Vorsicht. Ich schicke dieser Rezension eine Triggerwarnung voraus, weil ich selbst in bestimmten Lebensphasen einen großen Bogen um Bücher mache, die sich in ihrem Kern mit dem Thema Demenz auseinandersetzen. Alzheimer nennt sich die besondere Ausprägung der Störung des menschlichen Gehirns, in dessen Folge die Betroffenen in zunehmender Vergesslichkeit, Orientierungslosigkeit und Verwirrtheit versinken. Es war mein Vater, der mir von jener heimtückischen Krankheit geraubt wurde. Tief in sich und eine nicht nachfühlbare Welt entrückt, verabschiedete sich zuerst sein hellwacher Geist und dann schließlich auch der gesamte Organismus. In der Literatur findet man oftmals die eher skurrilen Momente einer Demenz wieder, in denen die Vergesslichkeit beginnt, dem Opfer erste lustige Streiche zu spielen. Groß ist die Versuchung, die Krankheit als Kulisse für rührende Familiengeschichten zu verwenden und sie damit gänzlich aus der Realität zu entheben. Die Wahrheit ist härter. Um sie geht es in guten und empathisch verfassten Romanen, in denen alle Aspekte der Demenz thematisiert werden, in denen man den Erkrankten näher kommt und in der eigenen Hilflosigkeit abgeholt wird, die im Alltag zur bestimmenden Größe wird. Ich wurde nämlich vom eigenen Vater vergessen, während ich versuchte ihn zu pflegen. Und genau an dieser Stelle warne ich davor, im Lesen unvorbereitet auf ein Thema zu stoßen, das Wunden gerissen hat.
„ENTENBLAU – Eine Geschichte von Lilia„ ist ein solches Buch. Und nicht nur das. Es handelt sich hier auch noch um ein Bilderbuch, mit dem man unsere jüngsten Leser mit einem Themenbereich konfrontieren kann, den ihnen selbst die eigenen Eltern nicht erklären können. Ich weiß, wovon ich rede. Mir fehlten damals solche Bücher. Mir fehlte diese Chance, meine Kinder langsam darauf vorzubereiten, dass ihr geliebter Opa bald nicht mehr wissen würde, wer da überhaupt vor ihm steht, wie seine Enkel heißen, und was er mit ihnen anfangen sol. Mir fehlte die Möglichkeit, ihnen mit Bilderbüchern ganz sanft zu erklären, dass sich ihr eigener Großvater in ein Kleinkind verwandelte. Und mir fehlte die Hilfestellung, zu erklären, dass dieser Zustand unumkehrbar ist, egal, wie oft man mit ihm redet, welche Musik man ihm vorspielt, oder wie oft man ihn später, als es nicht mehr anders ging, im Pflegeheim besuchte. „Warum? Er erkennt uns doch gar nicht.“ Darf man einem Kind diese Frage verübeln? Nein. Hätte ich damals schon die Geschichte von Lilia gehabt, es wäre ein wenig leichter gewesen. Entenblau vielleicht.
Sind Sie noch da? Danke. „Entenblau“ von Lilia ist eine facettenreich angelegte und doch minimalistisch erzählte Geschichte von augenscheinlichen Gegensätzen, von tief empfundener Freundschaft und Liebe, von Fürsorge und vom Vergessen. Wann treffen wir in freier Wildbahn auf eine Ente und ein Krokodil, die auf einen langen gemeinsam erlebten Lebensweg zurückblicken können? Wann haben wir je von einem Kroko-Baby gehört, das einsam und verlassen von einer Ente gefunden und quasi adoptiert wurde, an „entenkükenstatt“ angenommen sozusagen? Wann durften wir je in der Erinnerung eines heranwachsenden Krokodils miterleben, wie es alles von einer Ente beigebracht bekommt? Nie zuvor ist mir das in einem liebevoll illustrierten Bilderbuch begegnet. Im Buch und im wahren Leben erreicht auch diese Geschichte ihren Wendepunkt, als das Krokodil – jetzt ausgewachsen und stolz auf die Vergangenheit – feststellen muss, dass seine in die Jahre gekommene Entenmama ihre Erinnerungen verliert… Alles verblasst. Das wundervolle Entenblau der Vergangenheit beginnt zu schwinden…
Was im Bilderbuch ohne jeden Schnickschnack und Ablenkung – sozusagen „en point“ – illustriert und erzählt ist, lässt uns als Vorlesende und Mitlesende viel Raum, um unsere Kinder an die Hände zu nehmen und durch die Geschichte zu führen. Es ist die ungewöhnliche Beziehung zwischen Ente und Krokodil, die wir erklären können. Wir können hervorheben, wie unterschiedlich beide sind. Wir dürfen Vergleiche ziehen, weil es bei Adoptionen bei Menschen ja auch so ist. Und wir können die Entenmama loben, weil sie das kleine Krokodil einfach Krokodil sein lässt, ohne es zu verbiegen. Lilia lässt nichts aus, selbst der abzuwischende Krokodilhintern spielt eine Rolle. Als die alte Ente dann im Vergessen versinkt, werden die Rollen getauscht. Das Krokodil übernimmt. Die Verantwortung wird unmittelbar spürbar. Es gibt keine Ausreden. Nein. Die Fürsorge ist dem einst kleinen Krokodil, das nun so erwachsen ist, von der Entenmama in die Wiege gelegt worden. Jetzt spielt auch der Entenpopo eine große Rolle. Hygiene ist wichtig bei Demenz.
