Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt – Marie Gaté

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt - Marie Gaté - Astrolibrium

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt – Marie Gaté

Wie wäre es mit einer literarischen Praline, die in wundervoller Verpackung auf euch wartet und in ihrem Inneren mehrere Geschmacksexplosionen verbirgt? Könnt ihr euch vorstellen, wie es sich anfühlt, ganz langsam durch eine äußere Schicht aus Krokant in die Tiefen dieser Leckerei vorzudringen und dabei festzustellen, wie sich alle Zutaten in eurem Mund zu einer Komposition von größter Raffinesse vereinen? Und plötzlich stoßt ihr mit der Zunge überraschend auf einen ersten inneren Kern, der sich von den zuvor erkundeten delikaten Schichten unterscheidet. Er scheint extrem hart zu sein und bitter zu schmecken. Alles widerspricht der Komposition, die euch gerade noch so begeistert jubilieren ließ. Doch ihr könnt nicht mehr innehalten. Ihr zerbeißt den Kern und stoßt in ein geheimes Inneres vor, das euch die Tränen in die Augen treibt. Ihr beginnt euch zu ekeln und seid kurz davor, die sich auflösende Praline auszuspucken, bis ihr vorsichtig weitertastet und auch im Inneren dieses Kerns etwas Neues entdeckt, das sich bereits im ersten Moment der Berührung mit euren Geschmacksnerven als Zauber erweist.

Wenn ihr euch dies alles vorstellen könnt, dann seid ihr bereit, mir in ein Buch zu folgen, auf das jedes einzelne Bild meines gerade gezogenen Vergleichs zutrifft. Dann seid ihr bereit, einer Schriftstellerin zu begegnen, die aus den unterschiedlichsten und selten kombinierten Zutaten ein literarisches Konfekt geschaffen hat, das sich deutlich von der Einheitsware unterscheidet, die uns alltäglich begegnet. Ihr Rezept besteht aus Liebe, Zuneigung, Sehnsucht, unerfüllten Hoffnungen, Stolz, poetischer Strahlkraft und patriotischer Heimatliebe. Aber eben auch aus einem Kern, den man schlucken muss, um die Schönheit des Ganzen zu ermessen. Ein Kern aus Hass, Repressalien, Gewalt, Stacheldraht, Schützengräben, Giftgas, Granaten und Vernichtung. Dieses Innere liegt schwer im Magen und im Herzen. Für eine französische Autorin schmeckt dieser Kern deutsch. Und nicht nur für sie. Es ist der Granatkern einer gemeinsamen Geschichte, die nur dann nachhaltig überwunden werden kann, wenn wir bereit sind, diese Praline mit all unseren Sinnen zu probieren. Nur so stoßen wir gemeinsam in den wahren Kern einer zutiefst persönlichen Familiengeschichte vor, die niemals Geschichte wurde.

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt - Marie Gaté - Astrolibrium

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt – Marie Gaté

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt.“ So lautet der Titel eines Romans, der sich als autobiografischer Jahrhundertroman so erfreulich vom Mainstream abhebt, der uns in den Buchhandlungen begegnet. Es ist sicherlich der Titel, der neugierig machen kann. Es ist sicherlich auch das gediegene Äußere dieses Buches der Stroux Edition, dem man verfallen kann. Elemente einer Pralinenverpackung, die mir signalisierte, hier einer neuen Erzählstimme begegnen zu können. Marie Gaté. Ein Kind der Ardennen, könnte man sagen. Eine französische Weltbürgerin, die ihr Sprachtalent zur Berufung gemacht hat. Dolmetscherin, Übersetzerin und Autorin. Aufgewachsen in einer Region, die immer noch von den Spuren zweier Weltkriege durchzogen ist. Eine Französin, die ihre autobiografische Geschichte in einer Sprache schrieb, die für ihre Vorfahren nur die Sprache der Eroberer und Besatzer war. Auch eine deutsche Staatsbürgerin, aus deren Sicht die Geschichte ihrer Familie zur multiperspektivischen Kamerafahrt durch ein Jahrhundert der ambivalenten Beziehungen wird. Eine Schriftstellerin, die mit ihrer Vielsprachigkeit in der Herangehensweise an ein sensibles Thema sprachlos macht.

Es ist die Champagne, in die uns Marie Gaté entführt. Hier vertraut sie sich uns an und öffnet uns behutsam die Seiten ihres Familienalbums mit all den Erinnerungen und Gefühlen, die ein solcher Rückblick mit sich bringt. Wir begegnen ihren Großeltern zu einer Zeit, in der die Region rund um Reims zu den umkämpftesten Gebieten Europas gehörte. Wir treffen auf gezeichnete Menschen, die der Erste Weltkrieg zermürbt hat. Wir finden jedoch auch die ersten Muster einer Familiengeschichte, die von Achtung und Liebe skizziert ist. Sehnsucht spielt eine große Rolle und Sehnsucht wird zu einer der wichtigsten Bestimmungsgrößen im Leben der jungen Marie. Es ist die Schwester ihrer Großmutter, die Jahrzehnte später zu einer wichtigen Bezugsperson für sie wird. Es sind ihre Eltern, die Marie zeitweise zu jener Großtante Adrienne in Obhut geben. Und so werden wir zu den Zeugen der Generationsgeschichten, die von zwei Kriegen charakterisiert sind. Von niemals verheilenden Wunden, Schrecken und gegenseitig zugefügtem Leid. Und wir werden heimliche Zeugen einer nie erzählten Geschichte.

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt - Marie Gaté - Astrolibrium

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt – Marie Gaté

Es ist „Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt“, den die Großtante Adrienne der jungen Marie als ganz persönliche Geschichte schenkt. Es sind die magischen Momente an Adriennes Seite, die das Mädchen früh prägen und es sind all die Fragen, auf die Marie einfach keine Antworten findet. Warum hat Adrienne niemals geheiratet? Warum lebt sie allein und gibt es ein Geheimnis, das sie nicht preisgeben will? Im Lauf der Jahrzehnte wird aus Adrienne eine wesentliche Konstante für Marie. Und während wir erleben, wie aus dem Mädchen die Frau wird, ahnen wir schon, welchen Konflikten sie neuen Treibstoff verleiht, als ausgerechnet sie ihren ersten Freund mit nach Hause bringt. Einen deutschen Soldaten. Hier reißen nicht nur alte Wunden auf, hier wird im modernen Frankreich das besiegte Frankreich des Ersten Weltkriegs und das schwer verwundete des Zweiten Weltkriegs sichtbar. Es ist eine Mischung aus Ablehnung und Misstrauen, die dem jungen Deutschen begegnet. Und doch ist dies längst nicht alles. Das Geheimnis von Adrienne beginnt langsam, sich an die Oberfläche zu graben.

