Realität niemals erleben wollten. Glaubt mir. Hier geht´s zur Rezension.

Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie - Astrolibrium

Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Ich habe einen schönen Specht gesehen – Michal Skibinski

Ich habe einen schönen Specht gesehen - Michal Skibinski - Astrolibrium

Ich habe einen schönen Specht gesehen – Michal Skibinski

„Ich war damals acht Jahre alt.
Die Ferien über habe ich täglich
einen Satz in mein Heft geschrieben,
eine Sache, die ich erlebt habe.
Das war meine Aufgabe, damit ich
in die 2. Klasse versetzt werden konnte. 
Das Heft habe ich immer noch.“

Michal Skibinski

Solche und ähnliche Aufgaben kennen wir vielleicht aus unserer Schulzeit. Nennt es Nachhilfe oder Nachsitzen. Egal, es kann ja nicht so schwer sein, ein paar Dinge zu Papier zu bringen, die sich in den Ferien ereignen. Für einen Erstklässler kein Problem. Das dachte sich der achtjährige Michal Skibinski auch, als er damit begann, die kleine Welt zu beschreiben, die in den großen Ferien auf ihn wartete. Und außerdem war die Belohnung sicherlich motivierend für den kleinen Kerl. Also frisch ans Werk. Er beginnt sein Tagebuch der kurzen Sätze, die eigentlich gar nicht für ihn bestimmt sind, sondern zu Beginn des nächsten Schuljahres von einem Lehrer gesichtet würden. Ob sie dabei helfen würden, ihn in eine neue Klasse zu bringen…?

Ich habe einen schönen Specht gesehen - Michal Skibinski - Astrolibrium

Ich habe einen schönen Specht gesehen – Michal Skibinski

15.07. Ich war mit meinem Bruder und dem Kindermädchen am Bach.
16.07. Ich war in der Kirche.
17.07. Ein kleines Mädchen ist in die Pension gekommen, in der ich wohne.
18.07. Ich war mit meinem Freund im Wald.

Michal Skibinski schreibt schlicht, authentisch und kein Wort zuviel. Da ist er wohl wie die Schüler überall auf der Welt. Und doch liest man sich gut gelaunt in den Juli an seiner Seite hinein. Es klingt nach einer behüteten Kindheit und wie so viele Ferien, die wir vielleicht selbst erlebt haben. Wir spazieren mit Michal durch die Natur. Begleitet nur von seiner Großmutter, dem eigenen Bruder, einem Kindermädchen oder seiner Mutter. Alles fühlt sich gut an, es sind nur ein Gewitter und ein Stromausfall, die den Alltag zum Abenteuer werden lassen. Und es ist ein sonniger Julitag, der diesem Buch den Namen gibt.

28.07. Ich habe einen schönen Specht gesehen.

Ich habe einen schönen Specht gesehen - Michal Skibinski - Astrolibrium

Ich habe einen schönen Specht gesehen – Michal Skibinski

Ein wundervolles Buch. Mit brillanten Landschaftszeichnungen illustriert von Ala Bankroft. Jeder Doppelseite gehört ein Satz aus der Feder des achtjährigen Schülers. Unterbrochen nur von den Originalseiten aus dem Heft von Michal Skibinski. Doch was will uns dieses Buch sagen? Welche Botschaften trägt es zu uns? Nein, es ist nicht die Naivität eines Schuljungen, die uns hier zeitlos begeistern soll. Es ist unser Wissen um die Geschichte, das aus einem schönen Sommer und ein paar warmen Ferientagen im Kreise einer Familie den Abgesang auf ein normales Leben macht. Wir müssen nur die beiden wesentlichen Informationen hinzufügen, um die Sätze von Michal Skibinski im Kontext der Weltgeschichte richtig werten zu können. Ort und Zeit. 

Wir befinden uns im letzten Sommer vor dem Zweiten Weltkrieg. Wir sind in Polen. Wir schreiben das Jahr 1939. Die Schule wird nach diesen Ferien wohl nicht beginnen. Am 1. September wird die Wehrmacht das Land überfallen. In wenigen Tagen bricht die heile Welt von Michal Skibinski in sich zusammen. In wenigen Tagen werden sich alle Sätze aus seiner kindlich naiven Schülerfeder verändern. Und mit diesem Heft der ganz kleinen und einfachen Sätze macht er uns zu Zeitzeugen eines Kriegsausbruchs…

01.09.1939 Der Krieg hat begonnen.
02.09.1939 Ich bin in Milanówek angekommen.
03.09.1939 Ich habe mich vor den Flugzeugen versteckt.

