Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie - Astrolibrium

Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Oh natürlich. Gerade in den letzten Tagen, besonders am Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, las und liest man immer wieder, ob es nicht langsam genug sei. Ob man nicht andere Probleme habe. Ob es nicht an der Zeit sei, das Vergangene ruhen zu lassen. Den Holocaust zu den Akten zu legen. Oh natürlich. Bevorzugt fragen dies die Erben der rechten Ideologie, die heute nur von Hass und Spaltung leben. Jene, die sich als harmlose  Alternative bezeichnen, gegen Flüchtlinge und Migration ins Feld ziehen, und dann in plötzlicher Ermangelung ihrer eigentlichen Kernthemen, für Freiheit und gegen Diktaturen spazieren gehen.

Und genau hier stehe ich auf und halte die Stellung: Nein, es ist nicht genug. Jetzt fragen uns Kinder und Jugendliche, die Montagsspaziergänge erleben: Warum sagen die Leute „Man geht nicht mit Nazis“? Gerade jetzt braucht es Haltung, Meinung und relevante Literatur für Kinder und Jugendliche. Jetzt müssen sie kapieren, dass die ideologischen Wölfe von einst im Schafspelz von heute unterwegs sind, und andere als schlafende Schafe bezeichnen. Darum lese ich. Darum schreiben unsere Schriftsteller und Schriftstellerinnen Gegen das Vergessen und darum wird von mutigen Verlagen verlegt. Schließt euch an. Bewahrt Haltung und helft anderen dabei, sich zu orientieren. Lest und geht raus ins Leben. Erzählt von diesen Geschichten. Das ist meine Message in diesen Tagen. Bringt diese Erzählungen mit in die Schulen, macht sie zur Lektüre in den Fächern, die nicht ausgehöhlt werden dürfen. Ich habe euch vor wenigen Wochen „Dunkelnacht“ von Kirsten Boie ans Herz gelegt. Ich schrieb in meiner Rezension:

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Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Dunkelnacht sprengt den Rahmen eines Jugendbuches. Dunkelnacht fordert viel von seinen Lesern und Leserinnen. Wer verstehen will, muss wissen, wer wissen will muss lesen. Wer liest, wird sich erschrecken, angewidert den Kopf abwenden und sich fragen, wie das nur geschehen konnte. Kirsten Boie hat viele Antworten in diesem Text verborgen. Manche augenscheinlich, andere wieder gut versteckt. Es ist gerade an der Jugend von heute, diese Antworten zu finden, und eigene Antworten für die Zukunft zu entwerfen. Und dann heißt es, dafür einzustehen.

Was in den letzten Kriegstagen in Memmingen geschah, gehört zu den sogenannten Endphasenverbrechen. In einer Phase der Auflösung war alles denkbar und erlaubt. In wenigen Wochen jedoch wäre der Krieg Geschichte. Dann, ja dann wäre doch alles im Lot. Das war die Hoffnung und so sieht heute unser Denken aus. Am Ende des Krieges steht der Frieden. In welchen menschlichen Verwerfungen sich dieser Nichtmehrkrieg allerdings abspielt, wird selten erzählt. „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ bildet hier eine literarische Ausnahme. Kirsten Boie hat keinen Trümmerfrauenroman für Kinder und Jugendliche geschrieben. Sie hat sich nicht ins mehrfach ausgebombte Hamburg hineinversetzt, um den Aufbruch in eine neue Zeit zu erzählen. Nein, Kisten Boie lässt uns eine Trümmerwoche unmittelbar nach der deutschen Kapitulation erleben. Es sind die Tage vom 22. Juni bis zum 29. Juni 1945, die wir an ihrer Seite erleben. Tage, die wir in der Realität niemals erleben wollten. Glaubt mir.

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Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Wer auf der Suche nach altersgerechten Antworten auf die oben genannte Frage ist, warum man nicht mit Nazis spazieren geht, dem sei dieser Roman empfohlen. Ja, zugegeben, es ist auch für 14jährige Lesende harter Stoff, weil Kirsten Boie keinen leichten Weg mit uns geht. Dieses Buch stinkt, es ekelt uns an, wir haben Angst, sehen einer ungewissen Zukunft ins Auge, vertrauen niemandem, sind chancenlos und tragen dabei auch noch eine Vergangenheit in uns, die wir wohl nicht wieder loswerden. Wenn man sich auf diesen Roman einlässt, wird man selbst zum Jugendlichen in einer Stadt, die einer Trümmerwüste gleicht. Die tägliche Versorgung gleicht einem Glücksspiel und ein unbeschwerter Alltag findet nicht statt. Keine Schule, keine Hoffnung, keine Zukunft. So sieht es aus für die Teenager, die uns Kirsten Boie an die Seite schreibt. Da ist der ehemalige Hitlerjunge Hermann, der in den schäbigen Resten einer Uniform die Reste seiner einstigen Autorität zu finden sucht. Sein Vater, Kriegsinvalide, zerstört die Idylle des Friedens und macht aus Hermann einen Jungen, der nur dazu taugt, seinen Vater in der Ruine des Hauses zur Toilette zu tragen. Oftmals zu spät. Alles stinkt. Da bleibt der burschikosen Traute nichts anders übrig, als zu stehlen, um von den Jungs in der Straße wahrgenommen zu werden. Sie, die kaum noch Platz für sich hat, weil doch in der Wohnung der Eltern Flüchtlinge aus dem Osten einquartiert sind.

Da sind Jungs, die auf der Flucht nach Hamburg ihre Geschwister verloren haben. Da wird mit einem Fußball des großen Bruders gespielt, der inzwischen gefallen ist und da sind die amerikanischen Soldaten, die in der Trümmerwüste Patrouille fahren. Nichts in Hamburg fühlt sich normal an, nichts schmeckt nach Frieden. Und über allem hängt der Beigeschmack des verlorenen Krieges. In Hermann toben die Schlachten intensiv, hat er doch so an alles geglaubt, was die Partei und alle ihm vorgebetet haben. Aus seiner Sicht werden wir mit dem Vokabular des Dritten Reichs konfrontiert. Schmarotzer am Volkskörper, Untermenschen, Volkssturm. Schwer zu ertragen. Es ist eine Gruppe, die sich langsam in das neue Leben findet. Mit allen Verletzungen, offenen Wunden in ihren Seelen und in den Seelen ihrer Familien und vor dem Hintergrund einer Stadt, in der man kaum noch überleben kann. Als dann ein Junge zu ihnen stößt, der in keines der Bilder passt, die hier ständig aus dem Rahmen fallen, bricht ein emotionaler Krieg im Frieden aus.  Die letzten Wände beginnen zu wanken. Jakob taucht auf. 