Wer nun denkt, das harmlos wirkende Bilderbuch „Entenblau„ würde uns jetzt ins Leben zurückgehen lassen, sieht sich getäuscht. Hier wird im Klartext illustriert und erzählt. Hier kommt der Aspekt zum Tragen, der die Angehörigen von Erkrankten voller Frustration verzagen lässt. Die Ente hat plötzlich Angst vor dem Krokodil und weiß nicht mehr, wer vor ihr steht. Ja, das haben wir erlebt. Das in diesem Buch so klar zu sehen und so deutlich vor Augen geführt zu bekommen, ist mutig und aufrichtig zugleich. Nein, an einer Demenz ist nichts lustig, es gibt keine Schmunzelmomente, nur Angst, Sorgen und Mitgefühl. Und dann treibt mir diese Geschichte endgültig die Tränen in die Augen, weil mir das Krokodil zeigt, wie ich mit der Enttäuschung zurechtkommen könnte, nicht mehr erkannt zu werden. Ja, die Ente in diesem Buch ist anders, als wir Enten kennen. Sie hat einen blauen Schnabel und blaue Flossen. Sie hebt sich so deutlich ab, wie es unsere Eltern und Großeltern tun. Sie ist eine blaue Ente und sicher bekannt wie jener sprichwörtliche bunte Hund. Und nur diesen besonderen Enten ist es vergönnt, mit den eigenen Angehörigen so umzugehen, dass sie ihre Eigenständigkeit niemals verlieren. So war mein Vater. Für mich und für seine Enkelkinder. Hätte ich dieses Buch damals schon gehabt, es wäre mir ein wichtiger Ratgeber gewesen, ohne je Ratgeber sein zu wollen.
Es sind nur 46 Seiten, die ein Leben verändern können. Es ist eine Geschichte, die aus Empathie zu bestehen scheint. Sie ist Lehrmeister und Spiegel, Wegweiser und im entscheidenden Moment befreiende Stütze. Diese Geschichte verlangt nichts von uns, aber sie gibt unendlich viel. Sie nimmt die Menschen ernst und schenkt besonders den Opfern von Demenzerkrankungen eine würdevolle Rolle in dieser Erzählung. Und keine Sorge. Diese Geschichte schreckt nicht ab. Das tun die Geschichten, die verharmlosen und die lustigen Momente suchen. Sie helfen nicht, weil im Moment der Erkenntnis der Spaß verschwindet und die Skurrilität einer heillosen Angst weichen muss. Nein, es ist Entenblau. Es ist diese besondere Beziehung, die uns vorbereitet ohne neue Angst zu schüren. Das Krokodil zeigt einen Weg. So schwer er auch ist, so wenig glücklich man am Ende des Buches vor dem letzten Bild sitzt. Es ist einer der aufrichtigsten Momente in einem Kinderbuch, den ich je erleben durfte, weil er nicht verlogen ist. Ein Buch nicht nur für Angehörige von Erkrankten. Ein Buch ganz besonders für Eltern und Kinder, die ihr Herz auf dem rechten Fleck tragen. Ein schlichtes und doch gewaltiges Bilderbuch, das uns auf ein Vergessen vorbereiten kann, das uns selbst, unsere Familie, aber auch Freunde und Bekannte treffen kann. Eine empathische Investition in die Zukunft.
