Die Literatur ist auf ewig mit dem situativen Kontext verbunden, in dem man sich einem Buch annähert. Das persönliche Erleben und die Erzählwelt eines Romans sind für die Zukunft untrennbar miteinander verbunden, weil tagesaktuelle Erinnerungen mit der eigenen Fantasie zu einem Reißverschluss des Denkens verschmelzen. Ich kann mein Lesen nicht vom Alltag lösen. Ebenso wenig gelingt es mir, ein Buch von der Zeit und ihrer (vielleicht sogar) historischen Dimension zu trennen, in der ich mich lesend in und zwischen den Seiten verlor. So darf es nicht verwundern, wenn diese Rezension in der konsequenten Anwendung dieser These die Verbindung zwischen der Ukraine und der Schweiz entstehen lässt. Es ist nur verständlich, dass ich im „TELL“ nicht nur eine Geschichte über einen Freiheitshelden lese, sondern diese Figur in meinem Geiste auf die dramatischen Geschehnisse in Europa spiegle. Nein. Keine Sorge, ich stilisiere hier aus dem neuen Buch von Joachim B. Schmidt keinen globalen Freiheitsroman. Aber: selbst unbeabsichtigte Ähnlichkeiten mit realen oder verstorbenen Personen liegen nie in der Deutungshoheit des Autors, sondern im Herzen seiner Leserschaft verborgen.
Da wagt sich also jener Joachim B. Schmidt, dessen Islandroman „Kalmann“ nicht nur in der Schweizer Heimat des Schriftstellers und in seiner neuen Wahlheimat Island für Furore gesorgt hat, an die literarische Freiheitsikone seines Landes heran und lässt seine Leserschaft glauben, er würde nur mal eben den Schiller geben. Was sonst sollte man erwarten beim Namen TELL? Zu dieser zweifelsohne rein fiktiven Gestalt kann es keine neuen Fakten geben. Niemand hat in einem Archiv sein Tagebuch gefunden. Die Geschichte muss nicht neu geschrieben werden, weil es plötzlich Augenzeugenberichte gibt, die in Archiven verschimmelten und die bezeugen: „Der Bolzen hat den Apfel gar nicht getroffen„. Nein. Nichts davon ist passiert und wer nach Kalmann geraten hätte, worüber Joachim B. Schmidt nun schreiben würde, Hand aufs Herz, Tell wäre niemals genannt worden. Also, womit haben wir es zu tun, sollte man das Buch lesen und was verbindet Schmidts Tell mit einem wahnwitzigen Krieg in einer wahnwitzigen Zeit?
Also frisch hinein in eine urwüchsige Bergwelt des 13. Jahrhunderts. Von einem Land namens Schweiz war noch keine Rede. Andere Mächte hatten ihre langen und gierigen Finger ausgestreckt und Handelswege besetzt oder Dörfer geknechtet. Allen voran das Habsburger Reich. Hier spielt sie nun, die Heldengeschichte von Friedrich Schiller, der seinen Tell als echtes Drama oder Schauspiel veröffentlichte und dem ich als Schüler im Abitur kaum aus dem Weg gehen konnte. Pathos ohne Ende, Figuren aus einfachsten Schablonen, Gut und Böse säuberlich getrennt und nur schwarzweiß gezeichnet, alles gut gestylt bis zum epischen Höhepunkt und auf Effekthascherei mit Armbrust und Bolzen ausgerichtet. Für mich schon immer angestaubt, nicht mehr gut lesbar und sperrig. Trotzdem sicherlich ein Meilenstein der Literatur. Aber bitte. Genau dieser Kosmos wandelt sich und schreit manchmal nach einer Reanimation, nach der Wiederbelebung und nach einer echten Revitalisierung, die diesen Stoff für neue und neugierige Leser zeitgemäß lesbar macht.
Hier hat Joachim B. Schmidt angesetzt. Hier hat er als literarischer Geburtshelfer in die Literaturgeschichte eingegriffen und einen neuen Tell zur Welt gebracht, nach dem sich Lesende seit vielen Jahren gesehnt haben. Keinen heroischen, allzu stereotypen und zweidimensionalen Berghelden mit Freiheitsvisionen, sondern ganz einfach einen urwüchsigen Mann, der aus seiner Zeit in unsere Hände gefallen scheint. Und das mit Wucht. Er stinkt, ist grob, wirkt unzuverlässig, schleppt eigene Leichen im Keller seiner Vergangenheit mit sich herum, ist widerwilliger Bauer, eigenwilliger Vater und versteht sich nicht gut aufs Reden. Ein Mann der Tat, ohne große Visionen. Überlebenskünstler und tatkräftige Urgewalt, wenn es darum geht, das bisschen Hab und Gut verteidigen zu müssen. Nein, man sollte sich wirklich nicht mit ihm anlegen. Er ist hart zu sich und zu anderen. Woher wir das wissen? Von ihm selbst? Nein, weit gefehlt.
