GlockenbachWelle – Die BuchhändlerinnenWelle

GlockenbachWelle - Die BuchhändlerinnenWelle - Astrolibrium

GlockenbachWelle – Die BuchhändlerinnenWelle

Die BuchhändlerinnenWelle

Herzlich willkommen zur siebten Ausgabe unserer GlockenbachWelle. Eigentlich wollten wir am Ende der vierten CoronaWelle mit einer Gegen-Welle genau diejenigen zu Wort kommen lassen, die unter den Lockdowns der letzten beiden Jahre so massiv gelitten haben.

Die Buchhändler und Buchhändlerinnen, die im Kampf gegen die digitale Übermacht von Online-Riesen der Zwangsschließung ihrer Büchertempel durch kreative Konzepte die Stirn geboten haben und sichtbar geblieben sind. Nun sitzen wir erneut inmitten der Virus-Welle und sehen einen erneuten Lockdown auf uns zurasen. Vielleicht ist deshalb diese BuchhändlerinnenWelle so angebracht. Folgt uns in ein Gespräch über Buch und die Welt und drückt die Daumen, dass alles gut wird. Wir, das sind:

Unsere Gastgeberinnen der Glockenbachbuchhandlung, zwei Blogger:innen und die beiden handverlesenen Inhaberinnen besonderer Büchertempel im Dialog.

Der Ort: Die Glockenbachbuchhandlung München
Die Runde: Petra Schulz und Pamela Scholz (die Gastgeberinnen), Steffi Sack (Nur Lesen ist schöner), Arndt Stroscher (AstroLibrium) mit Katrin Rüger, der Inhaberin des Buchpalasts im Münchner Stadtteil Haidhausen und Karina Trübner, Inhaberin der Bücherinsel in Herrsching am Ammersee

In einem exklusiven Radio-PodCast-Format für Literatur Radio Hörbahn, ins Leben gerufen, administriert und liebevoll mit hörbarem Leben gefüllt von Dr. Uwe Kullnick.

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GlockenbachWelle – Die BuchhändlerinnenWelle

Was bewegt uns diesmal?

Wir werden uns über inhaberinnengeführte Buchhandlungen im Allgemeinen und im Besonderen austauschen. Wir Blogger werden als Impulsgeber fungieren und auf diese Art und Weise einen bunten Reigen interessanter Themen auf den Tisch bringen, die unsere Stammtischschwestern mit Lizenz zum Bücherverkauf dann diskutieren. Es geht im Schwerpunkt um:

Corona
Nachhaltigkeit
Social Media
Papiermangel
Das herausforderndste Erlebnis mit Kunden
Das schönste Erlebnis mit Kunden

Mit dabei: Bücherempfehlungen zum Weihnachtsfest

Natürlich erhalten Sie aus berufenem Munde jeweils drei exklusive Lesetipps für den Gabentisch. Die Besonderheit ist, dass diese insgesamt neun Buchempfehlungen bis Heiligabend in den drei Buchhandlungen einen GlockenbachWellen-Sondertisch erhalten. Wellenschläge aus dem Glockenbachviertel zum Ammersee und zurück nach Haidhausen. Wann gab es das zuletzt?

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GlockenbachWelle – Die BuchhändlerinnenWelle

Ganz neu und erstmalig: Das literarische Preisausschreiben

Es geht um FunFacts zu den beteiligten Buchhandlungen. Nur eine Behauptung ist wahr. Notieren Sie die Buchstaben der jeweils richtigen Aussagen und schicken Sie Ihre Lösung per Mail an astrolibrium-aktion@web.de oder flüstern Sie die Lösung vor Ort einer der Buchhändlerinnen ins Ohr:

Einsende- bzw. Flüsterschluss ist der 14. Dezember 2021… Zu gewinnen gibt´s ein exklusives Bücherpaket, das im Podcast live zusammengestellt wird.

Und spätestens jetzt sollten Sie sich zuschalten. Hier geht´s lang. Ohren auf!

UPDATE: Wir haben eine Gewinnerin und gratulieren Irmgard V. zu einem Buchpaket, das aus drei Büchern besteht. Die richtigen Lösungen lauteten:

B – Die Glockenbachbuchhandlung ist begehrte Filmkulisse
A – Die originale Zeichnung von Torben Kuhlmann ist in Herrsching sehr begeht
B – Im Buchpalast lebte tasächlich ein Jahr lang ein Buchbewohner.

Das Buchpaket besteht aus: Kleine Freuden von Clare Chambers, Dunkelnacht von Kirsten Boie (signiert) und Von hier bis zum Anfang von Chris Whitaker.

Wir danken, hoffen, wir drücken Daumen, wir beten und wünschen, wir sind bald wieder da. Ihr Team der GlockenbachWelle. Das war die siebte Ausgabe unserer GlockenbachWelle. Bleiben Sie uns treu und lassen Sie sich überraschen, wie es GENAU HIER weitergeht. 2022… Das Radiowellenjahr wird grandios…

GlockenbachWelle bei Literatur Radio Hörbahn - Astrolibrium

GlockenbachWelle bei Literatur Radio Hörbahn – Ein Klick genügt…

PS: Was die Rezension zu „Dunkelnacht“ von Kirsten Boie mit dieser Welle zu tun hat, gilt es bis zum 14. Dezember herauszufinden. Mein Artikel kann das Lesen retten!

Dunkelnacht von Kirsten Boie - AstroLibrium

Dunkelnacht von Kirsten Boie

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery - Astrolibrium

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Es gibt Tage von solch historischer Relevanz, dass sie die Geschichte der Welt und das eigene Leben in ein DAVOR und DANACH aufteilen. Es gibt Tage, die sich in das kollektive Gedächtnis der Menschheit einbrennen und dem individuellen Erinnern kaum eigenen Spielraum lassen. Es gibt Tage, von denen man auch noch Jahrzehnte später genau weiß, wo und wie man sie verbracht hat. Ein solcher Tag war ein kühler Dienstag vor genau zwanzig Jahren. Man schrieb den 11. September 2001. Es war der Tag, der unter dem Namen “Nine Eleven” in die Geschichte eingegangen ist. Dieser tieftraurige Tag muss nicht erklärt werden, die Ereignisse bedürfen keiner Zusammenfassung mehr. Der grausame Tod Tausender von Menschen, deren Schicksal auf grausame Art und Weise miteinander verschmolzen wurde, steht heute für einen irreversiblen Wandel der Geschichte, als Auslöser für Krieg und das Ende im individuellen Sicherheitsempfinden.