Wer neben „Entenblau“ als Kinderbuch gerne einen Roman lesen würde, den ich guten Herzens empfehlen kann, dann greifen Sie zu „Der vergessliche Riese„ von David Wagner. In meiner Rezension schrieb ich:
David Wagner gelingt mit seinem Roman ein glaubwürdiger Grenzübertritt in die Denkwelt eines Alzheimerpatienten. Er entwickelt eine Perspektive, die zeigt, wie ein Mensch im Vergessen sogar vor unliebsamen Erinnerungen geschützt wird. Eine Sicht, die vielleicht schwer nachzuvollziehen ist. Und doch erscheint der vergessliche Riese in seiner Welt seltsam entrückt, befreit vom Alltäglichen und frei von Verpflichtungen. Ein Biotop des Vergessens umgeben von Menschen, die vom Erinnern geplagt sind, damit leben müssen, dass jeder Besuch schnell vergessen ist und Fragen in Endlosschleifen wiederholt werden. Hier verliert nicht der Kranke seine Identität. Es ist das Umfeld, das verblasst. Ein Kreislauf dem sich dieser Roman intensiv widmet. (weiterlesen)
Ich erinnerte mich an meinen vergesslichen Riesen, fühlte im Buch die persönliche Betroffenheit des Autors und die autobiografischen Züge seiner Vater-Sohn-Geschichte, sowie die befreiende Wirkung des Schreibens und Lesens. Diese beiden Bücher haben die Gabe zu versöhnen, zu heilen, schützen und vorzubeugen. Sie als Buchtandem zu sehen, also als Grundlage des gemeinsamen Erlesens beider Geschichten für jüngere und ältere Lesende, kann in außergewöhnlichen Situationen einen unglaublichen Schub und Energie freisetzen, die ohne diese Bücher kaum vorhanden wäre. Letztlich sind es Geschichten für die Menschen in unserer Mitte, die sie sofort vergessen würden, wenn man sie ihnen vorlesen oder erzählen würde. Daran sollte man immer denken. Immer.
Ein persönliches (versöhnliches) Ende.
Das Krokodil in Entenblau hat recht. Die Entenmama hat viel vergessen, aber sie ist immer noch da. Mit ihr zu reden, zu singen und gemeinsame Ausflüge zu machen, sie zu streicheln und spüren zu lassen, dass sie nicht allein ist, ändert vielleicht nichts an der Krankheit. Aber es ändert etwas am Wohlbefinden der Erkrankten. Und nie, nie, nie, niemals darf man selbst vergessen, dass tief im erkrankten Menschen drin alles da ist, was wichtig ist. Es kann nur nicht mehr abgerufen werden. Mein Vater lag am Ende in einem Pflegeheim. Nicht ansprechbar. Mit leerem Blick. Keine Reaktion. Alles Reden half nichts. Dachte ich. Kein Erkennen. Kein Erinnern. Nichts. Eine Hülle. Ich ging auf Tuchfühlung. Hielt seine Hand, sprach und versuchte es mit Musik. Für mich erfolglos. Für ihn? Das war immer eine bohrende Frage. Eines Tages fragte ich im Heim, ob es erlaubt sei, meinen Bordercollie mitzubringen. Vater liebte Hunde. Und was geschah? Mein Hund legte seine Schnauze in die Hände meines Vaters und blieb so. Und was sagt der Mann, der seit Jahren geschwiegen hatte, der mich nicht mehr erkannte und nicht wusste, wo er sich befand?
„Arndt, ich kann mich doch hier nicht um einen Hund kümmern.“
Es ist jedem selbst überlassen zu analysieren, wie viele kognitiv verankerte Fakten in diesem Satz verborgen sind. Es ist jedem selbst überlassen, darüber nachzudenken, was dieser Satz in mir auslöste und was er mir heute bedeutet. Ich will mit diesem sehr persönlichen Erlebnis nur verdeutlichen, dass man nie aufgeben darf zu hoffen. Es war der letzte Satz meines Vaters, zwei Jahre vor seinem Tod. Er war ein großes Geschenk und noch so viel mehr…
Danke fürs Lesen.