06.09.1939 Sie haben in der Nähe eine Bombe abgeworfen…

Ich habe einen schönen Specht gesehen - Michal Skibinski - Astrolibrium

Ich habe einen schönen Specht gesehen – Michal Skibinski

Zwischen den Zeilen erleben wir eine Flucht, hören den Gefechtslärm, erleben die Wucht der Gerüchte aus den Nachrichten und sehen seine Familie, die versucht, sich in den Wirren des Krieges wiederzufinden. Die vormals strahlend blauen Illustrationen von Ala Bankroft werden zunehmend dunkler, bedrohend und apokalyptisch. Wort und Bild beginnen jetzt im Krieg Hand in Hand zu gehen. Keine Spechte mehr, keine Sonne. Es brennt. Es raucht. Und Michal schreibt weiter, als würde er immer noch hoffen, bald wieder in die Schule gehen zu können… Vergebens, wie wir heute wissen. Der Krieg ist nicht mehr zu stoppen…

Dieses reichhaltig illustrierte Buch der kleinen gewichtigen Sätze ist für mich kein Bilderbuch im klassischen Sinne. Es ist ein Hybrid-Bildband gegen das Vergessen, in dem wir zu Zeugen der Unvorhersehbarkeit von Politik und Geschichte werden, und in der Naivität des kleinen Jungen die eigene Gedankenlosigkeit gespiegelt sehen. Es ist die Welt der Erwachsenen, die eine Kindheit beendet. Es sind Kriege und Krisen, die in vielen Jahren ihre psychischen Nachwirkungen bei Kindern zeigen. Auch heute ist es in vielen Ländern fraglich, ob die Schulen nach den Ferien wieder beginnen. Vielleicht ist in genau diesem Moment ein Schulkind dabei, seine tiefen Gedanken in einem kleinen Heft für uns festzuhalten. Dieses Buch eignet sich besonders, um es mit Schulkindern zu entdecken. Es ist auch ein Buch der Hoffnung, da es zwar am 15. September 1939 endet. Nicht jedoch das Leben von Michal Skibinski. Er lebt und schließt einen Kreis, den er vor mehr als achtzig Jahren geöffnet hat. Prädikat besonders wertvoll…  

Ich habe einen schönen Specht gesehen - Michal Skibinski - Astrolibrium

Ich habe einen schönen Specht gesehen – Michal Skibinski

Weitere Bücher zu meinem Zyklus „Gegen das Vergessen“ finden Sie hier…

Ich habe einen schönen Specht gesehen - Michal Skibinski

Ich habe einen schönen Specht gesehen – Gegen das Vergessen bei AstroLibrium

SAAL 101 – Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess

SAAL 101 - Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess - Astrolibrium

SAAL 101 – Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess – Astrolibrium

NSU – Der Nationalsozialistische UntergrundKaum eine Wortschöpfung hat uns in den letzten Jahren aus rechtsradikaler Sicht so sehr in Atem gehalten, wie diese. Diese rassistische Gruppierung, die im Jahr 1999 aus fremdenfeindlichen Motiven gegründet wurde und zum Ziel hatte, Menschen mit Migrationshintergrund zu ermorden, schockte unsere Republik nicht nur durch ihre reine Existenz. Es war viel mehr das perfide und hinterhältige Vorgehen von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, ihre Morde über viele Jahre hinweg so aussehen zu lassen, als stünden sie ausschließlich mit dem direkten Umfeld der Opfer im Zusammenhang. Nie wurde im rechtsradikalen Raum ermittelt, immer mussten sich die Familien der Opfer damit auseinandersetzen, dass die Polizei in den Bereichen organisierter Kriminalität und Drogendelikte fahndete und Zusammenhänge zwischen den einzelnen Morden kategorisch ausschloss.

Der Nationalsozialistische Untergrund verübte zehn Morde, drei Bombenanschläge und 15 bewaffnete Raubüberfälle. Die Opfer der Mordanschläge waren ein griechischer und acht türkische Geschäftsmänner sowie eine deutsche Streifenpolizistin. Dem NSU konnten darüber hinaus im gesamten Zeitraum des terroristischen Handelns weitere 43 Mordanschläge zugeordnet werden. Was 1998 mit dem Untertauchen in Chemnitz und Zwickau begann und seine Blutspur durch ganz Deutschland zog, endete im November 2011 in Eisenach. Ein erweiterter Suizid nach einem Raubüberfall bedeutete das Ende von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Die nicht an diesem Überfall beteiligte Beate Zschäpe versuchte am gleichen Tag, die Spuren des NSU zu verwischen, entzündete in der gemeinsamen Wohnung in Zwickau einen Brandsatz und wurde am 8. November bei Jena gestellt und verhaftet. Niemand konnte sich vorstellen, was die Ermittlungen in der Folge ans Tageslicht bringen sollten. Die Verhandlung gegen Beate Zschäpe und einige mutmaßliche Unterstützer des NSU wurde als Jahrhundertprozess bezeichnet und fand von Mai 2013 bis Juli 2018 in München statt.