Die Literatur hat sich den Anschlägen des 11.9. nur sehr zaghaft genähert. Ersten Ansätzen, die Terrorakte journalistisch aufzuarbeiten, folgten Jahre später vereinzelte Romane, die fiktive Einzelschicksale aus der kollektiven Erinnerung herauslösten, um in der geschützten Distanz eine Annäherung an das Unaussprechliche zu wagen. Zumeist blieben diese Romane bemüht und oberflächlich, weil der Schrecken zur Kulisse wurde und sich alle Lesenden als Augenzeugen empfanden, die dem geschilderten Szenario viel präzisere eigene Erinnerungen hinzufügen konnten. Eine ausweglose Situation für Autoren und Autorinnen, die keine Bilder erschaffen konnten, die man zuvor noch nicht wahrgenommen hatte. Jeder Roman wirkte wie ein Déjà-vu. Jede Geschichte steuerte plötzlich auf ein Ende zu, das so vorhersehbar war, wie der Untergang der Titanic. Nur waren das die Anschläge des 11. September 2001 keinesfalls, wie wir heute wissen.

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Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Heute, zwanzig Jahre nach Nine Eleven, hat sich der Blickwinkel erneut verschoben. Wieder sehen wir Menschen, die vom Himmel fallen. Diesmal nicht von Hochhäusern in New York, sondern von US-Transportmaschinen über Kabul. Der Krieg, den man führte, um eine Wiederholung des Terrorismus zu verhindern, ist krachend gescheitert. Kaum zwanzig Jahre danach steht der Westen wieder ratlos einem Phänomen gegenüber, in dessen Inneres man kaum vorstoßen kann. Und schon greift sie wieder um sich. Diese kollektive Sprachlosigkeit, in der nur noch Raum für Worthülsen und Allgemeinplätze in der Beschreibung des globalen Versagens bleibt. Der Konjunktiv greift um sich und die Opfer sprechen keine Sprache mehr, die man verstehen könnte. Eigentlich wollte ich ja heute auf die Ereignisse von vor genau zwanzig Jahren zurückblicken. Eigentlich wollte ich nur ein Buch lesen, das zum Jahrestag der einstürzenden beiden Türme des World Trade Centers erschien. Aus diesem „Eigentlich“ wurden schlaflose Nächte, Rückblicke auf die Bücher, die ich gelesen hatte, Filme und Dokumentationen, die ich sah und das Rückfühlen in meine Gefühle, die ich niemals vergessen habe…

Ich wollte Ellis Avery in ihre literarischen Beobachtungen folgen, die sich in ihr als Reaktion auf den erlebten Schrecken in New York Bahn gebrochen hatten. Sie schrieb an einem Coming-of-Age-Roman. Sie war sprachgewaltig und inspiriert. Sie wohnte in Manhattan und sie genoss ihren Blick auf die Zwillingstürme des WTC. Was an diesem Tag geschah, veränderte auch ihr Leben. Es war ein Weltuntergang, den sie aus ihrem geschützten Arbeitszimmer heraus beobachten konnte und doch war der Autorin sofort klar, dass es fortan keine Biotope oder Refugien mehr geben wird, weil die brennenden Türme mehr verändern würden, als die globale Politik. Ihre Reaktion auf das Gesehene und Erlebte ist kein Augenzeugenbericht. Es ist ein Stimmungsbild und ein Zeitzeugnis für den Anschlag auf New York, der sich für uns auf ein Datum fokussiert. Dabei waren es nicht nur vierundzwanzig Stunden, die das Leben veränderten. Es waren:

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Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Die Tage des Rauchs. 11. – 21. September 2001“ von Ellis Avery

Ellis Avery beschreibt uns diese Tage nicht. Sie erklärt uns nicht, was sie fühlte. Es ist wie der Blick in ihr tiefes Innerstes, den sie uns gewährt. Es fühlt sich an, als dürften wir mit ihren Augen sehen, mit ihrem Herzen fühlen und mit ihren Worten denken. Ellis beantwortet unsere Fragen, die wir seit zwanzig Jahren nicht stellen wollen. Oder, die wir uns nicht zu stellen trauen. Was war am Tag davor? Wie fühlte sich der Alltag an in einer Metropole, die uns mit ihrer pulsierenden Wucht in ihren Bann zog. Was nahm sie wahr? Wie? Wann realisierte sie es und was geschah in den Tagen nachdem wir schon lange abgeschaltet hatten? Die Überschriften ihrer Kapitel gleichen einem Gedicht auf den Untergang einer ganz eigenen Welt.

8., 9., 10., 11. September
Normalzeit

11. September
Auf den ersten Blick
Sehen kann, sehen konnte
Was ich vom Fenster aus sah

Sommer 1996
Es war einmal

So arbeitet sie sich vor und zurück. In und durch sechzehn Kapitel voller Wehmut im Herzen und Hoffnung im Sinn. Sie macht uns zu Teilhabern ihres Lebens, ihrer Verluste und Ängste. Sie zeigt und ihr Davor und Danach. Sie lässt uns intensiv nachfühlen, wie sie gefühlt hat und was sie nicht mehr fühlen konnte. Es ist die literarische Tiefe, die sie in uns nach oben holt, um das Unsagbare verständlich und greifbar zu machen. Dabei zeigt sie sich nicht gelähmt oder erlegt. Sie bleibt vital. Erschreckend vital und viral, da sie nichts mehr mehr bewegt, als ihre Mitmenschen davon zu überzeugen, jetzt nicht in blindem Hass zurückzuschlagen und das Leid weltweit zu potenzieren. Sie ahnte wohl schon, was bald passieren sollte. Es sind ihre Worte, die uns an die Hand nehmen und Verluste spürbar werden lassen. Es sind ihre Gesten, die so viel Größe besitzen. Nicht zuletzt sind es ihre Übersprungshandlungen, die uns so gut verstehen lassen, was sie an diesem Tag verlor.