Hier befinden wir uns tief im Inneren der literarischen Praline. Es schmeckt überall nach Gift und Tod, nach Unterdrückung und Repressalien. Die Uhren gehen in diesem Ersten Weltkrieg falsch. Sie zeigen die deutsche Zeit an. Hier beginnt, was Adrienne erst am Ende ihres fast hundertjährigen Lebens erzählt. Hier beginnt, was sich als ein Muster von tiefer Sehnsucht durch ihr Leben zog. Eine Liebesgeschichte, die einfach unmöglich war. Eine Liebe, die man Kollaboration oder Fraternisierung genannt hätte. Eine Liebe, die jedoch die Zeit überdauert hat. In Marie und ihren eigenen Lieben hat sich der Kreis einer Geschichte geschlossen, die zum Opfer der Geschichte wurde. In ihr liegt der Schlüssel zur Heilung aller Wunden. In ihrem heutigen Schreiben liegt der Schlüssel zur Nachhaltigkeit eines Friedens, den unsere Großeltern und Eltern niemals für möglich gehalten hätten. Dem „Klang des Bleitstiftes, der zu Boden fällt“ kommt in diesem autobiografischen Roman eine metaphorische Bedeutung zu, an die ich wohl noch lange denken werde. Dieser Stift ist dieser Familie nie aus der Hand gefallen. Bei Marie Gaté ist das eindrucksvoll nachzulesen.

Das süße Herz dieser Praline verdrängt die Bitterstoffe und lässt die Tristesse dort, wo sie hingehört. In der Vergangenheit. Die Zukunft gehört nur uns. Ihr Geschmack ist ein Geschenk….

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Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt – Marie Gaté

Ich wurde über die inhaltlichen Aspekte der Geschichte hinaus reich beschenkt. Immer wieder stelle ich mir die Frage: Was erwarte ich von einem Roman? Natürlich eine gute Erzählung, Spannung, Romantik und Tiefgang. Aber auch nie zuvor gelesene Impulse, die mich inspirieren. Schon auf den ersten Seiten des Romans gelang es der Autorin, mein Lesen zu unterbrechen und einen Zündfunken in mein Leben zu bringen, der einen Flächenbrand verursacht. Stellt euch einfach vor, ihr verliert einen Menschen aus eurem direkten Umfeld. „Welchem fehlenden Buchstaben des Alphabets würde er entsprechen?“ Darüber lohnt es sich intensiv nachzudenken. Wäre es ein Q, ohne das man gut zurechtkommt, oder verliert man einen lebenswichtigen Vokal, der absolut unersetzbar ist und uns fast sprachlos machen würde? Ein Gedanke, der sehr langsam Fahrt aufnimmt, sich dann aber mit dem eigenen Wertevorrat verbindet.

Heute sind wir, was man gemeinhin als Zeitgenossen bezeichnet. So habe ich den Roman von Marié Gaté gelesen. Wir gehören einer Generation an. Und doch sind wir mit völlig unterschiedlichen Narrativen aufgewachsen. Es sind verschiedene und nicht zu vergleichende Rollen, die unsere Länder in der Weltgeschichte gespielt haben. Hier gilt es anzusetzen und das Verbindende zu suchen. Es gilt, die Schuldfragen nicht zu dominant werden zu lassen, um die Heilung der Wunden nicht zu verhindern. Wir sind noch lange nicht am Ziel, stehen aber in der Tradition großer Politiker und Autoren, die sich tatsächlich und symbolisch über den Gräbern von einst die Hand gereicht haben. Den Beitrag, den Marie Gaté an dieser historischen Aufgabe geleistet hat, kann man nicht hoch genug einschätzen. Ich versuche durch meine Artikel einen eigenen kleinen Beitrag zu leisten, unser heutiges Leben in den historischen Kontext zu stellen und die Verantwortung als Vater an die nächste Generation weiterzugeben.

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Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt – Marie Gaté

Ob mir das gelingt, das können andere besser beurteilen. Ich empfehle das Lesen meiner Artikelserie zum Ersten und zum Zweiten Weltkrieg. Und gerade im Bezug zu diesem Buch sind es folgende Rezensionen und Reflexionen, die mich zutiefst mit dem Schreiben von Marie Gaté verbinden:

Die Stunde, in der Europa erwachte
Die verborgene Chronik 
Die ewigen Stimmen aus Verdun
Elegie des großen Krieges
Der Wintersoldat

Chère Marie Gaté-Stallforth. Je vous remercie pour une histoire que je porterai dans mon cœur quand un jour je serai de retour à Verdun. Sans votre livre, ce serait comme toutes les consonnes manquantes de mon alphabet…

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Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt – Marie Gaté

Update: Ein Buch für euch: Schreibt einen Kommentar und verratet mir, auf welchen Buchstaben des Alphabets ihr verzichten könntet. Unter allen Kommentierenden werde ich den Roman von Marie Gaté verlosen und ihn mit einer signierten Karte der Autorin auf den Weg bringen. Einsendeschluss ist Sonntag, der 24. Januar 24 Uhr.

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt - Marie Gaté - Astrolibrium

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt – Marie Gaté

Interessante Einblicke im Rahmen der Rezension zu : „Emma Bonn, 1879 – 1942, Spurensuche nach einer deutsch-jüdischen Schriftstellerin

Ich danke auf diesem Weg ganz besonders jenen Lesern, die mir auf meinem Weg zu Emma auf Instagram oder Facebook gefolgt sind. Jürgen Gielsdorf zum Beispiel war mit Buch und Kamera zeitgleich im Norden unseres Landes unterwegs. Man kann sich vorstellen, wie bewegend es ist, mit den Erinnerungen an Emma Bonn nicht allein zu sein. Der Weg geht weiter. Erinnern und immer weiter erinnern, das ist mein Ziel im Lesen und Schreiben gegen das Vergessen. Wir werden Emma Bonn in der nächsten Ausgabe unseres literarischen PodCasts „GlockenbachWelle“ mit der Stroux Edition einen ganz besonderen Platz einräumen. Dazu schon bald mehr, wenn wir mit Marie Gaté, Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt, der Verlegerin Annette Stroux und einem noch gut gehüteten Geheimnis auf Sendung gehen. 