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Es ist dieser Jakob, den gerade jetzt niemand wahrhaben will. Er hat sich in den Trümmern versteckt. Er wurde von den Nazi-Tätern an den Rand einer Gesellschaft gedrängt, die sich als reinrassig bezeichnete. Sein Fehler: Die jüdische Mutter. Hier zeigt sich das Opferbild des Nationalsozialismus in der Trümmerwelt einer Ideologie, die gescheitert ist. An Jakobs Familie zeigt sich die schrittweise Entrechtung und die gnadenlose Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Rassegesetze, Rassenschande und jüdische Versippung lesen sich hier wie Todesurteile. Jakobs Vater stirbt, seine Mutter wird deportiert. Er bleibt zurück. Er macht sich unsichtbar. Fürchtet sich täglich davor entdeckt zu werden und doch treibt ihn der Hunger zurück ans Licht und in die Arme der Jugendlichen, die hier Fußball spielen. Hier zieht Kirsten Boie alle Register der Verdrängung und des Nichtwissens über die Opfer. Hier geht sie mit der Jugend und mit der Geschichte ins Gericht. Wie konnte man nur glauben, wie konnte man nicht sehen… wie konnte man wegschauen… wie konnte man mithelfen… Diese Fragen brennen diesem Roman ihren Stempel auf.

Es ist bewegend, den Weg dieser Jugendlichen zu verfolgen. Es ist erschütternd zu sehen, wie tief Vorurteile und Hass sich verankern können. Es ist grandios zu erkennen, welche Auswege es aus der Ausweglosigkeit gibt. Es macht Mut zu lesen, dass es auch in dunkelsten Zeiten Hoffnung geben kann. Und es ist ein Beispiel für uns alle, nicht zur Seite zu schauen, wenn Menschen ausgegrenzt, beschimpft und verfolgt werden. Kein Grund rechtfertigt das. Weder die Herkunft, noch die Religion, noch Geschlecht der die sexuelle Neigung. Diejenigen, die diesen Hass verbreiten, haben kein anderes Thema. Sie sind klein, wenn sie niemanden finden, den sie zum Underdog machen können. In all ihren Worten schwingt diese Ausgrenzung mit. Die Jugendlichen von heute müssen lernen, was wirklich gesagt wird, wenn die alten Begriffe wieder salonfähig werden. In diesem Roman finden sie Klartext zu damals und damit auch einen Leitfaden für heute. Macht euch eure eigenen Bilder. Lasst nicht zu, dass die Hermanns von heute erneut ihr Unwesen treiben können. Geht euren Weg.

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Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Wer nach diesem Roman immer noch glaubt, alternative Patrioten würden gerade und ausgerechnet gegen eine Diktatur auf die Straße gehen, dem ist kaum noch zu helfen. Wer darüber hinaus auch noch der Meinung sein sollte, Impfgegner hätten das Recht, das nationalsozialistische Kennzeichen für Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 rechtlich als Juden galten, zu tragen, sollte sich einfach überlegen, welche Chancen die Opfer von damals hatten, sich selbst zu retten? KEINE. Es ist die Verharmlosung der Taten der Nazis, es ist das Aneignen eines Opfer-Narratives, das im Moment salonfähig wird. Augen auf.

Heul doch nicht, du lebst ja noch“ – Prädikat besonders empfehlenswert – Ein Buch, das seinen Weg in die Schulen finden sollte, damit nicht wieder Länder in Brand gesetzt werden müssen, bevor man bereit ist, umzudenken. Danke, Kirsten Boie. 

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Blicke ich am Ende dieser Zeilen in die Ukraine, dreht sich mir der Magen um. 

Einer von euch von Martin Suter

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Einer von euch von Martin Suter

Hallo Bücherwelt. Achtung festhalten, es geht diesmal um ein Buch, das genau in die aktuelle Phase einer kritischen Auseinandersetzung mit Literatur passt. Da schreibt ein vom Erfolg verwöhnter Autor aus der Schweiz über einen Fußballer, ohne jemals selbst auf dem Platz gestanden oder Champions League gespielt zu haben. Martin Suter. Da erzählt er von einer lebenden Legende ihres Sports, einem modernen Helden und einer Kultfigur der Fußballszene: Bastian Schweinsteiger. Weltmeister, mehrfacher Meister in nationalen und internationalen Ligen, Pokalsieger und Identifikationsfigur. Allerdings wirklich und weitgehend nur am runden Leder. Hört man Basti Schweinsteiger in seinen Interviews oder als TV-Experten zu, dann fällt einem das Prädikat „eloquent“ für seine Ausdrucksweise, gewählte Satzkonstruktionen oder für die Verwendung von passenden Synonymen eher nicht ein. Wer Basti Fantasti durch seine Karriere beim FC Bayern München gefolgt ist (ICH!), würde ihn angesichts seiner Interviews zu Life & Style eher nicht als belesenen Menschen beschreiben. In der Kategorie Lieblingsbuch klaffen hier deutliche Lücken.

Was haben wir also zu erwarten, wenn ein Nicht-Fußballer einen Kaum-Leser in den Mittelpunkt eines biografischen Romans stellt? Nun, völlig unabhängig von der Qualität der literarischen Begegnung, ganz sicher den kollektiven Aufschrei des Feuilletons. Zu banal, zu flach, zu irrelevant für die heutige Zeit. Zu wenig überprüfbar, nicht an Fakten orientiert und spekulativ und letztlich auch kaum von Interesse für die Leserschaft. Gut, die Frage, wer über was schreiben darf zirkuliert gerade wie ein Damoklesschwert über der Literaturszene und ich als Nicht-Fußballprofi aber Vielleser darf zumindest vielleicht noch über einen Teilaspekt des Buches schreiben. Als männlicher Tennislaie dann aber wohl schon nicht mehr über die zweite Hauptfigur des biografischen Romans, die Frau von Bastian Schweinsteiger, die ehemalige Nummer 1 der Weltrangliste Ana Ivanović. Ich breche allerdings mit den auferlegten Tabus und schreibe als Nicht-Schweizer und Kaum-Fußballer mit wenigen Tenniskenntnissen über genau dieses Buch, weil es mich bestens unterhalten hat. Und erst dann äußere ich Kritik zu: „Einer von euch.“