SAAL 101“ das Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess

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SAAL 101 – Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess

Ihm ist dieses Hörspiel gewidmet. Die Dokumentation dieses Prozesses auf 12 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 10 Stunden und 23 Minuten wirft schnell die Frage nach dem WARUM auf. Und zwar die Frage: Warum sollte ich mich jetzt mit einem Prozess auseinandersetzen, dessen Urteile längst gefällt, dessen tägliche Horror-Schlagzeilen lange verrauscht und dessen medialer Wirbel seit drei Jahren durch andere Ereignisse abgelöst wurde? Wissen wir nicht genug? Haben wir nicht in Sondersendungen und in Diskussionsrunden alles, aber wirklich alles erfahren? Waren wir nicht fast dabei, wenn sich die Anklage in München auf die Verteidigung der letzten NSU-Überlebenden warf? Waren wir nicht sprachlos, wie man solche Taten überhaupt verteidigen konnte? Waren wir nicht sprachlos, zu erfahren, wie nah der Staatsschutz zeitweise mit diesem Trio in Verbindung stand? Haben wir nicht langsam genug von den Morden und Attentaten in einer nie zuvor dagewesenen Kette rechtsradikal motivierter Taten? Und was bringt es den Opfern, wenn man das alles nochmal hochkocht.

Ja, genau, wird man sagen. Den Opfern. Die Hinterbliebenen jener grausamen Taten leiden sicher immer noch. Und jetzt hat man doch Recht gesprochen. Recht so. Deckel zu und weg mit den ganzen Akten, Protokollen und Niederschriften des Prozesses. Was schreibe ich hier eigentlich? Habt Ihr das gelesen? Von welchen Protokollen ist hier die Rede in einem Justizsystem, das solche Protokolle nicht vorsieht. Da bleibt nichts übrig nach dem Urteilsspruch. Keine offiziellen unterlagen zum Recherchieren. Null. Nur die Niederschriften der zugelassenen Gerichtsreporter und -reporterinnen. Ihre Dokumente erlangen einen Stellenwert, der sie zu zeitgeschichtlichen Unterlagen erhebt. Hier liegt einer der Gründe für das ZUHÖREN. Nein, wir waren eben nicht dabei. Wir erlebten in weiten Teilen nur das mediale Blitzlichtgewitter und kurze Sequenzen. Einen Überblick über den Prozess erhielten wir nie. Und jetzt zurück zu den Opfern. Die Täter sind uns im Gedächtnis geblieben. Kennt ihr noch die Namen der Ermordeten? Einen?

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SAAL 101 – Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess

ENVER ŞIMŞEK
ABDURRAHIM ÖZÜDOĞRU
SÜLEYMAN TAŞKÖPRÜ
HABIL KILIC
MEHMET TURGUT
ISMAIL YAŞAR
THEODOROS BOULGARIDES
MEHMET KUBAŞİK
HALIT YOZGAT und
MICHÈLE KIESEWETTER

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SAAL 101 – Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess

Hier kommen wir zum eigentlichen Punkt. Hier sollten wir zuhören. Hier werden die Menschen in den Mittelpunkt gestellt, die im Prozess nur Randfiguren waren. Hier werden ihre offenen und bohrenden Fragen schonungslos gestellt. Hier werden wir in einer schmerzhaften Aufarbeitung durch Themenkomplexe geführt, die sich die Hand reichen, ohne dass dies jemals jemand wahrhaben wollte. Nach außen wirkte damals vieles wie eine inszenierte Show. Nur ohne Blick in den SAAL 101. Nebelkerzen zur Ablenkung wurden gezündet, Nebenkriegsschauplätze wurden eröffnet und oft dachte man, es sei Absicht, wenn man den Überblick verlor. Hier setzt dieses Hörspiel an. Es hat sich dem Ordnen und der Struktur verschrieben. Es bietet diesen Überblick, ohne dabei an ein verstaubtes Gerichtsdokument zu erinnern. Es lässt Opferangehörige in der Konfrontation mit der Verteidigung zu Wort kommen. Es legt Finger in die Wunden unseres Rechtssystems und hebt hervor, wo die wesentliche Leistung des Richters zu finden ist, und wo er versagte. Man muss kein Jurist sein, um dem folgen zu können.