Emma Bonn – Eine Spurensuche - Astrolibrium

Emma Bonn und Marie Gaté – Bald eine GlockenbachWelle…

Die GlockenbachWelle mit Marie Gaté – Unser Literatur-PodCast aus München:

Jetzt sollten Sie sich zuschalten. Hier geht´s lang. Ohren auf!

Wir wünschen uns ein Wiederhören mit Ihnen, wenn es wieder heißt „Ohren auf für eine neue GlockenbachWelle“. Und versprochen. Die neunte Welle wird auch in rein inhaltlicher Hinsicht ein wahrer Ohrenschmaus.

GlockenbachWelle - Stroux Edition und Marie Gaté - Astrolibrium

GlockenbachWelle – Stroux Edition und Marie Gaté

Oberkampf von Hilmar Klute

Oberkampf von Hilmar Klute - Astrolibrium

Oberkampf von Hilmar Klute

Die Zeit heilt alle Wunden? Nicht wirklich. Alleine die Literatur sorgt dafür, dass man immer wieder an Schocknachrichten aus der Vergangenheit erinnert wird. Sie trägt die Verantwortung für die Konsequenzen einer literarischen Aufarbeitung, die geeignet ist, altes Narbengewebe wieder aufzureißen und lange verdrängte Ereignisse erneut in den Brennpunkt zu rücken. Hier wirkt die Literatur wie ein Gerichtsprozess, der Jahre nach der Tat alle Details des Verbrechens in epischer Breite ausführt, und den Angehörigen der Opfer kaum Erleichterung verschafft. Oft passiert genau das Gegenteil. Wenn dann Prozess und Literatur Hand in Hand gehen, liegt eine hochexplosive Mischung vor, der man sich nur behutsam nähern sollte. (Weiterhören – hier geht´s zum PodCast)

Oberkampf von Hilmar Klute - Die Rezension fürs Ohr - AstroLibrium

Oberkampf von Hilmar Klute – Die Rezension fürs Ohr – Hier klicken…

Fünfeinhalb Jahre sind seit dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ in Paris vergangen. Am 7. Januar 2015 richteten zwei islamistische Terroristen in der Rue Nicolas Appert ein Blutbad an und massakrierten elf Menschen, verletzten mehrere Anwesende schwer und töteten auf ihrer Flucht einen Polizisten. In ihrem Gefolge kam es zu weiteren Anschlägen, nicht nur in der Hauptstadt. Wir sehen wohl alle noch die dramatischen Bilder von einst vor Augen. Ein Paris in Schockstarre, trauernde Menschen vor den Redaktionsräumen von „Charlie Hebdo„, Ein Supermarkt voller Geiseln, in dem sich ein weiterer Terrorist verschanzt hatte. Polizei-Einsätze und weitere Tote. Erschossene Attentäter und eine Prozession der Erschütterten unter dem Motto „Je suis Charlie„. Ich denke, niemand hat diese Januartage vergessen.

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Oberkampf von Hilmar Klute

In diesen Tagen hat in Paris der Prozess gegen die Hintermänner der Terroristen begonnen. Die Corona-Pandemie hat den Prozessauftakt verschoben. Gleichzeitig hat die neue Redaktion von Charlie Hebdo das Magazin neu aufgelegt, das den Anschlag der Islamisten verursacht hatte. Mohammed-Karikaturen hatten für einen Aufschrei in der islamischen Welt gesorgt und Extremisten dazu veranlasst, ihren Propheten rächen zu wollen. Unter dem Titel „Tout ça pour ça“ (All dies, nur dafür?) wurde das damalige Skandalblatt in einer Auflage von rund 400000 Exemplaren an die Kiosks der Metropole ausgeliefert. Der Aufschrei folgte sofort. Bilder der Überlebenden beim Prozess zeigen das Ausmaß der Traumatisierungen aus dem Jahr 2015. Nicht aufgeben, immer weiter für die Presse- und Gedankenfreiheit zu kämpfen, vereint die Menschen in Frankreich. Die Narben sind tief. Und jetzt kommt auch noch ein Roman hinzu…

Oberkampf“ von Hilmar Klute mutet wie eine martialische Überschrift an, die uns auf eine absolute Meta-Ebene der Konfliktbewältigung vorbereitet. Dabei entpuppt sich der kämpferische Titel schnell als verträumte Straße mit gleichnamiger Metro-Station in unmittelbarer Nähe zu den Redaktionsräumen der Satirezeitschrift. Es sind gerade mal neun Gehminuten von der Rue Oberkampf Nr.11 bis ins Auge des Orkans. Und genau hier zieht Jonas Becker am 6. Januar 2015 ein. Tief in der Midlifecrisis gefangen, die eigene Ehe gescheitert, eine Agentur in den Sand gesetzt und nun auf der Suche nach einem literarischen Restart im Herzen von Paris. Im Auftrag eines Verlages hat er jetzt nur noch ein Ziel. Den ebenso legendären, wie erfolglosen Schriftsteller Richard Stein zu treffen und seine Biografie zu schreiben. Was eigentlich recht harmlos klingt, wird schnell zu einem Ritt auf einer doppelt geschliffenen Rasierklinge in einer Stadt, in der schon am nächsten Tag nichts mehr so ist, wie es je zuvor war. Am 7. Januar bricht die Hölle los.

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Oberkampf von Hilmar Klute

Hilmar Klute legt einen bipolaren Roman vor, in dem es gelingt, die Menschen in den Vordergrund zu stellen und gleichzeitig die Situation in Paris nicht zur Kulisse zu degradieren. Ein Ausnahmebuch zu einer Stadt im Ausnahmezustand. Es sind die zwei Pole dieser MetroPole, die den Erzählraum abstecken. Es sind die Begegnungen, die aus Jonas Becker einen Wanderer in zwei unterschiedlichen Welten machen. Es ist in erster Linie der Schriftsteller Richard Stein, der ihn in seine Welt entführt. Und so, wie es am geografischen Nordpol nun mal wirklich keine Pinguine gibt, existiert in der Welt des Egozentrikers Stein kein Terror. Hier steht die Biografie im Vordergrund. Losgelöst von den Salven, die in den Straßen von Paris ihren lauten Nachhall finden. Hier sind es die Salven eines Lebens im Tunnelblick des Ichs, die in einem Buch verdichtet werden sollen. Und Steins Vorrat an Munition ist unendlich.