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Einer von euch von Martin Suter

Als bekennender Fan des FC Bayern München habe ich natürlich eine besondere Affinität zu „meiner“ Nummer 31, Bastian Schweinsteiger. Das macht es dem Buch jedoch nicht leichter, da ich kritisch beleuchte, was ich aus eigener Erfahrung weiß, was ich sah, las und hörte. Ich sah unseren „Schweini“ spielen, sah ihn zweifeln, leiden und jubeln. Ich war im Stadion, wenn er gewann, verlor, gefoult und ausgepfiffen wurde. Ich  war dabei, wenn die Südkurve in Ekstase erbebte, las die bitterbösen Kolumnen, wenn er mal wieder alle Regeln verletzte, feierte unseren blutenden Weltmeister und war am Ende seiner Zeit in München dankbar für eine strahlende Vergangenheit. Was mich am Roman aus der Feder von Martin Suter reizte, war nicht die Decodierung eines Helden oder gar ein Sachbuch zu dieser allzu bekannten deutschen Biografie. Nein, ich wollte mich auf die Sicht Martin Suters einlassen, ungewohnte Perspektiven erlesen und mich in Form von 370 Seiten an meiner Vergangenheit reiben. Natürlich fand ich es mehr als spannend, auf diesem Wege auch Ana Ivanović ein wenig besser kennen zu lernen.

Wenn also Martin Suter das Leben Bastian Schweinsteigers vor uns aufblättert und in der Tiefe des Raums nach wegweisenden Begegnungen und Entscheidungen sucht, in  Zufall und Bestimmung stochert und Bastian selbst in Dialogen zu Wort kommen lässt, dann war ich darauf gefasst, diesem Menschen so zu begegnen, wie ich ihn selbst im Verlauf seiner Karriere erlebt habe. Ein recht typischer Bayer, der nicht dazu neigt, im Stile eines elitären Debattierers Akzente zu setzen. Er spricht und sprach Klartext. Wir können uns von seiner doch eher einfach gestrickten Redegewandtheit als TV-Experte überzeugen und sicher wird im Buch niemand erwarten, dass Martin Suter jetzt und an dieser Stelle einen Sprachhelden aus der Fußballikone machen wird. Der limitierende Faktor „Schweinsteiger“ ist da omnipräsent. Und doch gelingt es dem Erfolgsautor mit seinem Projekt in der Spur zu bleiben. Es ist Lokalkolorit und Münchner Ambiente, das die Seiten durchströmt, es ist ein spürbarer Coming-of-Age-Ansatz, dem er treu bleibt und es sind die Rahmenbedingungen, die nachvollziehbar beschrieben sind. Wem es hier allerdings an philosophischem Tiefgang mangelt, dem sei gerne wiederholt, dass es einen limitierenden Faktor im Projekt gibt. Den Jetzt-Menschen Schweinsteiger, der in seinen Entscheidungen und in seiner Selbstbetrachtung genau so beschrieben wird, wie man dies erwarten durfte und musste.

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Einer von euch von Martin Suter

Martin Suter ist kein Menschen-Tuning-Unternehmen. Er kann nicht mehr aus einer Situation herausholen, als derjenige, den sie betraf, investiert hatte. Entscheidungen im Hause Schweinsteiger wurden mit dem Bauch getroffen. Diskutiert wurde nicht so lange und wenn, dann waren die Entscheidungsparameter zu Beginn der Karriere doch recht überschaubar. Mir gefällt diese Annäherung an den Menschen Schweinsteiger, weil sie eben so authentisch gelingt. Ungekünstelt und nachvollziehbar. Nur so lassen sich jene Schritte, Fluchten und Entscheidungen erklären, die der Sportler später treffen musste, als es schwieriger wurde. Als die Akzeptanz schwand, die Zuneigung in kleinerer Dosis akzeptiert werden musste und die Ikone hinter ihre Kulissen blicken musste. Gelungen ist dieser Spagat. Gelungen sind auch die Aufschläge, die plötzlich einen Tennisball auf dem heiligen Rasen der Fußballgötter einschlagen lassen. Die Perspektive Ivanović ist eine wahre Bereicherung für diesen biografischen Roman. Die wahren Geheimnisse in der Beziehung zweier Weltstars seien ihnen vergönnt. Was Martin Suter sich erdachte oder in welche Bilder er Spurenelemente der Wahrheit integrierte, das mag sein großes Geheimnis bleiben. Oder eben das von Bastian und Ana.

Natürlich ist das ein Fußball-Buch. Ebenso, wie es ein Tennis-Buch ist. Natürlich darf man nicht erwarten, zwei Sportikonen losgelöst von ihren eigentlichen Welten zu erleben. Natürlich ist das eine Lovestory im klassischen Sinn. Es ist schlicht romantisch weil es einfach so romantisch schlicht ist, wie sich diese Wege kreuzen und nicht mehr trennen. Und doch ist es keine Boulevard-, keine Klatschgeschichte, weil es genau dies zuletzt ist, was wir von Martin Suter erwarten dürfen. Vielleicht spielt er dann und wann mit der Wahrheit. Mit den Gefühlen der beiden Menschen, die er hier beschreibt, spielt er nicht. Ein mehr als sympathischer Aspekt am Roman ist, dass wir dieser Geschichte weiterhin folgen dürfen und können. Der Fußballer, der am Ende seiner Karriere sagte „Ich bin einer von euch“ hat sich an sein Mantra gehalten. Er ist verbindlich und stets aufrichtig. Er sagt seine Meinung und zeigt klare Kante. Wenn er mit Frau und Kindern unterwegs ist, erleben wir ihn anders. Fast ungeschminkt, weich, nicht heldenhaft. Wer also nicht gerade die literarische Erleuchtung vor dem Herren erwartet, wird hier sehr gut unterhalten. Was will man mehr? „Einer von euch“ besticht das Publikum und ist Tabellenführer der Bestsellerlisten. (PS. Schweinsteiger war nie Vizemeister…)

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Einer von euch von Martin Suter