Es bleibt so vieles im Gedächtnis nach dem Hören dieser Inszenierung. Es ist und bleibt grotesk, wenn man darüber nachdenkt, dass die Verteidiger der Neonazis Namen tragen, die wie eine Ironie des Schicksals klingen. Heer, Sturm, Stahl. Kann man sich das ausdenken? Nein. Unvergessen bleiben die Anklagen der Hinterbliebenen und die Unklarheiten, warum man keine Zusammenhänge erkannte. Das ragt über das Hörspiel hinaus in die gelebte Realität unserer Zeit. Ich werde hellhörig, wenn nach einem Mord sofort Schlussfolgerungen in den Raum gestellt und Zusammenhänge verneint werden. Man beobachtet die „Rechte Szene“ aufmerksam, weil man die Netzwerke erst erkennt, wenn man sie sehen möchte. Wollte der Staatsschutz das damals? Es bleiben sicher Fragen offen, aber es werden auch viele Fragen geklärt. Die Psychologie der Täter und ihre Begabung, harmlos im Untergrund zu leben werden hell erleuchtet. Man fragt sich, ob man dieses Mördertrio auf einem Campingplatz an der Ostsee wirklich erkannt und mit den Taten in Verbindung gebracht hätte. Nein, sicher nicht.

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SAAL 101 – Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess

Man sollte dieses Hörspiel hören. Man sollte sich diesen Prozess dokumentieren lassen. Man sollte endlich den Saal 101 betreten, der nur wenigen Beobachtern des Prozesses zugänglich war. Hier wird begreifbar, wie sich der NSU aus dem Untergrund an die Oberfläche einer freien Gesellschaft mordete und dabei mehr als nur Hass und Zwietracht säte. Hier werden die Automatismen der Fremdenfeindlichkeit sichtbar, die so verheerend wirken, wenn man ihnen auf den Grund geht. Hier wird das perfide Spiel mit den Vorurteilen erkennbar, weil es so gut funktioniert, wie vor 70 Jahren. Hier sind es die Opfer und die Hinterbliebenen, denen (vielleicht endlich) Recht widerfährt, weil wir ihnen zuhören können. Für mich ist das die größte Leistung einer Inszenierung, die Maßstäbe setzt und mit ihren Stilmitteln überzeugt. Hier löst sich diese Produktion von der Dogmatik einer klar definierten Rollenzuordnung und befreit die brillanten Stimmen von den Zwängen einer klischeehaften Interpretation. Das Ensemble stellt sich in den Dienst eines Prozesses. Das persönliche Brillieren steht weit im Hintergrund. Ein ganz großes Kompliment an:

Michael Rotschopf, Katja Bürkle, Thomas Thieme, Bibiana Beglau,
Barbara Nüsse, Martina Gedeck, Florian Fischer, Thomas Schmauser,
Ercan Karacayli, Gonca de Haas, Gabriel Raab, Kathrin von Steinburg

SAAL 101“ das Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess geht über die Rolle einer dokumentarischen Aufarbeitung hinaus. Es ist Zeitgeschichte und Lehrstück einer im tiefsten Herzen demokratischen Gesellschaft. Deshalb müssen Fragen offen bleiben. Das ist das Schmerzhafte in einem Rechtsstaat, weil er seinem juristischen Rahmen verpflichtet ist. Das unterscheidet ihn von seinen Gegnern. Das wird hier sehr klar.

Nachtrag: Nachdem heute der Bundesgerichtshof die Revisionsanträge gegen die Urteile des NSU-Prozesses zurückgewiesen hat, ist natürlich auch diese Rezension in jeder Hinsicht rechtskräftig und unanfechtbar. Die Urteile gegen Beate Zschäpe und ihre NSU-Unterstützer wurden bestätigt. Recht gegen Rechts. Das hat was. Danke.

SAAL 101 - Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess - Astrolibrium

SAAL 101 – Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess

Das gesamte Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess ist derzeit noch in der ARD-Audiothek verfügbar – Hier geht´s zum vollständigen PodCast in 24 Teilen.

Die Produktion wurde inzwischen von der Jury der hr2-Hörbuchbestenliste zum Hörbuch des Jahres 2021 gewählt.

„Eine dokumentarische Glanzleistung mit historischem Wert.“