Und dann ist es die Zufallsbekanntschaft, die zuerst zur Liaison und dann zu viel mehr wird, die Jonas Becker mit der Pariser Archivarin Christine zum Südpol dieser Geschichte führt. Hier erlebt er die Realität des Terrors in der Stadt, hier blickt er hinter die Kulissen der Emotionen und der Trauer. Hier wird er von Christine mit Bildern aus den Banlieues konfrontiert, weil sie ihm die Ausweglosigkeit der Ausgestoßenen zeigen möchte. Hier wird er hineingestoßen in eine Stadt, die darum kämpft, ihren Alltagsstolz zu bewahren. Hilmar Klute bewegt sich literarisch brillant zwischen diesen Welten. Er transportiert die Stimmung nach dem Anschlag in jede Zeile seines Romans. Und doch gelingen ihm auch die zarten und magischen Zwischentöne, die einer Emotionalität zu Höhenflügen verhilft, die genau in diesen Zeiten so lebenswichtig ist. Es ist der Beginn der Liaison zwischen Jonas und Christine, die so sehr nach dem unbeschwerten Paris schmeckt und riecht, wie man es sich einfach nur träumen kann…

„Dann“, sagte sie… „vielleicht auf ein anderes Mal. Vielleicht im Centenaire eines Mittags.“ „Ich werde da sein“ sagte Jonas…   

Oberkampf von Hilmar Klute - Astrolibrium

Oberkampf von Hilmar Klute

Es ist der scharfe Kontrast zwischen der Geschichte des Anschlages und einem Künstlerroman, der uns durch die Seiten von „Oberkampf“ treibt. Es sind brutale Schnitte, die uns in zwei Welten entführen, deren Schnittmenge äußerst gering zu sein scheint. Es ist Jonas Becker, der versucht, Verbindungslinien zu ziehen. Er trägt seine eigenen Schlachten aus. Er will seinen Job machen und mit Christine ein neues Leben beginnen. Ein Konflikt, der ihn an die Grenzen bringt. Hilmar Klute bettet seinen Roman nicht in dieses Szenario ein, weil er sich einer Kulisse bedient. Er beschreibt ein Paris, das er selbst erlebt hatte. Er verarbeitet sicher auch selbst, wie sich ein Autor inmitten der Wirren jener Tage gefühlt hat. Es ist beeindruckend, wie er dem Erschrecken und dem Gefühl, manchmal nur ein Voyeur zu sein, Ausdruck verleiht. Es ist erschreckend, wie einfach der Weg zur hermetisch abgeschlossenen Ignoranz sein kann, wenn man sich hinter einer Aufgabe versteckt. Es ist sehr atmosphärisch, war er erzählt und wie es ihm gelingt, Nord- und Südpol der bipolaren Geschichte zu vereinen.

Wir finden viele literarische Entsprechungen, wenn wir die Rue Oberkampf Nr. 11 betreten. Hilmar Klute erzählt von der Unterwerfungvon Michel Houellebecq, jenem Roman, in dem ein muslimischer Bürgermeister Paris regiert, und der genau in den Tagen des Anschlages auf Charlie Hebdo erschien. Wir fühlen uns an Bücher zu diesen Ereignissen erinnert. Klute gelingt dieser intensive Einblick in die französische Gesellschaft in einer Intensität, die ich zuvor nur bei Virginie Despentes gefühlt habe. Ihre Trilogie über „Das Leben des Vernon Subutex“ endet dort, wo Klute beginnt. In allen Beschreibungen schwingt „Die Leichtigkeit“ mit, die an diesem 7. Januar 2015 verloren ging. Ein Verlust den Catherine Meurisse literarisch verarbeitete. Sie kam an diesem Tag zu spät zur Arbeit. Die Karikaturistin von Charlie Hebdo hatte verschlafen und überlebte den Anschlag der Al-Qaida-Terroristen nur durch diesen Zufall. All diese Bücher habe ich bereits vorgestellt. Sie ergeben eine literarische Einheit, in die sich Oberkampf nahtlos einreiht.  

Oberkampf von Hilmar Klute - Astrolibrium

Oberkampf von Hilmar Klute

Hilmar Klute verdeutlicht in seinem RomanOberkampf„, dass sich die beiden Pole seiner Geschichte ähnlicher sind, als man denkt. Die Metropole an der Seine und das Leben des Schriftstellers Richard Stein sind vergleichbar. Von sich eingenommen und nach außen hin stabil und unverletzlich wirkend. Und doch ist es kein Wunder, dass in beiden Mikrokosmen der Terror von innen angelegt ist, bevor es dem Feind von außen gelingt, sich Zutritt zu verschaffen. Hochexplosiv.

Zum Ende bleibt mir nur, ein Buch zu erwähnen, das auch von Paris und seinen Anschlägen handelt. Es ist ein Buch, das ich absichtlich nicht in die Reihe der zuvor erwähnten Bücher stelle, weil es nichts mit Charlie Hebdo und dem Januar 2015 zu tun hat. Hier beschreibt Antoine Leiris sein Leben, seine Geisteshaltung, seinen Schmerz und seine Weigerung, sich lebenslang dem Terrorismus zu beugen, als ein Mann, der seine Frau bei einem späteren Anschlag in Paris im November 2015 verloren hatte. „Meinen Hass bekomt ihr nicht“ ist eines der bewegendsten Werke, die uns zeigen, wie ein Hinterbliebener mit aufkommendem Hass umgeht und seinen kleinen Sohn vor Vorurteilen und einer weiteren Spirale der Gewalt beschützen möchte. Ein Manifest.

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Oberkampf von Hilmar Klute

Ich hätte mir wirklich gewünscht, Antoine Leiris hier nicht erwähnen zu müssen. Jetzt jedoch steht sein Buch neben „Oberkampf“. Ich habe es kommen sehen und es war wohl unvermeidlich. Auch das ist Hilmar Klute. Es gibt einen dritten Pol, auch wenn man es nicht wahrhaben möchte.