Ein kritisches Wort zum Schluss. Was erwartet der Fußballfan von diesem Buch? Das ist eine Frage, die man sich stellen muss und darf. Authentisch soll es schon sein, wenn es den Kern der Biografie betrifft. Der Sport ist messbar, faktischer Rahmen und nicht zu diskutieren. Angesichts der Karriere von Bastian Schweinsteiger ist es daher vorhersehbar und kalkuliert, dass dieses Buch eben genau von den Menschen gelesen wird, denen sein Name etwas sagt. Und unter denen befinden sich Fußballfans, die in und zwischen den Zeilen die schärferen Kritiker sind, als es das Feuilleton je sein kann. Es hat mich sehr gewundert, genau hier auf die zentralen Schwächen des Romans zu stoßen. Wenn ich die Hauptfigur an anderer Stelle als limitierenden Faktor bezeichnet habe, dann ist er in Sachen Fußballsachverstand der wahre Trumpf dieser Biografie. Und doch stockte mein Lesen bei einer Vielzahl von Fehlern im Fußballjargon, die ich mir auch nicht mit der neutralen Herkunft des Schweizer Autors erklären konnte, Wenn ein Basti Schweinsteiger das gelesen hätte, er hätte einigen Begriffen die rote Karte gezeigt.

Ich möchte das belegen, weil es den positiven Gesamteindruck des Buches für mich ein wenig geschmälert hat. Aus dem Suter-Schweini-Dreamteam der Pressekonferenz wird beim Lesen dann doch das Buch Suter, das wie so viele andere Werke im Hause Schweinsteiger nur Zierrat ist.

Zum Fußball-Sachverstand:

Schuhsenkel sind bei mir Schnürsenkel,
Der Spielrand ist mein Spielfeldrand,
Der Schuss ins weite Eck ist eigentlich der Schuss ins lange Eck,
Man wird nicht gegen, sondern für einen Mitspieler eingewechselt,

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Einer von euch von Martin Suter

Der Satz:

Doch dann, endlich, in der achtundsechzigsten Minute
wechselte Völler Schneider durch Schweinsteiger ein.
Zwei Minuten später schoss Basti aufs Tor.

ergibt einwechslungstechnisch einfach keinen Sinn.

Und zu unguter Letzt. Den Lebenshöhepunkt einer Fußballerkarriere mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft so krachend in den Sand zu setzen, indem man die Mannschaft zur „PREISVERLEIHUNG“ antreten lässt, verursachte bei mir Gänsehaut. Hier drängt sich mit der Verdacht auf, dass der eigentliche Trumpf dieses Buches nicht als Trumpf herangezogen wurde. Die Siegerehrung hätte ich mir gewünscht.

Mein Fazit: Ein gelungener Sturmlauf, tolle Tore und ein Trainer, der dem Spiel seinen Stempel aufgedrückt hat. Erst in der Zeitlupe kann man ein paar technische Probleme erkennen, die für ein paar Abseitsentscheidungen verantwortlich waren. Das Publikum auf der Tribüne hat viele dieser Feinheiten übersehen und jubelt immer noch. Schweini Schweini Fußballgott… dröhnt es durchs weite Rund. Abpfiff. Suter raus-Rufe waren vereinzelt zu hören, werden jedoch vom Verein wegmoderiert. Vertrag verlängert…

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Dunkelnacht von Kirsten Boie

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Dunkelnacht von Kirsten Boie

Was geht in einer versierten und etablierten Kinder- und Jugendbuchautorin vor, wenn sie in diesen Tagen, in unserem Land, in diesem gesellschaftlichen Szenario um sich blickt und politische Tendenzen und Automatismen erkennt, die an die Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland erinnern? Was geht in einer Autorin vor, die in ihrem gesamten Schaffen immer wieder an die Jugend der Welt appellierte, niemanden aufgrund seiner Herkunft, seiner Hautfarbe, seiner Religion oder seines Geschlechtes auszugrenzen oder anders zu behandeln? Welche Kriege toben in ihr, wenn sie merkt, dass es gerade jetzt an der Zeit ist, erneut und eindringlich Farbe zu bekennen, Flagge zu zeigen und in aller Deutlichkeit mit ihren Mitteln gegen die Verführung einer Jugend anzukämpfen, die ihr so sehr am Herzen liegt. Was geht da in Kirsten Boie vor?

Man kann es sich ganz gut vorstellen, wenn man ihr aktuelles Buch zur Hand nimmt. Man kommt schnell dahinter, wenn man sich anschaut, mit welcher Verve sie sich einer Zeit angenommen hat, die auch sie nur vom „Hörensagen kennt. Oder sollte man hier besser vom „Verschweigen sagen, weil man der im Jahr 1950 in Hamburg geborenen vielseitig interessierten jungen Frau von einst ihre bohrenden Fragen zur Vergangenheit in Deutschland beharrlich nicht beantwortete? Ja, man spürt sofort, was in der vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin vorgegangen sein muss, als sie in ihren Gedanken die ersten Spuren einer Geschichte aufspürte, die sich zum Ende des Zweiten Weltkrieges im bayerischen Städtchen Penzberg zugetragen hatte. Eine unerzählte Geschichte, die auch im heutigen veränderten Stadtbild kaum Spuren hinterlassen hat. Und doch eben eine Geschichte, die wie kaum eine andere geeignet ist, den Irrsinn einer ideologischen Verblendung aufzuzeigen. Der Titel dieses Buches zeigt, wie sich das Herz verkrampft.

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DUNKELNACHT

Mit diesem Titel werden schon die Weichen gestellt. Kein ausschweifender Roman, keine Geschichte, die nur vierundzwanzig Stunden erzählt und eine ganze Epoche nur als Kulisse missbraucht, keine Dokumentation mit uferlosen Quellenangaben und auch kein Erlebnisbericht aus der Sicht eines Protagonisten. Nein, Kirsten Boie schrieb eine Novelle, in der sie sich als allwissende Erzählerin alle Perspektiven aneignet, Zugänge zu den Gedanken aller Charaktere hat und auf allen Zeitebenen weiß, was passiert war, gerade geschieht und noch passieren wird. Dabei dient ihr eine wahre Begebenheit als Kern einer Erzählung, die sie mit Protagonisten anreichert, die erfunden sind und somit den Zugang zu den Geschehnissen erleichtern. Es ist diese distanzierte Nähe, die aus Zeitgeschichte einen Jugendroman werden lässt, der sich zur Pflichtlektüre für Schüler und Schülerinnen eignet, die im Alter von 15 Jahren sehr gut nachempfinden können, warum diese Geschichte relevant für ihre Gegenwart und Zukunft ist.