Wie in einem Alpengewitter lässt uns Joachim B. Schmidt die Blitze um die Ohren fliegen, die jenen Wilhelm Tell aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Es sind die Frauen auf dem kleinen Tell-Hof, die Kinder, Dörfler und Menschen, die von ihm gehört haben, auf die wir uns hier verlassen müssen. Das Bild, das wir erkennen ist unscharf und doch ebenso kantig und grobkörnig, wie der Kerl, den es beschreibt. Ein Wilderer, der nicht viel zum Leben braucht. Ein Mann mit geradem Charakter und gutem Gespür für Ungerechtigkeit und ein Mensch, der tief in seinem Inneren fühlt, was falsch ist und was nicht sein darf. Die plündernden Schergen, die Steuern eintreiben und ganze Täler ausbeuten. die Männer des Landvogts, der alle knechtet und die Armut noch schlimmer macht. Nein, das ist dem Tell nicht egal. Er muss sich beherrschen, um nicht wie eine Berglawine abzugehen und alles mit sich zu reißen. Diesen Tell kannte ich so nicht. Er trauert, grübelt und zweifelt an sich selbst. Er würde gerne mehr tun, aber er ist in der Rolle des Mannes gefangen, der auf Haus und Hof zu achten hat. Als er endlich spricht, wird auch dieser Aspekt deutlich.
Schablonen sucht man in diesem Roman vergeblich. Authentische Charaktere sind auf allen Seiten zu finden. Verzweifelte und einfache Bauern, Kirchenmänner am Rand der bäuerlichen Gesellschaft, zweckmäßig denkende und handelnde Frauen, die voller Überlebenstrieb und -gier Haus und Hof in Schuss halten und Habsburger, die in ihren Rollen als Soldaten, Handlangern und Landvogt kaum einem Klischee entsprechen. Es ist die Besetzungsliste des Romans, die eine große Schnittmenge mit Friedrich Schiller aufweist. Das war es dann aber schon. Sucht man nach Spurenelementen des großen Klassikers, so sucht man vergebens. Sucht man bei Schmidt nach der Nacherzählung der Alpensaga, so findet man nichts. Sein Tell ist Wilhelm. Verletzlich, spröde, greifbar und urgewaltig. Die Charakterzeichnung ist die große Stärke dieses Romans. Gessler, der als Landvogt seit jeher in die Hall of Fame der Bösewichte einen Ehrenplatz hat, wird von Joachim B. Schmidt filigran aus einem Felsbrocken herausgemeißelt. Was bleibt, ist keine graue Statue, sondern ein lebendiges Abbild des Mannes, der von der Geschichte in eine hohle Gasse getrieben wird, die Geschichte schrieb.
Schiller war gestern, Tell ist heute. Das ging mir leicht von der Hand, weil ich weiß, was ich schreibe. Mein Schiller liegt neben dem Schmidt und scheint gar nicht so sehr eifersüchtig zu sein. Die beiden Werke bedingen einander und werden wohl auf ewige Zeit miteinander verbunden sein. Schüler dürfen sich allerdings darauf freuen, sich im Abitur mit lebendiger Literatur auseinandersetzen zu dürfen. Der Diogenes Verlag hat diesen Tell mit Vorschusslorbeeren gepriesen, die angemessen waren und dem Status des Erfolgsschriftstellers gerecht wurden: „Ein Blockbuster in Buchform, The Revenant in den Alpen, Game of Thrones in Altdorf.“ Was für Prädikate und Vergleiche. Mir hätte schon „Von Joachim B. Schmidt, dem Autor von Kalmann“ gereicht. Sagt alles, hat alles, eindeutiges Prädikat. Diesen Tell sollte man lesen, um der Legende der Schweiz auf die Fährte zu kommen. Das ist eine große Geschichte von Loyalität, Verantwortung und Vaterliebe. Es ist der Urquell eines Freiheitskampfes, obwohl der erste Impuls des Kämpfenden nicht die Allgemeinheit ist. Tell steht für dieses nicht zu verbiegende Ego. Er ist das leuchtende Vorbild, das ausstrahlt und Beispiel gibt.
Und schon bin ich bei meiner eingangs gestellten Frage. Was verbindet Tell mit der Ukraine? Warum schmerzt es so sehr, dieses Buch gerade jetzt zu besprechen? Wäre es nicht möglich, die Armbrust zu nehmen? Könnte man nicht einfach…? Wo sind die Gerechten von heute und wie erkennt man die scheinbar seit langer Zeit vergebenen Rollen? Wen schieben wir jetzt in die Hall of Fame des Bösen? Und wie viel Rückgrat gehört bald dazu, sich nicht vor dem Hut eines neuzeitlichen Despoten zu verbeugen? Joachin B. Schmidt hat einen zeitlosen Roman geschrieben, der unseren moralischen Kompass nicht hohl drehen lässt. Das ist der Nordpol. Daran kann man sich ausrichten.
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Herzlich willkommen in Island. In Raufarhöfn, um ganz genau zu sein. Das beinahe ausgestorbene Fischerdorf ist auf unseren Landkarten kaum zu finden und doch ist es eine Reise wert. Das behauptet zumindest Joachim B. Schmidt, der Schriftsteller und ausgebildete Reiseleiter, der selbst seit dreizehn Jahren in Island lebt. Eigentlich sollte er es ja wissen, und so kann man sich diesem literarischen Auswanderer bedenkenlos anvertrauen, um ihm in die eisige Kälte am Rande der Zivilisation zu folgen. Dachte ich zu Beginn seines Romans „Kalmann“ zumindest. (Rezension weiterlesen)