Wenn ein Autor eine Brücke zwischen zwei Terror-Ufern schlägt, riskiert er, dass manche Leser den Brückenschlag für vorhersehbar halten. Für mich geht es in meiner Bewertung dieses Romans nicht um die beiden Ufer, sondern um die Tragfähigkeit der Brücke. Keine Leichtbauweise. Das steht für mich fest. Sie trägt…

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise – Dubois

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise - Dubois - Astrolibrium

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise – Dubois

Der renommierte französische Literaturpreis „Prix Goncourt“ ist ein Prädikat des guten Lesens. So habe ich es bisher empfunden. Hier wird kein Buch mit einem Etikett versehen, dessen Qualität man spätestens dann anzweifelt, wenn man es nicht versteht. Manche Literaturpreise schrecken mich eher ab. Diese Auszeichnung empfinde ich als Brandbeschleuniger für meine literarische Neugier. Und dies nicht grundlos. Bisher hat mich noch kein Preisträger enttäuscht. Ich nenne hier nur Beispiele:

2006 Jonathan Littell – „Die „Wohlgesinnten
2010 Laurent Binet – „HHhH – Himmlers Hirn heißt Heydrich“ – Kategorie Debüt
2011 Alexis Jenni – „Die französische Kunst des Krieges
2016 Leila Slimani – „Dann schlaf auch du
2017 Éric Vuilard – „Die Tagesordnung

Meine guten Erfahrungen mit diesen Preisträgern ließen mich kaum daran zweifeln, auch mit dem Gewinner der renommierten Auszeichnung aus dem Jahr 2019 eine gute Wahl getroffen zu haben. Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise kommt eigentlich wie eine leichte und ziemlich unaufgeregt erzählte Geschichte daher, die bei näherer Betrachtung jedoch alles andere ist, als literarische Meterware nach bekannten Mustern oder bibliophiler Einheitsbrei nach bekannter Rezeptur.

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise - Dubois - Astrolibrium

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise – Dubois

Jean-Paul Dubois gelingt es, mit einer skurril anmutenden Ausgangssituation seines Romans so viel Neugier zu erzeugen, dass man das Gefühl einfach nicht mehr loswird, das Buch lesen zu müssen, um dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Da sitzt ein Mann in einer Gefängniszelle, dessen Lebenswandel unbescholten ist, der als besonnen und hilfsbereit gilt, der keiner Fliege etwas zu Leide tun könnte und man fragt sich, was ihn hierher verschlagen hat. Wir befinden uns in der kanadischen Haftanstalt von Montreal und lernen Paul Hansen in seinem neuen Domizil kennen. Sechs Quadratmeter, zwei Etagenbetten, zwei Fenster, zwei in den Boden zementierte Hocker, zwei Ablagebretter und ein freistehendes Klo. Condo, so nennt man die Zelle, in der er genau zwei Jahre Haft absitzen muss. Und dies keineswegs allein. Patrick Horton, ein hünenhafter und jähzorniger Hells Angel teilt mit ihm die Luft zum Atmen und den letzten Rest einer nicht vorhandenen Privatsphäre.

Während Jean-Paul Dubois seinen Protagonisten einsperrt, befreit er seine Leser durch das geschickte Öffnen von Erzählräumen, zu denen nur er alle Schlüssel besitzt. Es sind die Innenansichten eines Insassen, aus denen wir seine Freiheit vor dem Urteil erleben dürfen. Dubois faltet die Landkarten der Welt zusammen und fabuliert sich im Verlauf seiner Erzählung in Rückblenden in ein magisches Dreiländereck. Frankreich, Dänemark und Kanada sind die Schauplätze, die wir verstehen und inhalieren müssen, um zu verstehen, warum dieser gutmütige Paul Hansen hier wie ein Schwerverbrecher gehalten wird. Es ist eine Familiengeschichte, die wir uns ganz genau ansehen sollten, bevor wir selbst zu einem Urteil kommen. Es sind die kleinen Geschichten, in die man uns entführt, die dem Mosaik einer Straftat ein Muster verleihen, das greifbar wird.

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Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise – Dubois

Es sind die Menschen. die das Leben von Paul Hansen geprägt haben. Es sind die erlebten und adaptierten Verhaltensmuster seiner Eltern, die seinem Weg Richtung und Wertevorrat mitgegeben haben. Wir lernen den an sich scheiternden Prediger kennen, der seinen Glauben verliert, die Liebe seiner Frau als Verrat empfindet und sich in eine Sucht flüchtet. Sein Vater, ein Däne. Wir lernen die Besitzerin eines Kinos kennen, die sich gegen alle Konventionen stellt und das kleinbürgerliche Frankreich und ihren Mann durch die Auswahl ihrer Filme provoziert. Eine Französin, schillernd schön. Die Mutter. Wir begegnen einer Pilotin, mutig, abenteuerlustig, liebeswütig und selbstlos. Die Frau fürs Leben. Kanadierin, Indianerin. Seine Frau. Die Frau, die ihn verzauberte:

„Meine Frau war der Umhang, der Stab, das Kaninchen und der Hut zugleich. Wie konnte eine Frau zugleich ein Flugzeug fliegen, mich lieben und ihre Hündin retten?“

Und nicht zuletzt ist es eine Hündin, die ihm zeigt, wie selbstlos Liebe ist und wie sehr ein Tier Halt geben kann. Es sind seine Toten, die ihm ihre Geschichte vor Augen führen. Dieser Roman kennt keine Totenruhe. Die Geister seiner Lieben sind an seiner Seite. Omnipräsent. Sie sind keine Alibis für sein Verbrechen. Sie sind Teil der Lunte, die sich niemals entzündet hätte, wäre Paul Hansen kein Unrecht geschehen. Dies ist die große Lehre, die sich von Seite zu Seite immer weiter manifestiert. Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise. Dass man sich dabei in die Quere kommt ist nur allzu logisch. Das Pulverfass explodiert mit fatalen Auswirkungen.

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Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise – Dubois

Dubois brilliert sprachlich, grandios eingefangen von den Übersetzerinnen Nathalie Mälzer und Uta Rüenauver, er besticht mit Bildern voller Lokalkolorit und nimmt seine Leser mit auf eine Reise, die der Zelle ihren klaustrophobischen Sog nimmt. Es ist das Programmkino, dessen schummrige Atmosphäre wir spüren können, es ist eine Kirche in Dänemark, die fast vom Sand verschluckt wurde und deren Turm mit den Dünen zu wandern scheint. Es ist ein Wasserflugzeug, das getragen von indianischen Legenden überall landen kann, wo die Zivilisation unüberwindbare Grenzen gezogen hat. Und es sind die Menschen, die diesen Roman mit ihrer Präsenz bereichern. Es ist die Magie des Arbeitsplatzes, an dem Paul Hansen in den Wahnsinn getrieben wurde. All diese Erzählelemente machen den Roman preisverdächtig und -würdig.