Es ist eine Geschichte von Schuld, Verantwortung, Opportunismus (also eine der wissentlichen Mitläufer) und Versagen. Es ist eine Geschichte, die sich in einer Zeit abspielt, in der die Machtstrukturen instabil und die Variablen des Handelns vielfältigst waren. Der Zweite Weltkrieg steht kurz vor seinem Ende. Die Nationalsozialisten sind an den meisten Fronten geschlagen und die Alliierten stoßen gegen Berlin vor. Auch in Bayern warten nun die ehemaligen Anhänger auf ihre Niederlage, ihre Gegner auf ihre Befreiung durch die Amerikaner. Ein größeres Ungleichgewicht der Kräfte ist nur kaum vorstellbar. Niemand weiß, was der morgige Tag bringt. Während man sich in Penzberg mit weißen Fahnen auf eine friedliche Übergabe der Stadt vorbereitet, sind es nicht die amerikanischen Soldaten, die einmarschieren. Es ist die Wehrmacht auf ihrem Weg in die Heimat. Allen Gerüchten und allen falschen Meldungen des Radios zum Trotz wird dieser 27. April 1945 nicht zum Tag der Befreiung in Penzberg. Ganz und gar nicht.

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Hier holt Kirsten Boie nicht weit aus, sie agiert und schreibt präzise an der Timeline der wahren Ereignisse entlang und lässt uns fortan nicht mehr zum Luftholen kommen. Drei Jugendliche stellt sie in den Mittelpunkt ihrer Novelle. Drei Charaktere, die für alle stehen, die damals in Penzberg und an anderen Orten gelebt haben könnten . Es sind Marie, Schorsch und Gustl, aus deren Sicht wir die wichtigen Details erleben. Wobei der Schorsch eher hoffnungsvoll in Marie verliebt ist, während der Gustl das nicht von sich behaupten kann. In diesem Strudel der Gefühle verliert man leicht den Überblick, im Strudel der Geschichte verliert man sich nunmehr plötzlich ganz. Was eben noch in den baldigen Frieden zu münden schien, entpuppt sich nun als das letzte Aufflammen der Macht der Nazis in Penzberg. Nichts spricht mehr von der Übergabe der Stadt an die Eroberer. Jetzt hallen Parolen vom „Halten bis zum letzten Mann“ durch die leeren Straßen. Jetzt soll Geschichte geschrieben werden. Jetzt ist die Endzeit da. Es kommt zur DUNKELNACHT. Und Gustl ist mittendrin im letzten Aufgebot der Nazis. Werwölfe.

Kirsten Boie wertet und bewertet nicht. Sie erzählt und überlässt die Deutungshoheit ihren atemlosen Lesern und Leserinnen. Sie lässt allerdings keinen Zweifel an Wahrheit und Lüge, an Propaganda, Hass und Manipulation. Sie zwingt uns alle sehenden Auges in eine Mordnacht in Penzberg, die kaum vorstellbar ist. Endphasenverbrechen nennt man heute halbjuristisch, was damals nicht nur in Penzberg geschah. In den Wirren der letzten Kriegstage kam es vielerorts zu den wahnwitzigsten Taten der Nazis. Hier führt die Autorin alle psychologischen Parameter ins Feld, die zu den Ausschweifungen und letztlich zu den Morden führten. Angst, Rache, Eifersucht und Endzeitstimmung. Jedes Gefühl für sich schon tödlich genug. Die Kombination in der Dunkelnacht jedoch ist ein tödlicher Mix, dem man nicht entfliehen konnte. Der Ruf des Werwolfs erschallt…

„Hass ist unser Gebet, und Rache ist unser Feldgeschrei.“

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Dunkelnacht von Kirsten Boie

Angesichts der heutigen gesellschaftlichen Entwicklungen, angesichts der Parolen gegen Andersdenkende und der zunehmenden rechten Gewalt in unserer Gesellschaft, sind es gerade diese Geschichten, die in Erinnerung gerufen werden müssen. Es sind jene Ereignisse, die zeigen, wie leicht es Mitläufern gemacht wird, wenn sie das Gefühl haben, nur Befehlen zu folgen. Es sind genau jene wahren Geschichten, die uns heute noch zeigen, wie hilflos man sich in unsicheren Zeit fühlen konnte. Und doch war und ist es möglich, die richtigen Entscheidungen zu treffen, nicht auf der falschen Seite zu stehen, Mensch zu bleiben und nicht willenlos zum Täter oder Mittäter zu werden. Hier geht Kirsten Boie jeden erforderlichen Schritt, den man gehen muss, um uns heute zu erklären, was damals geschah, wie es geschehen konnte und wie nah wir erneut einer Gefahr ausgesetzt sind, rechten Populisten Glauben zu schenken.

Dunkelnacht sprengt den Rahmen eines Jugendbuches. Dunkelnacht fordert viel von seinen Lesern und Leserinnen. Wer verstehen will, muss wissen, wer wissen will muss lesen. Wer liest, wird sich erschrecken, angewidert den Kopf abwenden und sich fragen, wie das nur geschehen konnte. Kirsten Boie hat viele Antworten in diesem Text verborgen. Manche augenscheinlich, andere wieder gut versteckt. Es ist gerade an der Jugend von heute, diese Antworten zu finden, und eigene Antworten für die Zukunft zu entwerfen. Und dann heißt es, dafür einzustehen. Die Mordnacht von Penzberg kostete 16 Menschenleben. Die Spur der Hinrichtungen zog sich durch die ganze Stadt. Dabei gingen den Nazi-Schergen die Bäume für die Erhängung der willkürlich ausgesuchten Opfer aus. Nichts lässt Kirsten Boie im Verborgenen. Klartext ist Synonym für dieses Buch. Die deutsche Geschichte ist nichts für Zartbesaitetes. Das wird in diesem Buch mehr als klar. Dieses Sonnenklare besiegt die möglichen Dunkelnächte.

