Wir sind das Licht von Gerda Blees

Wir sind das Licht von Gerda Blees - Astrolibrium

Wir sind das Licht von Gerda Blees

Oh ja, wir lieben das schon sehr. Perspektivwechsel sind in der Literatur oftmals das Salz in der Suppe, wenn es darum geht, ein Szenario von mehreren Seiten einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Hier sind unerwartete Wendungen verborgen, hier klärt sich so manches Geheimnis auf und genau mit diesem Stilmittel wird mit den großen Klischees innerhalb einer Geschichte aufgeräumt. Und wenn es einen Roman gibt, der sich diesem Vexierspiel der Sichtweisen zu einhundert Prozent verschrieben hat, dann ist es „Wir sind das Licht“ der niederländischen Autorin Gerda Blees. Wer jetzt denken sollte: „Hatten wir doch schon…“, „Muss man doch nicht so hervorheben“, oder „Nicht schon wieder vier Protagonisten und ihre Doppelsicht auf ein altbekanntes Setting“, sollte unbedingt weiterlesen. Denn genau das ist dieser Roman nicht. Gerda Blees bricht mit allen Konventionen, wirft viele Erzähltraditionen über den Haufen und besticht literarisch, indem sie sich dem Sprachlosen, Immobilen und nicht Lebendigen des Settings annähert und ihnen Stimme, Ausdruck, Charakter und Leben verleiht.

Neugierig geworden? Fein. Das war das Ziel. Also, worum geht es augenscheinlich in diesem schon auf den ersten Blick ungewöhnlichen Plot? Versetzen wir uns mal in eine ganz normale Wohnung. Die Heimat der Wohngruppe „Klang & Liebe“ in der sich vier Menschen auf ein besonderes Miteinander eingelassen haben. Wir würden es vielleicht als alternativ bezeichnen. Mag man sehen, wie man will, jedenfalls muss etwas passiert sein, denn bei Licht besehen stimmt hier gerade gar nichts mehr. Eine Bewohnerin lebt nicht mehr. Oder besser gesagt: Sie ist in der letzten Nacht verstorben. Oder, um es im Klartext auf den Punkt zu bringen, sie ist verhungert. Der Rest der Wohngemeinschaft erlebt den Morgen nach dem Tod von Elisabeth aufgewühlt und voller Zweifel. Es sind noch drei weitere Personen in der Wohnung. Ein Mann und zwei Frauen. Melodie van Hellingen, die Schwester der Toten und das Pärchen Muriel und Petrus. Wie kann ein Mensch, der nicht alleine lebt, verhungern? Das mögen wir uns fragen. Aber glaubt mir, das ist nur eine von tausend Fragen, die uns bereits im ersten Kapitel dieses Romans in den Sinn kommen. Denn auch die anderen Mitbewohner sind ausgehungert und fast am Ende ihrer Kräfte…

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Wir sind das Licht von Gerda Blees

Ihr denkt nun, dass ihr durch die Perspektiven der Überlebenden in diese Geschichte hineingesaugt werdet. Ihr denkt, ihr würdet nun durch wechselnde Sichtweisen auf die Ursachen der Ausgangssituation stoßen. Ihr denkt, nun würden die Menschen zu Wort kommen und vom Hunger, vom Sterben, von der gemeinsamen Philosophie und jener Wohngemeinschaft erzählen, die uns so fremd erscheint? Falsch! Ganz falsch. Es sind die wohl außergewöhnlichsten Perspektiven, die Gerda Blees hier ins literarische Feld führt, um uns die Augen zu öffnen. Um unser atemloses Staunen in einem Zustand der Dauererregung zu versetzen und uns als Augen- und Ohrenzeugen zu fesseln. Es sind Perspektiven, die in dieser Form noch niemals zuvor ihre Stimme erhoben haben. Hier sind einige von ihnen, die sich zu Beginn der jeweiligen Kapitel höflich vorstellen:

Wir sind die Nacht,
Wir sind der Tatort,
Wir sind die Nachbarn,
Wir sind ein Orangenduft,
Wir sind ein Cello,
Wir sind die Fakten,
Wir sind die Zweifel,
Wir sind Elisabeths Körper
und natürlich und ganz zuletzt

Wir sind das Licht..

Es wird emotional, unheimlich, weltbewegend und kurios, wenn wir uns auf diese Perspektiven einlassen. Wann hat uns jemals ein Tatort erzählt, wie er sich fühlt, was ihn selbst zum Tatort werden lässt und wie verletzt er sich in all diesem Durcheinander fühlt. Vom Tatort erfahren wir viel, werden Zeugen der ersten Dialoge der Ermittler und bekommen ein Gefühl für einen Raum. Das ist literarisch mehr als brillant…

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Wir sind das Licht von Gerda Blees

Wir sind der Tatort:

„Sie passen nicht hierher, diese Menschen. Sie sind zu groß, zu breit, zu laut. Unsere Treppenstufen sind so stampfende, schwere Körper gar nicht mehr gewöhnt. Weder das Gewicht noch das Geräusch. Sie könnten ruhig etwas vorsichtiger mit uns umgehen, wenn man bedenkt, dass wir der Ort sind,
an dem die Antwort liegt.“