Dies ist ein großer franko-kanadisch-skandinavischer Roman, der nicht durch sein Tempo, sondern durch einen unterhaltsam melancholischen Tiefgang überzeugt. Es ist ein Sittengemälde dreier Länder, eine Charakterstudie ihrer Menschen und ein perfekt in Szene gesetztes Diorama einer Arbeitsumgebung, die einen Menschen mit Haut und Haaren in sich aufsaugt. Das „Excelsior„, die Wohnanlage, deren Hausmeister unser Häftling war, wird zum Sinnbild einer Trauminsel, die zum Horror mutiert. Und wer sich in diesem Roman fühlt, er säße an einem langsam vor sich hinplätschernden Fluss, der wird regelmäßig aufgerüttelt, wenn ein Hells Angel mal eben auf Toilette muss und sich in einen Zustand eruptiver Presswehen begibt…

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise - Dubois - Astrolibrium

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise – Dubois

Würde man nach einer Überschrift für diesen Roman suchen, ich würde ihn die Geschichte einer Rache nennen. Paul Hansen nimmt keine Rache. Er gönnt sie sich und steht für die Konsequenzen ein. Da kann man wieder einmal sehen, was passiert, wenn ein braver Maschinist das Öl gegen Sand vertauscht und dem Getriebe auf diese Art und Weise den revolutionären Todesstoß versetzt. Hier lernt man, wie komplex man sein Leben und die Leben seiner Vorfahren, Liebsten und Gefährten im Gepäck haben kann und was geschieht, wenn sie gemeinsam eine Entscheidung treffen, die einfach konsequent ist. Lesenswert, liebenswert, leidenswert, empfehlenswert.

Meint übrigens auch Constanze auf Zeichen & Zeiten… 

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Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise – Dubois

Am Tag davor von Sorj Chalandon [Montan-Literatur]

Am Tag davor von Sorj Chalandon - AstroLibrium

Am Tag davor von Sorj Chalandon

Montan-Literatur. Seit Jocelyn Saucier und ihrem Roman „Niemals ohne sie“ für mich ein neuer (weil ja von mir geprägter) Begriff einer literarischen Stilrichtung. Hier sind es die Bergwerke, Kohlegruben und Zechen, die das Szenario für brillant erzählte Romane bestimmen. Es sind Kumpel, Steiger und ihre Kollegen unter Tage, die uns in die Tiefe mitnehmen. Hauer, die uns zeigen, wie hart ihr Leben ist, welche Risiken sie begleiten und wie unfair es sich anfühlt, den Reichtum eines Landes zutage zu fördern und dabei selbst an der Armutsgrenze zu leben. Es ist ein Leben voller Entbehrungen, Traditionen und Gefahren. Der Stoff, aus dem gute Geschichten gemacht sind.

Sorj Chalandon hat mit Am Tag davor einen solchen Montan-Roman verfasst, in dem wir eigentlich gar nichts anderes erwarten, als die ewig ungeklärte Frage zu klären, was am Tag vor einem großen Grubenunglück in Frankreich passiert ist. Das Unglück selbst ist verbriefte historische Tatsache. Die Geschichte, die Sorj Chalandon in dieses Szenario einbettet, hat es in sich. Sie geht tief unter die Haut und berührt alle Facetten menschlicher Anteilnahme. Ein verblüffender Roman über Schuld, Selbstvorwürfe und niemals bewältigten Verlust. Und zugleich ein Lehrstück über den Umgang mit eigenen Wahrheiten.

Am Tag davor von Sorj Chalandon - AstroLibrium

Am Tag davor von Sorj Chalandon

Wir schreiben den 26. Dezember 1974 und befinden uns auf der Zeche Saint-Amé in Liévin-Lens. Weihnachten ist gerade vorbei und der Routinebetrieb unter Tage läuft wieder an. Es ist der Tag, an dem der sechzehnjährige Michel voller Stolz mit Joseph, seinem großen Bruder, auf einem Moped durch die Straßen der Stadt fährt. Sie fühlen sich unbesiegbar und die Strahlkraft ihrer Jugend scheint ein Schutzschild zu bilden. Es ist der Stolz, der sie verbindet. Und auch die Angst, Joseph könnte in der Grube etwas zustoßen. Die Arbeitsbedingungen sind hart. Die Gefahr von Unglücken unkalkulierbar hoch. Es ist „Am Tag davor“, der die beiden Brüder auf der Welle gegenseitiger Liebe auf dem Moped vereint.

Am 27. Dezember 1974 ist alles anders. Eine Explosion erschüttert die Region. Es ist der Schacht, in dem sein Bruder arbeitet, der zusammenbricht. 42 Bergleute finden den Tod, wo sie eigentlich auf der Suche nach Kohle waren. Michel und seine Eltern warten auf Nachrichten, bis ihnen mitgeteilt wird, dass Joseph schwerverletzt überlebt hat. Hier lässt Sorj Chalandon einen Schacht nach dem anderen über der Familie einstürzen. Es ist unfassbar traurig, was er erzählt, wie er es erzählt und was er in uns auslöst. Joseph stirbt sechsundzwanzig Tage später in der Klinik. Er lässt verzweifelte Angehörige und eben seinen kleinen Bruder zurück. Die Geschichte hat keinen Platz für das Opfer, das so lange nach dem Unglück stirbt. Joseph wird nicht zu den Toten der Katastrophe von Liévin-Lens gezählt. Er starb im Bett.

Am Tag davor von Sorj Chalandon - AstroLibrium

Am Tag davor von Sorj Chalandon

Jorj Chalandon vermittelt ein dramatisches Gefühl der unterschiedlichen Formen von Trauer, die hier angebracht sind. Die Familie von Joseph kommt sich vor wie böse Trittbrettfahrer auf dem Zug der wahren Opfer. Entschädigungen werden gezahlt, aber eben nur den Toten des Tages. Hass brandet auf. Wut angesichts der Verursacher der Katastrophe. Chalandon führt hier die Ausbeutung der Kumpel ins Feld, die der Gefahr zu trotzen haben, damit die Zechenbetreiber im Reichtum baden. Der Atemhauch tiefer Ungerechtigkeit durchweht das Buch. Als Michel beschließt, seine Heimat zu verlassen, gibt ihm der Vater noch eine letzte Botschaft mit auf den Weg.