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Dunkelnacht von Kirsten Boie

Kirsten Boie und Gudrun Pausewang gehen in ihren Geschichten Hand in Hand. „Der einhändige Briefträgervon Gudrun Pausewang beschreibt ebenfalls eines der tragischsten Kapitel in den letzten Kriegstagen. Ich habe dieses Jugendbuch aus gleich mehreren Gründen sehr oft verschenkt. Es ist die Geschichte, die aufrüttelt, es sind die unkalkulierbaren Zeiten, die uns nicht ruhen lassen und es ist die Tatsache, dass diese wundervolle Autorin ihre junge Leserschaft so ernst genommen hat, um ihr eine solche dramatische Geschichte anzuvertrauen. Dieses kraftvolle Vertrauen spüre ich auch bei Kirsten Boie und die Reaktion ihrer Leser und Leserinnen spricht Bände. Ich weise an dieser Stelle auf den „Buchpalast in München Haidhausen hin. Katrin Rüger war in unserer Buchhändlerinnen-Glockenbachwelle zu Gast in einem Gespräch über Buch und die Welt. Hier stellte sie „Dunkelnacht“ als Empfehlung für den Gabentisch vor.

Und nicht nur das. Die Bücherfresser (der Jugendleseclub der Buchhandlung trifft sich wöchentlich als Jugendjury des Deutschen Jugendliteraturpreises) haben nicht nur „Dunkelnacht“ für sich entdeckt, sie haben es rezensiert und Kirsten Boie in einem bewegenden Interview zu dieser Geschichte befragt. Hier findet ihr dieses Gespräch. Und erneut muss ich sagen: Nicht nur das. Derzeit befinden sich ungefähr 50 signierte Exemplare des Buches im Buchpalast. Frei nach dem Motto, wer zuerst kommt, liest zuerst. Ach ja. Sagte ich eigentlich schon: Und nicht nur das? Ich sage es jetzt zur Sicherheit ein letztes Mal: Eines der von Kirsten Boie signierten Exemplare gehört zu unserem Preisausschreiben der Buchhändlerinnenwelle… Wie Ihr das vom Buchpalast gestiftete Buch gewinnen könnt, erfahrt ihr hier

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Dunkelnacht von Kirsten Boie

Der neue Roman von Kirsten Boie ist da…

Was in den letzten Kriegstagen in Memmingen geschah, gehört zu den sogenannten Endphasenverbrechen. In einer Phase der Auflösung war alles denkbar und erlaubt. In wenigen Wochen jedoch wäre der Krieg Geschichte. Dann, ja dann wäre doch alles im Lot. Das war die Hoffnung und so sieht heute unser Denken aus. Am Ende des Krieges steht der Frieden. In welchen menschlichen Verwerfungen sich dieser Nichtmehrkrieg allerdings abspielt, wird selten erzählt. „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ bildet hier eine literarische Ausnahme. Kirsten Boie hat keinen Trümmerfrauenroman für Kinder und Jugendliche geschrieben. Sie hat sich nicht ins mehrfach ausgebombte Hamburg hineinversetzt, um den Aufbruch in eine neue Zeit zu erzählen. Nein, Kisten Boie lässt uns eine Trümmerwoche unmittelbar nach der deutschen Kapitulation erleben. Es sind die Tage vom 22. Juni bis zum 29. Juni 1945, die wir an ihrer Seite erleben. Tage, die wir in der Realität niemals erleben wollten. Glaubt mir. Hier geht´s zur Rezension.

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Im Saal von Alastalo von Volter Kilpi

Im Saal von Alastalo von Volter Kilpi - Astrolibrium

Im Saal von Alastalo von Volter Kilpi

Ihr kennt Domino? In seiner klassischen Variante benötigt man 28 Dominosteine, um das legendäre Legespiel beenden zu können. Auf  Augenzahlen kommt es hier an, und nur, wer passend anlegen kann, darf weitermachen. Ansonsten verzögert sich das Fortkommen und die zusätzlich zu ziehenden Steine erschweren den Sieg. Wer daran den Spaß verliert, kann die Spielsteine aufstellen und den ersten zu Fall bringen. Den sogenannten Domino-Effekt macht man sich gerne auch im Leben zunutze. Fällt der erste Stein und hat man gut aufgestellt, dann ist der Rest eine Kettenreaktion, der man sich nicht in den Weg stellen kann. Hierbei wird eine Kette von Ereignissen ausgelöst, von denen jedes einzelne gleichzeitig die Ursache des folgenden ist. Domino. Es war das Bild dieses Spiels, das mich in einem Roman begleitete, mir zugleich Zugang und Halt verschaffte und mich durchgehend beschäftigte, weil ich viele seiner Elemente im Verlauf einer epischen Erzählung wiederfand.

Im Saal von Alastalo“ von Volter Kilpi kommt in einer prachtvollen Schuberausgabe aus dem Mare Verlag ins Bücherregal. 1066 Seiten plus Anhang und Anmerkungen zur Übersetzung lassen diesen opulenten finnischen Klassiker auf 1135 Seiten anwachsen. Das kann abschrecken. Sollte es aber nicht. Auch, wenn der Roman mit seinen 68 Euro sicherlich so manches Literaturbudget zu sprengen droht, man sollte es sich wirklich gut überlegen, ob man an diesem Prachtstück einfach so vorbeigehen kann. Es ist wahrlich eine Anschaffung fürs Lesen, sorry Leben natürlich. Und beiläufig bemerkt, ich mag es, wenn ein Buch teurer ist, als das Regalbrett auf dem es steht. So sieht Bücher-Lifestyle aus. Doch kommen wir zurück zum Domino-Vergleich aus meiner Einleitung. Nicht ich möchte Euch zum kippen bringen. Es ist der Autor selbst, der sich wahrscheinlich eher unbewusst in einem Bild bewegte, das sich mir hier aufdrängte. Im „Saal von Alastalo“ kommen genau 28 Landbesitzer zusammen, um auf Einladung des Gutsbesitzers und Geschäftsmannes Hermann Matsson über die Anschaffung einer Dreimastbark für die Schärengemeinde zu beratschlagen.