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Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Wir sind an ihrer Seite, als sie…

  • Ansichtskarten der Türme kauft, weil die Souvenirs jetzt echte Andenken sind,
  • erstmals weiße Atemmasken in den Straßen sieht. (Heute so normal)…,
  • flammende Appelle zur Toleranz und gegen Hass vernimmt,
  • erste wüste Beschimpfungen der muslimischen Mitbürger miterlebt,
  • realisiert, dass Panik immer ein selbstbezogenes Gefühl ist,
  • fühlt, dass Überleben ein Glücksgefühl auslöst, das peinlich sein kann,
  • daran verzweifelt, dass die Zeit nicht stehenbleibt, sondern einfach verrinnt,
  • ihre Stadt mit einem Friedhof vergleicht, dessen Grabsteine Vermisstenbilder sind,
  • mit ihrer Frau erste Botschaften verfasst, die schon bald überall sichtbar werden:

„Die halten uns auch für Monster. Lasst uns ihnen das Gegenteil beweisen.“

„Wir müssen lernen, die Weiterlebenden mit der gleichen besonderen Aufmerksamkeit zu zählen, mit der wir die Toten beziffern.“

Ellis Avery erzeugt in mir unglaubliche Gefühle. Ich wünschte mir, bei ihr zu sein. Genau an diesem Tag, genau an diesem Ort und in genau jenen Straßen, in denen sie nun patrouilliert. Fern von jedem Voyeurismus. Fern von jeglicher Neugier. Einfach nur, weil ich in der Gefolgschaft einer Autorin wäre, die der Sprachlosigkeit dieser Stunden ein ganzes Buch entgegenzusetzen hat – vielleicht sogar ihr ganzes Sein…

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery - Astrolibrium

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Auch heute noch lassen sich die Opfer nicht beziffern. Es sind zu viele. Weltweit. Auch heute noch sterben Menschen an den Folgen der Anschläge. Sie sind Opfer von Kriegen, erliegen den gesundheitlichen Spätfolgen der Rettungsarbeiten im Asbest der Turmruinen oder, oder. Der Opfer wird gedacht, während neue Opfer gebracht werden. Es sind die Jahrestage, die uns wieder erinnern. Und doch ist es auch so, dass wir uns ganz bewusst in diese Tage fallen lassen, um zu fühlen, wie lebendig wir sind. Wie gut es uns doch geht. Nichts ist von Dauer. Pathos ist fatal, wenn es um Trauer geht. Alles Dinge, die wir wissen und die wir doch verdrängen. Ich hätte mich jedenfalls gerne mit Ellis Avery über dieses Buch unterhalten. Darüber, wie ihr Leben aussieht, was heute ihr Schreiben ausmacht und, und, und… Ich zitiere einen Satz aus ihrem Buch, der in mir nachhallt und nicht untergehen wird. Sie beschreibt eindringlich ihr Gefühl, als ihr bewusst wird, wie sehr die Umwelt vergiftet wurde. Nicht nur die Menschen…

Ich hoffe, lange genug zu leben, um noch Krebs von dem Asbest zu bekommen.

Ellis Avery starb am 15. Februar 2019 an den Folgen einer Krebserkrankung. Das Nachwort im Buch aus der Feder ihrer Ehefrau Sharon Marcus setzt ihr ein Denkmal.

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery - Astrolibrium

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Die auf den Artikelbildern abgelichteten Bücher „Und auf einmal diese Stille“ und „This is New York – A Democracy of Photographs“ gehören zu meinen bisher noch nicht vorgestellten Büchern zum 11. September 2001. Ich hoffe, auch für sie Worte zu finden. Hier finden Sie weitere Artikel über Bücher zum Thema Nine Eleven in der kleinen literarischen Sternwarte.

Vati von Monika Helfer

Vati von Monika Helfer - Astrolibrium

Vati von Monika Helfer

Als ich mich vor genau zwei Jahren ganz vorsichtig in den Roman „Die Bagage“ von Monika Helfer vorgewagt habe, konnte man nicht erwarten, welchen Siegeszug diese autobiografisch geprägte Familiengeschichte antreten würde. Die Leserschaft im deutschsprachigen Literaturraum war begeistert vom Buch und der Hörbuchfassung, die Monika Helfer durch die authentische Autorenlesung auf ein besonderes Level hob. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde von diesem persönlichen Werk. Es folgte die Nominierung für den Österreichischen Buchpreis und nicht zuletzt konnte sie den erstmals vergebenen Publikumspreis zum Bayerischen Buchpreis gewinnen. Und all dies mit einer kleinteilig wirkenden, aber groß angelegten Geschichte über ihre eigene „Bagage„, der man sich blind anvertrauen konnte. Die Botschaft hallte lange nach und beschäftigte mich intensiv. Ich schrieb damals:

„Wir haben alles gehabt, und das meiste war uns nicht vergönnt.“

Als Monika Helfer am Ende ihrer Erzählung vor einem Gemälde des großen Pieter Bruegel steht und es aufmerksam betrachtet, verschwimmen die Ebenen zwischen der Erzählung und ihrer Wahrnehmung, Hier lässt sie ihre Bagage auferstehen, erweist ihr die Ehre und erweist allen, die je waren und sein werden ihre Referenz. Der würdevolle Umgang mit ihren Eltern, Onkeln, Tanten und ihren eigenen Kindern ist sehr bewegend und schützt uns fortan, den Begriff „Bagage“ mit negativer Betonung zu verwenden. 