„Michel, räche uns an der Zeche.“

Hier erweitert Sorj Chalandon den Erzählraum um die Dimension Rache. Ein Erbe, das Michel in Paris verdrängt. Er heiratet, lebt ein normales Leben und doch merkt man ihm an, dass die Traumatisierung tiefer sitzt, als er es wahrhaben möchte. Andenken in einer Garage zeugen vom Verlust. Ein Altar für seinen Bruder entsteht und eine Suche nach den Schuldigen der Katastrophe setzt im Verborgenen ein. Als Michels Frau stirbt gibt es kein Halten mehr. Er kehrt zurück in die Heimat. Er hat einen Plan. Er hat sogar ein Ziel. Den Hauptverdächtigen, der damals für alles verantwortlich war.

Am Tag davor von Sorj Chalandon - AstroLibrium

Am Tag davor von Sorj Chalandon

Wir sind auf seiner Seite. Das hat der Autor geschafft. Wie könnten wir auch anders fühlen? Michel steht uns nahe. Der Verlust seines Bruders hat unser Lesen geprägt. Er wurde nicht nur um eine Zukunft, sondern auch um die Ehre betrogen, offizielles Opfer des Unglücks zu sein. Rache. Was liegt näher? Michel ist jetzt 57 Jahre alt. Grauhaarig und unbekannt in der Heimat. Zu viel Zeit ist vergangen. Vieles ist vergessen. Auch die Katastrophe von einst ist nur noch ein Mahnmal. Nicht mehr. Wir kennen die Menschen dieses Ortes, ihre Vergangenheit und die Zukunftslosigkeit unter der die Region leidet. Und genau hier schlägt Michel zu. Punktgenau. Er nimmt Rache.

Aus dem Bergarbeiter-Roman wird schlagartig ein brillanter Justiz-Roman, der es schafft, die Atmosphäre der Kohle-Region in den Gerichtssaal zu transportieren. Es ist die Aufarbeitung einer Rache. Die Abrechnung mit dem scheinbaren Täter, aus der im Verlauf des Prozesses jedoch die Aufarbeitung der Katastrophe wird. Wo ist Schuld zu suchen? Wo wird man sie finden? Wer hat das Recht zu rächen? Und nicht zuletzt die Frage, was „Am Tag davor“ geschah, zieht uns den Boden unter den Füßen weg. Hier sitzen wir bei den Beobachtern des Prozesses und wissen nicht, wie wir urteilen sollten. Wir wissen nichts. Nur, dass wir keine Opfer und keine Täter erkennen. Die Grenzen in dieser Bewältigungsgeschichte verschwimmen. Und das auf eine intelligent-emotionale Art und Weise, die lange im Gedächtnis bleiben wird.

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Am Tag davor von Sorj Chalandon

Facettenreich und unvergesslich schreibt uns Sorj Chalandon seinen Roman ins Herz. „Am Tag davor“ sollte von Buchhändlern mit einer Grubenlampe versehen und ganz besonders im sogenannten Ruhrpott ganz vorne auf den Highlight-Tischen liegen. Der Roman ist eine Liebeserklärung an einen Menschenschlag und Berufszweig, von dem man sich in den letzten Jahren immer mehr verabschieden musste. Ihr Leben und ihr Leiden, ihre Traditionen und die stoische Schicksalsergebenheit stehen hier wie ein Standbild für eine fast vergangene Epoche echter Arbeiter. Werte und Normen, Freund und Feind, Gefahr und Genuss gehen Hand in Hand durch einen wahrhaft großartigen Roman. Montan-Literatur. Tiefgang verspricht Schürfrechte an einem Buch, in dem ab einem bestimmten Punkt kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Lesen!

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Am Tag davor von Sorj Chalandon

Am Tag davor von Sorj Chalandon / dtv / dt. von Brigitte Große / 320 Seiten / 23 Euro

Wilde Freude von Sorj Chalandon - AstroLibrium

Wilde Freude von Sorj Chalandon

Der neue Chalandon: „Wilde Freude“ – hier geht´s zur Rezension…

14. Juli von Éric Vuillard – Paris im Taumel der Revolution

14. Juli von Éric Vuillard - Astrolibrium

14. Juli von Éric Vuillard

Wir schreiben den 14. Juli 1789. Wir befinden uns in Paris und stehen unbeteiligt vor den Toren der kleinen Bastion, liebevoll auch Bastille genannt. Die kleine und ziemlich unbedeutende Festung war eigentlich als Teil der Stadtbefestigung geplant, hatte acht Zinnentürme und wurde im Laufe der Zeit von der immer weiter ausufernden Metropole einverleibt. So nutzte man sie als Gefängnis, in dem sich jedoch wenig prominente und zahlungskräftige Gefangene befanden. Die Haftbedingungen waren bescheiden, brutal und angsteinflößend. Die Wachmannschaft bestand aus Invaliden und Veteranen, was eigentlich zur Verteidigung der kleinen Festung völlig ausreichen sollte. Unter normalen Bedingungen. Die jedoch waren am 14. Juli 1789 nicht gegeben. Keineswegs.

Ich war erst vor kurzer Zeit hier und wusste wohl, was auf mich zukommt. Es war das fulminante Hörspiel „Brüder“ nach dem Revolutionsroman von Hilary Mantel, das mich auf die Ereignisse an der Bastille vorbereitet hatte. Die Französische Revolution hatte sich tief in mir verankert. Die Ursachen und Wirkungen des Aufstandes hatten mir die Augen geöffnet, wie umfassend die Erschütterungen waren, die eine ganze Nation bis zum heutigen Tage prägen sollten. Der Hochadel agierte fortan im wahrsten Sinne des Wortes kopflos, Könige und Königinnen legten sich unter die Guillotine und wurden mit einem konsequenten Schnitt zur Abdankung gezwungen. Ein komplexes und kaum zu entwirrendes Netz aus Ursachen, Wirkungen, Strömungen und Verwerfungen hatte zum großen Umsturz und zu einem Erdbeben für die europäischen Monarchien geführt.