Im Saal von Alastalo von Volter Kilpi - Astrolibrium

Im Saal von Alastalo von Volter Kilpi

Achtundzwanzig Partikularinteressen und Charaktere, Allianzen, eifersüchtige und egoistische Sichtweisen sowie Neid, Missgunst und eindeutige Manipulation gilt es nun richtig zu bewerten, abzuwägen, auszubalancieren und in Einklang zu bringen, um ein höheres Ziel zu verwirklichen. Volter Kilpi erklärt uns nicht nur auf beeindruckende Art und Weise, was das Prinzip der Anteilseignung für die entlegenen Gemeinden und die Geschäftsleute in den Schären bedeutete, er lässt auch das Handelssystem in der Mitte des 20. Jahrhunderts aufleben. Jenes Prinzip der Gewinnmaximierung bei gleichzeitiger Risikominimierung für den Einzelnen hat die Gutsbesitzer dahin gebracht, wo sie heute stehen. Es ist ein ansehnlicher Reichtum, der sie schon jetzt verbindet und doch neidet jeder dem anderen das Schwarze unter dem Fingernagel. Und nun sind sie vereint. Zu Gast beim Erfolgreichsten von ihnen, beim Gutsherren von Alastalo, der es im Saal im Herzen seines Gutes so richtig krachen lässt. Der Raum ist riesig, die Möbel gereichen jedem Schreiner zum Ruhm, die Pfeifensammlung an der Wand ist riesig und edel. Wer würde nicht neidisch reagieren auf das Ansinnen des Herrn von Alastalo, alle Mittel zu bündeln, um mit dem größten Handelsschifff der Schären, der eleganten und schnellen Dreimastbark über die man hier berät, in eine reiche Zukunft zu segeln.

Dominoday in den Schären. Verzeiht mein einfaches Bild für diesen mehr als komplex erscheinenden Klassiker. Ich fühlte mich wohl im Saal von Alastalo. Ich beobachtete die geladenen Gäste, ließ sie mir von Volter Kilpi einzeln vorstellen und genoss den Stil des finnischen Autors. Opulent fabuliert er, beobachtend und lauernd folgt er seinen Figuren durch das Setting seiner einzigartigen Erzählung. Dabei gönnt er sich alle Zeit der Welt, um seine Charaktere, ihre Absichten und verborgenen Hoffnungen zu beschreiben. Hier gönnt er alleine schon Malakias Afrodite Härkäniemi mehr als 100 Seiten, um sich im Regal der prächtigen Pfeifen die passende für diesen Anlass auszusuchen. Hier brilliert Volter Kilpi, weil man schnell merkt, dass es gar nicht um Pfeifen geht, sondern um den Status, den man für sich beansprucht, die Signale die man aussendet und die komplex ineinander greifenden Zahnräder der Schären-Diplomatie der Bauernschläue. So wird aus der Pfeife eine klare Verhandlungsposition, aus den Teppichen auf dem Boden ein Status und aus dem Sitzplatz auf dem gigantischen Sofa die Pole-Position für die bald beginnende Verhandlung.

Im Saal von Alastalo von Volter Kilpi - Astrolibrium

Im Saal von Alastalo von Volter Kilpi

„Mit Barken befährt man Meere und den Atlantik,
aber mit Kähnen Tümpel und die Buchten der Ostsee.“

Das große Denken greift endlich um sich, in jenem Saal, in jenen Tagen und in den versammelten Köpfen. Das braucht seine Zeit, das erfordert Geschick und das braucht Überredungskunst und so wirkt die Szenerie oft wie die großen Epen, in denen es um Thronfolger und zu erobernde Königreiche geht. Es sind die Ritter ihrer eigenen Güter, die hier die Politik für die Zukunft bestimmen. Es sind Hierarchien, die verborgen liegen bis man sie ans Licht zerrt. Nicht der einflussreichste Gutsherr ist auch der reichste. Es ist ein brillantes literarisches Verwirrspiel, dem wir uns ausliefern, wenn wir Volter Kilpi in seinen „Saal von Alastalo“ folgen. Seine Erzählweise entschleunigt den Tag, dämpft die Lautstärke des Alltags-Trubels und sensibilisiert uns für die Feinheiten, die zwischen den Zeilen zu finden sind. Einzig unsere Geduld fordert der finnische Autor ein. Hier, an der Garderobe des Saals von Alastalo sollten wir alles ablegen, was uns belastet. Auf große Fahrt kann man nur gehen, wenn man sich auf alles einlässt. Das haben wir mit den Gästen in diesem Saal gemeinsam.

Erst dann dürfen wir uns vom kleinen Boot ins große träumen. Von der Jacht in die Galeasse. Vom Schoner in die Brigg und zuletzt von der Brigg in die Bark.

„Die Franzosen haben Proust,
die Iren haben Joyce – 
die Finnen haben Kilpi.“

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Im Saal von Alastalo von Volter Kilpi

So bewirbt der Mare Verlag einen Autor, der 1933 finnische Geschichte schrieb, weil er eine finnische Geschichte schrieb. Das wird ihm vielleicht nominell gerecht, schreckt vielleicht aber gerade jene Leserschaft ab, die Marcel Proust einfach für zu elitär und James Joyce für zu schwierig hält. Nichts von beidem ist Volter Kilpi. Sein Schreiben ist nahbar und verständlich. Es ist bildhaft, schön und zeitgemäß schillernd, aber es ist niemals unverständlich, unstrukturiert oder uninterpretierbar. Der Saal von Alastalo hat viel mit der Tafelrunde eines König Artus gemeinsam. Es geht um Gefolgschaft, um die Chancen, die sich nicht immer jedem bieten, und die großen Abenteuer, die man eben nur gemeinsam stemmen kann. Ich fand in diesem Roman keine Länge, ich fand kein unbedachtes Wort und ich fand keine Figur, die man hätte streichen können. Ich fand eine Übersetzung aus der Feder von Stefan Moster, die einem Meisterwerk auch im Duktus unserer Sprache das Höchstmaß an Eleganz und Schlichtheit verliehen hat, die es benötigt, um auf mehr als 1000 Seiten zu fesseln und zu begeistern. Und doch ist es wohl keinem Lesenden möglich, die tatsächlich erzählten sechs Stunden in dieser Zeit zu lesen. Wie hat er das gemacht, der Herr Kilpi…?

„Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“

Antoine de Saint-Exupéry – Die Stadt in der Wüste

Kaum ein Zitat aus berufener Feder passt so gut zu diesem Roman, wie die Worte des Schöpfers unseres kleinen Prinzen. Lade all diese Menschen ein und erzähle ihnen „Im Saal von Alastalo“ von einer Dreimastbark und ihren Möglichkeiten. Lesen…!