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Vati von Monika Helfer

Jetzt ist sie wieder da. Jetzt knüpft sie weiter an ihrem bunten Erzählteppich, der sich in so mancher guten Lesestube zum prachtvollen Gobelin des einfachen Lebens im Kreise einer verschworenen Familiengemeinschaft entwickel hat. Monika Helfer knüpft an. Sie verwebt den Handlungsfaden, der sich im Ersten Weltkrieg zum schmerzhaften Knäuel verwirrte, mit den Folgen, unter denen ihre Mutter zeitlebens zu leiden hatte. Es waren die bösen Gerüchte von der fremdgehenden Mutter, die dafür sorgten, dass sich der eigene Vater von der kleinen Grete abwandte und kein Wort mit ihr sprach. In „Die Bagage“ stand die große Geschichte der Moosbruggers im Abseits der Gemeinschaft eines Bergdorfes im Mittelpunkt. Es war die Geschichte der schönen Maria, um die ihr Mann von allen beneidet wurde. Es war die Geschichte von Verletzung, Sehnsucht und Eifersucht, die sich Monika Helfer von der Seele schrieb. Und doch wollte ich am Ende mehr erfahren.

Wie sollte die Geschichte unter dem Vorbehalt der untreuen Mutter weitergehen? Was wurde aus der früh stigmatisierten Grete, die damit leben musste, von ihrem Vater ignoriert zu werden? Und wie letztlich würde das Leben von Monika Helfer dadurch von der Vergangenheit der „Bagage“ beeinflusst. Hier beginnt „VATI„. Hier springen wir mit Monika Helfer in eine Zeit, in der ein zweiter Krieg auf den ersten gefolgt war. Wir sind an der Seite von Grete, die ihren Weg geht und ihren Mann findet. Wir erleben sie als selbstbewusste Frau, eng eingebunden in die Wurzeln ihrer Geschwister. Was mit ihrer Mutter Maria begann, setzt sich nun bei Grete und ihrem Ehemann fort. Hier steht eine neue Geschichte plastisch vor unseren Augen. Hier entführt uns Monika Helfer in einen so sehr erhofften Zeitsprung bis hin zur Geschichte ihrer eigenen Eltern. Es ist jedoch ihr VATI„, von dem sie uns in Wahrheit erzählt.

Vati von Monika Helfer - Astrolibrium

Vati von Monika Helfer

Hier beginnt Monika Helfers Erzählung aus erster Hand. Hatte sie sich zuvor noch auf das Hörensagen verlassen müssen, so ist sie hier die kleine Tochter, die miterlebt, mitfühlt, mitdenkt und mitleidet. Ihre Großeltern Maria und Josef leben nicht mehr. Ihre Mutter Grete (das damals vom eigenen Vater ignorierte Kind) steht mit beiden Beinen fest im Leben als sie ihren Josef kennenlernt. Vom zweiten Krieg verstümmelt, an den Folgen leidend und in ihr die Frau für sein Leben findend. So lernen wir die späteren Eltern von Monika Helfer kennen. Hier beginnt auch ihre Geschichte. Wir werden jetzt zu direkten Zeugen einer Geschichte, die sich im Familienalbum erstmals mit Bildern belegen lässt. Am Ende des Hörensagens über „Die Bagage“ erzählt nun die Tochter von ihrem „VATI„.

„Wir sagten Vati. Er wollte es so. Er meinte, es klinge modern.
Er wollte vor uns und durch uns einen Mann erfinden,
der in die neue Zeit hineinpasste.“

Wir lernen ihn als Kriegsversehrten kennen, sehen ihn als Leiter einer Einrichtung für Seinesgleichen. Das Kriegsopfererholungsheim wird auch für die kleine Monika zur Heimstätte. Es sind bewegende Bilder der Kriegsopfer und der Traumatisierungen, unter denen sie leiden, die sich Monika Helfer in ihr und unser Gedächtnis ruft. Hoch oben in den Bergen, weit fort von allem – auf der Tschengla – spielt sich ihre Kindheit ab. Hier lernt sie ihren Vater als büchersüchtigen Mann kennen, der mit viel Liebe die kleine Bibliothek des Heimes auf Vordermann bringt. Hier spüren wir ihren Zugang zu Büchern, den sie ins Blut gelegt bekam. Hier werden wir zu Zeugen einer Geschichte, die sich aus einem kleinen Idyll für die verletzten Körper und Seelen in einen Ort der Angst verwandelt. Die Zeit steht nicht still. Das Heim soll zu einem profitablen Hotel in den Bergen verwandelt werden. Ihr Vater fürchtet um seine Bücher und begeht einen folgenschweren Fehler. Und Monika ist die Komplizin seiner Tat.

Vati von Monika Helfer - Astrolibrium

Vati von Monika Helfer

Was in Die Bagageeinem klaren Spannungsbogen folgte, wirkt in „VATI“ schon etwas kleinteiliger. Es sind Erinnerungsfragmente, die sich zu einem Bild fügen, das die Autorin selbst langsam zu entwickeln scheint. So scheinen Väter zu sein. Das liest sich absolut typisch für viele VaterTochterBeziehungen. Mütter hinterlassen oftmals tiefere Spuren im Leben. Sie ziehen sich wie rote Fäden durch die Entwicklung ihrer Töchter. Es sind intensive Bindungen. Väter treten da oft in den Hintergrund und sind immer nur an bestimmten Wegmarken von besonderer Bedeutung. Ein Vergleich dazu. Annie Ernaux schrieb sich ihr ganzes Leben von der Seele. Während andere Werke geschlossener und dichter wirkten, war Der Platz“ hier kleinteilig und fragmentarisch. So sind die Erinnerungen an Väter. Sie sind über ein ganzes Leben verstreut, ergeben keine geschlossene Geschichte, aber ohne sie würde man sich selbst nicht verstehen.