14. Juli von Éric Vuillard - Astrolibrium

14. Juli von Éric Vuillard

Ich war also im Bilde. Ich fühlte mich bestens informiert. Und ich war auf der Hut, als ich mich jetzt lesend vor der Bastille einfand und auf die Ereignisse des Tages wartete. Und doch zweifelte ich sehr daran, dass mir Éric Vuillard in seinem neuen Roman „14. Juli“ etwas erzählen konnte, dem ich zuvor keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Es sind schmale 136 Seiten, die er sich selbst gönnt, um einen so bedeutenden Tag in der Weltgeschichte zum Erzählraum zu machen. Das sieht gegenüber Hilary Mantels Epos „Brüder“ mehr als bescheiden aus. In der Kürze liegt jedoch manchmal die Würze und Vuillard hatte mich ja bereits mit der „Tagesordnung“ vollkommen überzeugt. Ich blieb gespannt und vertraute mich dem Erzähler an, der nicht viel Raum benötigt, um Räume voller Tiefe zu erzeugen.

So stand ich also vor der Bastille und war bereit für den 14. Juli. Was mir jedoch auf den folgenden 136 Seiten zustoßen sollte, damit hatte ich nicht gerechnet. Vuillard erzählt nicht die Geschichte der Französischen Revolution. Er führt keine prominenten Redner ins Feld, die durch eloquente Appelle, den Volkszorn kanalisierten. Er streift die Ursachen für die Revolution und degradiert mich zum namenlosen Teil der Masse. Die Perspektive schlägt unmittelbar und mit grandioser Wucht zu. Vuillard macht mich zum Augenzeugen der ganz kleinen Verwerfungen, der banalen Ungerechtigkeiten und der Verschwendungssucht, die in den Adelsfamilien grassierte. Er lässt mich Paris riechen und schmecken, er lässt mich hungern und leiden, er macht mich arbeitslos oder zum einfachen Handlanger, der seine Familie nicht ernähren kann. Er lässt Wut und Hass in mir aufkommen. Er macht seine Leser zum Pulverfass der Revolution.

14. Juli von Éric Vuillard - Astrolibrium

14. Juli von Éric Vuillard

Danton, Robespierre, Marat oder Camille Desmoulins spielen keine Rolle. Dieser Roman benötigt keinen intellektuellen Brandbeschleuniger. Das erzeugt Vuillard in uns. Er führt uns durch ein Paris, in dem wir an allen Ecken und Kanten fühlen, was gerade aus den Fugen gerät. Er macht uns zu Wegbegleitern der ganz kleinen Leute, die sich nicht mehr zu helfen wissen. Er lässt Gerüchte aufkommen, bewegt die Masse, weil sie sich von selbst bewegt und verteilt Waffen, die eigentlich keine sind. Er hebt Anonyme aus dem Status der Namenlosigkeit heraus. Er verleiht ihnen in den kurzen Momenten, die sie aus der Masse hervorstechen, eigenes Leben. Sie gleichen Eintagsfliegen. Ihre Geschichten sind zu klein, um in Erinnerung zu bleiben.

Und doch gelingt es dem französischen Schriftsteller auf den wenigen Seiten des Romans, genau diesen namenlosen Helden der Geschichte einen kurzen Auftritt in der Weltgeschichte zu verschaffen. Hier wird Vuillard detailverliebt. Jedes Massenteilchen, das er hervorhebt, wird in Kleidung, Alltagsberuf und Herkunft genau beleuchtet, bevor es im Trubel des Chaos plötzlich erlischt. Er wirft Namen in den Raum, die zuvor noch keine Erwähnung fanden. Er verleiht der Masse ein Gesicht und lässt sie unkoordiniert handeln. Wie ein Schwarm, der nur seinen Instinkten folgt, zieht sie die Schlinge enger um das Symbol der Unterdrückung. Die Luft wird eng in der Bastille. Der Sturm fegt los.

14. Juli von Éric Vuillard - Astrolibrium

14. Juli von Éric Vuillard

Der 14. Juli ist ein brillant erzählter Roman, der einen besonderen Sog entfaltet. Es ist nicht die große Politik, die hier in den Mittelpunkt drängt. Es ist der unterernährte, schlecht gekleidete und ungerecht behandelte kleine Mann und die kleine Frau von der Straße, die sich hier zum Volksaufstand erheben. Es sind Stuhlverleiherinnen, Metzger, Prostituierte, Musiklehrer, Dachdecker, Handlanger, Bäcker, Kleinkriminelle, die durch die Straßen ziehen. Sie alle versammeln sich vor der Bastille. Was dann folgt, stammt nicht aus strategischen Plänen großer Denker. Es ist die Masse, die erobert und Rache nimmt. Das Ende ist uns bekannt. Die Bastille fällt, mit ihr das Königreich und dann die Anführer des Aufstandes. Die Revolution fraß ihre Kinder. Éric Vuillard jedoch schreibt ein anderes Ende. Eines, das uns unvermittelt und emotional bewegt.

Wir folgen einer Frau. Acht Monate nach dem Sturm auf die Bastille. Sie ist auf der Suche nach einem der vielen namenlos gebliebenen Helden. Éric Vuillard sei Dank, ist uns dieser Vermisste ganz kurz begegnet. Er sagt uns mehr, als alle Prominenten. Wir sind ihm näher, weil er für einen ganz kurzen Moment seine Jackenknöpfe ins Licht der Weltgeschichte gehalten hat. Vuillard beschreibt den Mikrokosmos Revolution und geht dabei im Kern seiner Geschichte weiter, als es dieses Buch erwarten ließ. Spätestens, wenn wir am Tag nach der Erstürmung der Bastille den Papierregen sehen und uns die Gefangenenregister vorstellen, die vom Volkszorn vernichtet werden, denken wir auch an andere Revolutionen, denken wir an STASI-Archive, die ihren Niederschlag fanden. Der „14. Juli“ ist eine Revolution der Perspektive auf die Revolution. Lesenswert.

14. Juli von Éric Vuillard - Astrolibrium

14. Juli von Éric Vuillard

14. Julivon Éric Vuillard / Matthes & Seitz Berlin / aus dem Französischen übersetzt von Nicola Denis / 136 Seiten / gebunden / 18 Euro

Der Krieg der Armen von Éric Vuillard - AstroLibrium

Der Krieg der Armen von Éric Vuillard

Ein Buch für eine Stunde – Eine Geschichte fürs ganze Leben!

Der Krieg der Armen – Eric Vuillard, Matthes & Seitz Berlin, 16 Euro, 64 Seiten, aus dem aus dem Französischen brillant übersetzt von Nicola Denis