Es sind die beiden Elemente, die uns zu Süchtigen machen. Es ist die Geschichte, die sich immer weiter erklärt, und es sind die Sichtweisen, die uns faszinieren und die uns nachhaltig beschäftigen. Jeder Perspektive können wir Details abgewinnen, jeder Sichtweise, jedem Gegenstand, jedem Gefühl, jedem Begriff fühlen wir uns nach dem letzten Wort verbunden. Dabei gelingt es Gerda Blees, die Personen nicht zu Figuren zu degradieren, die kaum eine eigene Rolle spielen. Ganz im Gegenteil. „Wir sind das Licht“ lebt von der morbiden Vitalität der Protagonisten. Der Roman erzählt sich selbst. Im wahrsten Wortsinn. Spätestens, wenn sich die Erzählung selbst an uns richtet, ist es die Gänsehaut des Angesprochenen, der hier verweilt und sich hinterfragt.

Wir sind die Erzählung

„Und das wird uns als Erzählung nicht gerecht, vor allem nicht in Kombination mit Ihnen, dem Leser, denn beabsichtigt oder unbeabsichtigt haben Sie genauso viel Schuld an allen Unklarheiten wie die Autorin. Wie oft haben sie beim Lesen an etwas anderes gedacht? Und wie oft haben sie etwas in uns gelesen, was da gar nicht stand?

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Wir sind das Licht von Gerda Blees

Jede einzelne Perspektive weiß zu überzeugen. Jede trägt erheblich zur Klärung des Falles bei. Jede dieser auskunftsfreudigen Sichtweisen hilft uns dabei, unseren Weg zu finden und aufmerksamer zu werden. Wir lernen die Akteure kennen. Überlebende und eine Tote. Polizisten, Nachbarn, Angehörige. Und wir lernen jene Rahmenbedingungen kennen, die ins fatale Verderben führen. Dies ist eine Geschichte von Leichtgläubigkeit und Verführung. Von der Suche nach dem Sinn im Leben und den Profiteuren alternativ zu lebender Leben. Ernährung durch Licht? Eine Sekte? Glaube an Selbstreinigung im Verlust der eigenen Körperlichkeit? Schwurbelei? All dies findet sich in diesem Roman. Bewegend und erschütternd. Essstörungen prallen auf Nahrungsverweigerung. Harter Stoff in hartem Gewand. Nichts wird beschönigt. Ein Debütroman von einer Wucht, die laut nach Aufmerksamkeit schreit. In jeder Form…

Ich habe den Roman gelesen und bin regelmäßig in die brillante Hörbuchfassung abgetaucht. Hier sind es vier Stimmen in dieser ungekürzten Lesung, die Perspektiven hörbar machen. Es ist kein Stimmgewitter, keine Überlagerung, es ist das konsequente Aufzeigen der einzelnen Sichtweisen, die dann konzentriert ihren Vortrag an uns Hörer richten. Eindringlich. Bemerkenswert und voller Tiefgang. Es waren extrem emotionale Momente, die mich im Hörbuch direkt berührten. Es ist die Autopsie der Toten, die für mich zu den literarischen Highlights des Romans gehört. Diese Sequenz zu hören, ist ein so aktiver Moment der Auseinandersetzung mit diesem Text, dass man sich kaum entziehen kann. Die Begegnung einer Leiche mit dem Pathologen bleibt tief in meiner Erinnerung. Ich las selten etwas Bewegenderes, noch hörte ich es zuvor…

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Wir sind Elisabeths Körper

„Hätte Elisabeth während ihres Lebens nur halb so viel Bewunderung für uns, ihren eigenen Körper, gehabt, wie Theo gerade, dann würden wir hier nicht liegen… Wenn Elisabeth am Leben geblieben wäre, hätten wir nie erfahren,
wie es ist, von einer liebevollen Hand in unserem Inneren berührt zu werden.“

Wie immer man sich diesem Text auch nähert, er bleibt unvergessen. Lesend ist es möglich, sein eigenes Tempo zu finden, Pausen zu machen und alles auf sich wirken zu lassen. Hörend gerät man in einen Sog, den man lesend kaum selbst erzeugen kann. In jeder Beziehung gelingt es beiden Medien für sich (oder eben auch in der Kombination miteinander) zu überzeugen. Gerda Blees hat einen aufregenden Roman geschrieben, in dem wir Leser das Licht sind und die Perspektiven zusammenführen. Im Hörbuch ist es ein Ensemble brillanter Stimmen, das uns einflüstert, wie wir der Wohngemeinschaft begegnen können. Benno Führmann, Jannik Schümann, Sandrine Mittelstedt und Claudia Michelsen erweitern das Erlebnis Licht um die Dimension Klang. Wer das Buch nicht gelesen und / oder das Hörbuch nicht gehört hat, verpasst ein großes Stück Literatur des Jahres 2022…

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Ein kleines PS. Hörbücher stehen bald im Mittelpunkt unserer GlockenbachWelle. Augen und Ohren auf! Ein Special nicht nur für Hörbuchliebhaber… 

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Ein Gedanke zu „Wir sind das Licht von Gerda Blees

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