Helfers „Vati“ ist „Der Platz“ von Annie Ernaux. Allerdings ist es keine Abrechnung mit ihrem Vater, die Monika Helfer im Sinn hat. Es ist die emotionale Annäherung, mit der sie sich selbst ein Bild von ihm zu machen scheint. Unvergessen bleiben Episoden in meiner Erinnerung, in denen er ihre möglichen zukünftigen Freunde durch ein sehr literarisches „Casting“ schickt. Sie sollen sich einfach eines seiner Bücher aussuchen und es aus dem Regal nehmen. Und nur wer hier sorgfältig und zärtlich mit einem der Bücher umgeht, bekommt seinen Segen. Das habe ich mir gut notiert. Für später. Wer im VATI-Buch einen ausschließlichen Vati-Report erwartet, wird angenehm überrascht sein, wie präsent die Bagage in diesem Buch ist. Es sind die Geschwister, Onkel und Tanten, die omnipräsent erscheinen. Es ist die Geschichte ihrer Mutter, die Monika zu einem bewegenden Ende bringt und es sind tiefste Einblicke in das eigene Leben, die sie uns gewährt.

Vati von Monika Helfer - Astrolibrium

Vati von Monika Helfer

Auch diesmal habe ich gelesen und gehört. Ich kann der Stimme von Monika Helfer nicht widerstehen. Es klingt brüchig, vorsichtig und manchmal ein wenig distanziert in der Art und Weise, wie sie ihre Autorenlesung anlegt. Aber es ist wuchtig, nah und in ganz besonderer Weise authentisch, ihr selbst zuzuhören. Wer „Die Bagage“ liebte, muss bei VATI anknüpfen. Beide Bücher sind literarische Erinnerungsmonumente, die im Gedächtnis bleiben. Wer sich dieser Bagage verpflichtet fühlt, wird vielleicht in seinem eigenen Leben Parallelen sehen und ist in der Lage, Bilder zu korrigieren, die sich zu sehr festgebrannt haben. Zuletzt bleibt mir nur Ver- und Bewunderung für die großen Geschichten, die im Hause Köhlmeier – Helfer ihren Weg in die Welt finden. Es ist ein Schrifstellerpaar, das ich gerne paarweise genieße und als PaarWeise bezeichne… Und ich bin gespannt, was auf „VATI“ folgt.

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Monika Helfer und Michael Köhlmeier – PaarWeise

Das Finale vom „VATI“ ist ein im literarischen Sinn ein tragisch schönes Ende. In meinen kühnsten Träumen würde ich mir wünschen, es möge mich so ereilen.

Die Unschuldigen von Michael Crummey

Die Unschuldigen von Michael Crummey - AstroLibrium

Die Unschuldigen von Michael Crummey

Es wäre ein wohl Aufsehen erregender physischer Auftritt in Frankfurt gewesen. Kanada, das Ehrengastland der diesjährigen Buchmesse hätte nicht nur Autoren und Bücher im Gastland-Pavillon präsentiert. Lebensgefühl, Vielfalt, Einzigartigkeit und viele weitere Überraschungen standen auf dem Programm. Und unsere Verlage hatten sich auf diesen besonderen Ehrengast perfekt eingestellt. Die kanadische Literatur hätte in diesem Jahr einen besonderen Stellenwert bei ihren Messeauftritten gehabt. Nun bleibt „nur“ noch ein digitaler Auftritt. Jetzt sitzen wir vor den Computern und sind froh, dass wir zumindest auf diesem Wege einen Hauch von Kanada und Buchmesse inhalieren können. Aber ganz virtuell möchte ich nicht bleiben. Kanadische Literatur zum Greifen nah. Das ist das Motto dieses Artikels. Rezension und Verlosung auf einen Streich.

Beginnen möchte ich mit meiner Rezension zu einem Roman, der mich in ein mehr als urwüchsiges, unerforschtes und wildes Kanada entführt hat. Neufundland zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die abgelegene Insel im Nirgendwo, ein unwirtlicher Ort, an dem das Überleben zu dieser Zeit täglich einer Zerreißprobe gleicht und ein Jagdgebiet, das dem Menschen alles abverlangt. Ob im Wasser oder an Land. „Die Unschuldigen von Michael Crummey ist ein zutiefst empathischer Abenteuerroman, der zwei Geschwister in den Mittelpunkt stellt, die hier auf sich allein gestellt sind. Fernab von jeder Zivilisation und von den Eltern nur unzureichend auf das Leben vorbereitet. Dabei wissen sie mehr über die Natur, die sie umgibt, als über die Natur des Menschen, der sie hier schutzlos ausgeliefert sind.

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Die Unschuldigen von Michael Crummey

Es ist die urwüchsige Erzählung eines modernen Jack London, die uns gefangen nimmt und zu den Gefährten zweier Geschwister macht, die eigentlich viel zu jung sind, um so schnell erwachsen zu werden, wie es die Umstände und die Natur erfordern. Es ist ein Michael Crommey, der sich in einen bildhaften Erzählrausch schreibt, der mich alles fühlen ließ, was er beschreibt. Einsamkeit, Verzweiflung, Kälte, Trauer, Hoffnung und die wilde Schönheit einer Insel, die sich für die beiden Kinder nur ganz selten von ihrer schönsten Seite zeigt. Ada und Evered mussten ihre Eltern begraben, ihre Mutter in der eisigen Erde, den Vater auf See. Sie treten ein Erbe an, das sie kaum meistern können. Fischfang unter härtesten Bedingungen, um den Fang dann einem Händler zu verkaufen, der einmal im Jahr mit seinem Schiff auftaucht. Ihr Lohn? Vorräte für das nächste Jahr.

In diesem Kreislauf der Abhängigkeit werden wir Augenzeugen der Entwicklung der beiden Geschwister. Bruder und Schwester arrangieren sich mit dem Leben, mit den Gegebenheiten und mit der Einsamkeit auf Neufundland. Sie wollen bleiben, wollen überleben, verweigern sich den Angeboten, doch aufs Festland zu ziehen. Hier sehen sie die Heimat. Auf alles sind sie vorbereitet. An jeder Aufgabe wachsen sie. Die Eltern haben sie widerstandsfähig gemacht. Keiner würde schaffen, was den beiden Kindern gelingt. Nur auf eines sind sie nicht vorbereitet, eines hat ihnen niemand erzählt, einen Rat konnten die Eltern ihnen nicht mit auf den Weg geben. Ein Rat, den sie beide jetzt dringend benötigen. Als Ada zwölf und Evered vierzehn Jahre alt sind, werden sie von etwas überrollt, das wir heute als Pubertät bezeichnen. Für die Geschwister entwickeln sich die plötzlich aufkommenden Gefühle füreinander zu einer Zerreißprobe. Niemand hat sie vorbereitet und niemand hat sie gewarnt, dass es gefährlich sein könnte, wenn Bruder und Schwester sich aneinander verlieren.