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Im Saal von Alastalo von Volter Kilpi

U von Timur Vermes

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U von Timur Vermes

Rucksack eigentlich viel zu schwer.
Zeit knapp, Wochenende vor der Brust.
Termine absagen vielleicht. Ruhe.
Ein Buch wäre gut.
Da? Nee, Drogeriemarkt mit Buchwerbung. 
Falsches Ross, Mann.
Laufschritt. Jetzt.
Büchertempel, endlich.
Hände desinfizierten.

Jeder nur ein Korb, wo sind meine Quadratmeter?

Maske auf, Diskussion aus. Buchblick sondiert die Lage.
Einheitsbrei, Funkelglitzerliteratur. Mainstream.
Erster Blick bleibt hängen. Ungewöhnlich.
Ein Buchstabe – U – geht´s noch?
Timur Vermes. Es klingelt laut im Hinterohr.
Führerrevival, Flüchtlingssatire. 
Er ist wieder da.
Die Hungrigen und die Satten.
Gut. Grandios. Dicke Schinken. Laute Stimme.
Alles, nur nicht gewöhnlich. Aber jetzt?

Fragezeichen im Hirn. 
Ein Büchlein nur. Cover gut. 146 Seiten.
Nichts mehr zu erzählen, der Gute?
Buch auf, Blick rein, Gedanken aus.
Erster Eindruck zählt.

What?
Keine Sätze?
Fragmentarisches Schreiben. Oft ein Wort pro Zeile!
Wer schreibt so? Wer liest das denn?
Stelle mir vor, ich würde so rezensieren.
Ofen aus, Blog zu, Leute weg.
Aber Vermes?
Kurzstrecke statt Marathon. Büchersprint, gehetzt?
Geht nicht. Nichts für mich. Brauche Literatur.

Weiter. Schauen. Eilen.
Blick zurück.
U.
Wo war ich?
Ein Blick rein und dann schon Seite 10?
Story abstrus – oder?
Zwei Menschen – eine U-Bahn.
Eine endlose Fahrt.
Nonstop-Lesen-Fahren-Nonstop.
Zurückbleiben bitte – Assoziationen kommen.
Pendleralltag. Bahn steht, kommt nicht, Verspätung.
Chaos. Stress.
Aber Bahn hält nicht, fährt ewig, keine Bahnhöfe mehr.
Und dann…
Puh. Tempo frisst die Augen auf.
Notbremse zieht nicht.

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U von Timur Vermes

Weglegen. Schnell. Abhauen. Brauch ich nicht.
Buchhändlerinnenaugenbraue zuckt nach oben.
„Gerade für Sie, dachte ich…“
Notbremse ziehen. Meine.
Doch zur Kasse. Schnell – Danke – Sorry – Nein alles gut.
Muss nur lesen. Weg mit mir.
Weit weg. Alles raus. Zurückbleiben bitte.
Fahrschein egal. Lesen. Rhythmus. Neues Gefühl.
Luft? Fehlanzeige. Puls. Fragt nicht.
Rapid-Eye-Reading.
Anrufen zuhause. Vergessen.
Später. Sieht man doch. Geht nicht.
Lesen.
U.
Symbole, Rolltreppe – Schilder – bekannt.
Fahrplan gefressen. Völlig losgelöst.
Mitfahren. Zu schnell. Zu lang.
Unaufhaltsam. Wo geht das Leben hin?
Haaaalt…

Was, wenn…?
Wohin, weil…ß
Wann endlich?
Zwei auf sich gestellt. Panik, Herzfrequenz eskaliert.
Falscher Film?
Falsches Buch?
Nein.
Auslesen, rausspringen auf der letzten Seite.
Heimlaufen. Fahren? Bloß nicht.
Empfehlen? Euch? Lächerlich.
Mein Buch. Finger weg. Mein Puls.
Mein Ende. Nicht Eures. Jeder findet seins.

Vermes.
Gewagt. Pulsierend. Unvergesslich.
Jedermanns?
Jederfraus?
Sicher nicht. Wozu auch?
Meins!
Zuhause. Endlich.
Verschwitzt.
Ausgelaugt.
„Was los?“
Alles gut, nur Ruhe jetzt. Ein wenig.
„Hast Du da?“
Nur ein Buch. Lach.
Brüll.
Nur ein Buch.
Nur.
Nur.
Nu
N
.
.
N U R

Er ist wieder da und Die Hungrigen und die Satten von Timur Vermes

Timur Vermes – Was zuvor geschah, was ich zuvor las, was sich hier so findet:

Er ist wieder da

Es wäre lustig, wenn es nicht so maßlos traurig wäre. Timur Vermes hat ein feines Händchen, wenn es gilt den Finger tief in die Wunden der breiten öffentlichen Meinung zu legen. Er hat mit „Er ist wieder da“ bewiesen, dass seine Utopie eines untoten und wieder auferstandenen Führers Adolf Hitler, (so skurril die Ausgangssituation auch ist), geeignet war, dem Publikum einen literarischen Brocken zum Fraß vorzuwerfen an dem es schwer zu knabbern hatte. Sein Roman war Zerr- und Spiegelbild der Gesellschaft. Er polarisierte und regte zu lautstarken Diskussionen an. Und spätestens mit dem Film zum Buch explodierte das Pulverfass unter dem Schriftsteller, weil man es gewagt hat, die Filmadaption um spontane Realbilder zu erweitern, die beim Dreh entstanden sind. (Hier weiterlesen: die Rezension im Archiv der kleinen literarischen Sternwarte)

Die Hungrigen und die Satten von Timur Vermes

Die Hungrigen und die Satten

Die Hungrigen und die Satten“ ist für die Satten geschrieben. Unter dem schönen Schein unserer Wohlfahrtsgesellschaft sind es die reinen Egoismen, die dieser Roman auf dem Korn hat. Ob wir schon zu satt sind, um die Message zu verstehen? Ob wir in vielen Situationen selbst erkennen, zu was die Abschottung eines Kontinents führt? Ob wir uns selbst dabei ertappen, dass wir uns Angst vor Überfremdung und Islamisierung einreden lassen, während wir gleichzeitig vor dem Fernseher sitzen und Mitleid mit den Menschen empfinden, die schön weit weg von uns ihr Schicksal ertragen? Sind wir zu bequem geworden? Ist unser Ruf #wirsindmehr noch zeitgemäß? All diese Fragen wirft Timur Vermes auf, als würde er uns mit dem Müll unserer Ausflüchte ersticken wollen (Hier weiterlesen: die Rezension in der kleinen literarischen Sternwarte AstroLibrium)