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Die Unschuldigen von Michael Crummey

Michael Crummey verliert sich nicht in dieser Erzählung. Er schreibt nicht um den heißen Brei herum. Er gibt seinen Protagonisten den Freiraum, sich zu entwickeln und ihre eigenen Fehler zu machen. Er erzählt von Verlangen, von Scham und Nähe. Vom Trost der ersten Berührungen, von der brutalen Eifersucht, die plötzlich aufkommt, als die Schiffe nicht mehr nur vorbeifahren, sondern anlanden und erste Besucher in das Leben der Heranwachsenden einbrechen. Die Seeleute sind zotig, trunken und vulgär. Die Männer so verwegen, wie sie es in dieser Gegend sein müssen, um zu überleben. Und doch lässt Michael Crummey viel Raum für die Grandezza von Menschen, die es mit Ada und Evered wirklich gut meinen. Hier wird aus einer guten Geschichte ein großer Roman. Hier wird aus dem Strandgut, das an ihrem Strand landet ein echter Hoffnungsschimmer für eine gemeinsame Zukunft. Hier wird ein Fernrohr, das sie an Bord eines Wracks finden, das Fenster zu einer neuen Welt.

Wir gehen den Fragen des Lebens auf den Grund, Wir stellen uns der Frage, ob es die Eltern sind, die ihre Kinder auf das wahre Leben vorbereiten, oder ob Resilienz das Ergebnis ganz anderer Prozesse ist. Wir blicken hinter die Vorhänge des Schlafraums und beobachten die Unsicherheit der Geschwister im Umgang miteinander und blicken doch niemals verschämt zur Seite, weil uns der Autor nicht zu Voyeuren macht. Es ist die Erzählkunst des Autors, einem authentischen Roman ein Setting zu verleihen, dem wir Glauben schenken. Es ist aber auch seine große Kunst, nichts peinlich werden zu lassen, was im reinsten und unverfälschten Gefühl zweier Menschen nicht als peinlich empfunden wird.

Freude und Scham. Scham und Freude. Das waren die Währungen der Welt. Und beide wurden gleichermaßen ausgezahlt.

Das vielleicht größe Abenteuer eines Bücherjahres, in dem wir beharrlich auf der Suche nach Romanen sind, die unseren moralischen Kompass neu ausrichten.

Lesenswert ist auch Constanzes Sicht auf die Unschuldigen: „Zeichen & Zeiten„.

Die Unschuldigen von Michael Crummey - AstroLibrium

Die Unschuldigen von Michael Crummey

Die Messestadt Frankfurt hätte sich sehr auf Michael Crummey gefreut, wir Leser und Besucher hätten uns gefreut. Und doch habt ihr eine Möglichkeit, die kanadische Literatur des Bücherherbstes in einem Buchpaket zu euch nach Hause zu lotsen. Der Eichborn Verlag hat die Aktion #eichborncanlit ins Leben gerufen und stellt im Netz, im Buchhandel und auf den eigenen Verlagsseiten vier Neuerscheinungen kanadischer Autoren und Autorinnen vor, die in Frankfurt am Messestand im Brennpunkt gestanden hätten. Natürlich gehört auch „Die Unschuldigen“ von Michael Crummey dazu. Dank des Eichborn Verlages habe ich die Möglichkeit, eines dieser Buchpakete zu verlosen. Was ihr tun müsst, um die kanadische Bücher-Flagge in eurem Bücherregal zu hissen? Ganz einfach.

Schaut euch die Bücher des Buchpakets genau an.  Es handelt sich um:

Die Unschuldigen“ von Michael Crummey
Tagebuch einer furchtbar langweiligen Ehefrau“ von Marie-Renée Lavoie
So nah den glücklichen Stunden“ von Anaïs Barbeau-Lavalette
Washington Black“ von Esi Edugyan

Eichborn - Kanadische Literatur - Frankfurter Buchmesse 2020 - Astrolibrium

Eichborn – Kanadische Literatur – Frankfurter Buchmesse 2020

Ein wundervoller Genremix, der den Facettenreichtum der kanadischen Literatur unter Beweis stellt. Vom bewegenden Abenteuer zweier Geschwister auf Neufundland über die Rache einer gelangweilten Ehefrau bis zum Jahrhundertroman einer Künstlerin und zuletzt zu einer Geschichte der Sklaverei auf Barbados. Hier ist garantiert für jeden Geschmack, für jede Lesestimmung und jeden bibliophilen Leser etwas dabei. Und nun nichts wie los, um eure Chance zu wahren, das gesamte Paket zu gewinnen.

Kommentiert diesen Artikel bis zum Sonntag, den 18. Oktober um 20:00 Uhr und schreibt mir einfach, was euch mit Kanada verbindet. Unter allen Teilnehmer*innen wird das Buchpaket verlost. Ihr dürft euren Freunden gerne von dieser Aktion erzählen und sie in den sozialen Medien teilen. Auf jeden Fall solltet ihr uns, falls ihr gewinnt, mit auf eure Lesereise nehmen und unter #eichborncanlit ein paar Impressionen teilen. Ich drücke jetzt ganz fest die Daumen.

Die Unschuldigen von Michael Crummey - eichborncanlit - astrolibrium

Eichborn – Kanadische Literatur – Frankfurter Buchmesse 2020

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff - AstroLibrium

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff

„Jedes Buch hatte seine Zeit. Es vorher lesen zu wollen,
war töricht, es zu spät zu lesen, vergeblich.“

Ich möchte mit meiner Rezension am Ende des Lesens beginnen. Ich möchte mit dem Moment beginnen, der mich nach den letzten Zeilen des Romans Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff wieder ins richtige Leben katapultierte. Ein ambivalenter und emotionaler Moment zugleich, da ich mich einerseits als zu klein empfand, um hier mit eigenen Worten zu beschreiben, was diese Geschichte auszeichnet. Zugleich war ich voller Sorge um dieses Buch. Kann es sein, dass die vielen Lorbeeren, auf denen Iris Wolff gerade durch die Bücherwelt getragen wird, dem Lesen im Wege stehen? Kann es sein, dass Nominierungen für Buchpreise und die begeisterte Kritik des Feuilletons die ganz „normalen“ Lesenden abschrecken, weil sie vermuten, ein Buch vorzufinden, das für den alltäglichen und besonderen Lesespaß zu elitär ist? Sind wir Rezensenten dann schuld daran, dass genau dieser Roman in eine literaturwissenschaftliche Ecke verdrängt wird? Wenn dies sein könnte, dann mag ich einen anderen Ansatz wählen.

„Die Unschärfe der Welt“ von Iris Wolff ist einer der bewegendsten, einfachsten und sprachlich herausragendsten Romane, den ich jemals lesen durfte. Wer mir folgt, weiß woran ich bei guten Geschichten glaube, was mich als leidenschaftlicher Leser bewegt und wann ich ins Schwärmen gerate. Es ist das komplex Erzählte, das Nachhaltige und in Erinnerung Bleibende, das Emotionale und am Ende Funktionierende, wovon ich im Lesen träume, wenn ich einem neuen Buch die Tür zu meiner Welt öffne. All dies fand ich hier. Auf keine Facette meiner Wunschträume musste ich verzichten. Keine Fragen blieben offen, nichts war verkünstelt, nichts nur konstruiert. Bei Iris Wolff findet man im wahrsten Sinne des Wortes ein Seelenbuch, das nicht mehr loslässt. Und wenn ich hier von einer einfachen Geschichte spreche, dann ist dies nie abwertend. Es bedeutet nur, dass ich mich auch noch in Jahren bei der Erwähnung des Titels „Die Unschärfe der Welt“ an die Handlung, Personen und  Botschaften erinnern werde, die mir Iris Wolff ins Logbuch meines Lesens geschrieben hat…

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff - AstroLibrium

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff

„Wenn die Traurigkeit in der Brust wohnt,
dann steckt die Lustigkeit in den Zehen.“

Es ist eine Familiengeschichte über vier Generationen, die sich hier auf schlichten 213 Seiten vor unseren Augen entfaltet. Wo andere Autoren vielleicht epische Breite in mehreren Bänden einer Reihe benötigt hätten, vertraut Iris Wolff darauf, dass wir auch das Nicht-Erzählte verstehen und empfinden können. Sie bringt uns ihren Charakteren so nah, dass wir sie fühlen und weiterdenken können, wo die Sprache endet. Wir sind in Rumänien, in Siebenbürgen, im Banat. Historisch betrachtet folgen wir einer Familie in eine von der Weltgeschichte zerrissensten Regionen unserer Erde. Heimat wird hier nicht durch Grenzen, sondern durch Gefühl und emotionale Verwurzelung definiert. In keiner anderen Region wurden Menschen im Lauf des 20. Jahrhunderts so entwurzelt, wie hier. Was mit Banater Schwaben begann, durch Ideologien, Kriege und Grenzen beeinflusst und durch Diktatoren bekämpft wurde, führt zu einem dramatischen Verlust von Zugehörigkeit. Hier spielt diese Geschichte. Eine Region, in der noch nicht mal die Suppen eine tradierte Herkunft haben. Besonders nicht in den 1970er Jahren.

„Dass hier niemand eine einheimische Suppe zu kochen imstande ist.“
„Was meinst du mit einheimisch? Schwäbisch, slowakisch, ungarisch,
rumänisch, tschechisch, jüdisch oder vielleicht serbisch?“ fragte Florentine  

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff - AstroLibrium

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff

Es sind die Menschen, die uns Iris Wolff ins Herz schreibt. Es sind ihre Geschichten, die zu einem Familiengemälde werden, das wir zu deuten wissen. Es ist die Generation des Krieges, die enteignet und vertrieben nur noch an die gute alte Zeit denkt. Es sind die Gefühle der Alten, die im Rumänien Ceaușescus, in dem sie als Deutsche gelten, obwohl sie genau das schon unter den Deutschen Nationalsozialisten nie wahren. Ein Gefühl, das sich in den Kindern fortpflanzt und zur emotionalen Stellgröße des Lebens wird. Wo gehöre ich hin, wo gehöre ich dazu? Eine Familie wird zur letzten Keimzelle von Heimat. Ein harter Kampf im Unrechtssystem einer kommunistischen Diktatur. Es sind die Menschen, mit denen uns Iris Wolff verbindet.

Es sind die großen und kleinen Geschichten, die bewegen: Es sind Menschen, wie:

Florentine und Hannes, die im Banat leben und bei der Geburt ihres Sohnes Samuel erkennen müssen, was es heißt, in Rumänien wie Menschen zweiter Klasse behandelt (oder eben nicht behandelt) zu werden. „Lass mir das Kind„, so lauten die allerersten Zeilen des Romans. Worte, die uns auf ewig mit Florentine verbinden. Eine Mutter, die nach ihrem eigenen Leben sucht, Poesie im Blut hat, Dinge anders sieht und die Welt noch nicht aufgegeben hat. Ihre Leidenschaft lebt von der Sehnsucht und der Liebe zu ihren Männern. Hannes ist ihre Mitte, Samuel ihre Zugehörigkeit und beide machen sie zum Dreh- und Angelpunkt einer Familie, die bis in unsere Zeit hinein reicht.

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Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff

Samuel, der spät beginnt zu sprechen, spät beginnt zu fühlen, niemals aufhört, sich zu sehnen. Ein junger Mann in einem Rumänien, in dem die Macht der Großen darauf basiert, dass die Kleinen schuldig zu sein haben. Samuel als Erbe des Verrats, der am eigenen Vater begangen wurde. Er, der vorsichtig Fühlende, wird erweckt von einer jungen Frau, deren Nähe nicht leicht zu gewinnen ist. Beide tragen den Genpool ihrer Vorfahren in sich, was ihre Liebe auf eine harte Probe stellt. Stana, die Tochter eines Mannes, der alles für das Regime tun würde und tut. Liebevoll nur SANA genannt, beginnt in ihr die neue Welt.

Und es sind Begegnungen mit Menschen, die nur am Rande erscheinen, niemals jedoch nur Randfiguren sind. Reisende aus der DDR, die sich hier freier fühlen, als in der Heimat, Freunde, die ihre Kinder verlieren und nicht mehr zurück ins Leben finden. Iris Wolff verbindet uns. Sie verbindet alles. Unschärfe entsteht nur dann, wenn wir zu nah an den Einzelnen herantreten. Iris Wolffs Blick ist der eines Adlers. Es ist Poesie, der wir in der „Unschärfe der Welt“ begegnen. Es ist die harte Abrechnung mit dem kommunistischen System, die sich einzigartige Wege bahnt. Und es ist die einfachste Liebesgeschichte der Welt, die wir hier im Inneren der Frucht entdecken.

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Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff

„Samuel hatte, ohne es zu wissen, die Landkarte ihres Körpers für sich eingenommen, und wenn es etwas gab, wofür sie an diesem Abend
dankbar war, dann, dass dieser Atlas unsichtbar war.“

Für Stana ist die Annäherung an Samuel ein Experiment. Sie lebt im Einklang mit den Ahornblättern, die sie „Windwanderer“ nennt, überwindet die Konflikte und trägt die Zukunft in ihrem Herzen. In ihr gipfelt die Einfachheit der Liebesgeschichte. Mit ihr erleben wir die Flucht ihres Lebens-Mannes. Mit ihr schweigen wir fortan beharrlich. In sie versetzen wir uns hinein, als der Eiserne Vorhang fällt und die rumänische Diktatur stürzt. Mit ihr fühlen wir, als Florentine ihrem Sohn drei Worte schreibt. „Komm nach Haus“. An ihrer Seite warten wir auf den flüchtigen Samuel, der zum ersten Mal seit der Flucht die Heimat wiedersieht. An ihrer Seite erfüllt sich alles, wovon wir träumten.

Ich war nach der Revolution selbst in Rumänien, betrat den Palast Ceaușescus in Bukarest. Ich war betroffen und wütend angesichts des Widerspruchs zwischen Macht und der Armut der Menschen. Ich habe das nie ganz verarbeitet. Iris Wolff hat mir den Schlüssel in die Hand gelegt, mit dem ich den Palast erneut betreten durfte. Sie hat mir einen Ausweg aus dem Prunk gezeigt. Ganz einfach. Ganz poetisch und tiefgründig. In meinem Lesen bin ich solchen Worten noch nicht begegnet. Und sie hat mir die Frage beantwortet, ob ein Roman in der heutigen Zeit nicht auch einfach nur schön sein und schön enden kann. Ja. Ein eindeutiges Ja. Es darf, kann und muss sie geben. Diese Geschichten, die uns am Ende vor Freude weinen lassen. Dafür bin ich dankbar.

Ich werde Iris Wolff in München begegnen. Im Rahmen der Buchmlessespitzen liest sie am 16. Oktober um 18 Uhr im Münchner Literaturhaus. Mein Interview für Literatur Radio Hörbahn wird anschließend veröffentlicht.

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Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff

Der Roman von Iris Wolff ist für den diesjährigen Bayerischen Buchpreis in der Kategorie Belletristik nominiert. Da ich dieses Literatur-Event als Buchpreisblogger begleiten darf, werde ich auch die weiteren nominierten Titel lesen. Die Preisverleihung erfolgt am 19. November. Alle bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten Artikel finden Sie auf meiner Projektseite zum weißen Porzellanlöwen. Gemeinsam mit Sophie Weigand von „Literaturen und Thomas Hummitzsch von „Intellectures“ wage ich erneut den Versuch, mich den Nominierten neutral zu nähern. Nominiert sind:

Ulrike Draesner: Schwitters (Penguin Verlag)
Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik (Hanser Literaturverlage)
Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (Klett-Cotta Verlag)

Warum ich bereits jetzt denke, dass „Die Unschärfe der Welt“ ein preiswürdiger Roman ist? Weil ich es tief in mir drin gespürt habe. Mit jeder Faser meines lesenden Herzens und mit jedem Wort, das ich aufsaugen durfte. Dieses Buch zu lesen ist wohl die beste Entscheidung, die man am Anfang des Lesens treffen kann. Denn:

„Für Anfänge musste man sich entscheiden, Enden kamen von allein,
wenn man sich nicht entschieden hatte.“ 

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Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff

Frankfurter Buchmesse, digital. Eine neue literarische Welt, die uns in diesem Jahr erwartet, bringt auch ihre guten Seiten mit sich. Die Buchmessespitzen in München lässt Schriftsteller*innen in der bayerischen Metropole mit ihren Werken auftreten, die zu genau diesem Zeitpunkt in Frankfurt die Messehallen dominieren würden. Ich hatte die Ehre im Rahmen dieser Lesungsveranstaltung dieses Interview für Literatur Radio Hörbahn führen zu können, auf das ich mich besonders gefreut habe.

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff - Das Interview - AstroLibrium

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff – Das Interview

Iris Wolff im Gespräch

Ein Gespräch über literarische Zauberer, heimatlose Suppen, Windwanderer, ein satirisches Staatsbegräbnis, Heimat, Sehnsucht, Siebenbürgen und natürlich die Nominierung zum Bayerischen Buchpreis. Ganz nebenbei erfahren Sie, welchen eigentlichen Titel der Roman lange Zeit trug. Hier geht´s zum PodCast.

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