Als der Entschluss feststand, in diesem Jahr das Städtedreieck Amsterdam, Delft und Den Haag in den Mittelpunkt unserer Urlaubsreise zu stellen, begann auch schon die Sichtung meiner literarischen Wegbegleiter. Sehnsuchtsorte und Sehnsuchtsbücher gehen Hand in Hand, wenn die Reisetaschen und Koffer gepackt werden. Museen und Galerien erzählen nicht immer ihre eigene Geschichte. Manchmal ist es ein Roman, der für die Auswahl der Destination verantwortlich ist. Mit dem „Distelfink“ nach Den Haag, „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ nach Delft bringen und das Anne-Frank-Haus in Amsterdam mit dem Buch „Alles über Anne“ besuchen. Entscheidungen, die meine literarische Landkarte schicksalhaft vorbestimmt hatten. So ist das im Lesen.
Und doch drängte sich ein weiteres Buch auf, ohne das man eigentlich gar nicht verreisen darf, wenn man ein Land besucht, das unter dem Meeresspiegel liegt. Mein Eindruck sollte mich nicht trügen, denn schon bei der Ankunft an unserem Ferienhaus standen wir vor einem Deich, der das gesamte kleine Dorf vor dem Wasser beschützte. Sollte er brechen, das war schnell klar, würde es auch nicht reichen, sich aufs Dach zu flüchten. Leben unter dem Meeresspiegel, eine besondere Rahmenbedingung für eine Zeit, die von Entspannung, Kultur und Lebensfreude geprägt sein sollte. „Die Nordsee“ war omnipräsent. Ob direkt am Strand, in Kanälen, Grachten und Wasserwegen, die in der Landschaft tiefe Spuren hinterlassen.
„Die Nordsee – Landschaften, Menschen und Geschichte einer rauen Küste“ von Tom Blass stach aus der Reihe aktueller Neuerscheinungen als Wegbegleiter deutlich heraus. Einen weiteren Reiseführer wollte ich nicht mitnehmen. Ein wissenschaftliches Sachbuch sollte es nicht sein, aber ich wollte mehr über ein Meer erfahren, das im Lauf der Zeit einen Ruf erworben hat, der es rauer, gefährlicher und wilder erscheinen lässt, als es vielleicht wirklich ist. Nein, seichter Badeurlaub mit Bestwettergarantie ist mit der Nordsee nicht drin. Das sieht man deutlich, wenn man sich an unterschiedlichen Stellen der Küste nähert. Besonders bei schlechtem Wetter, wolkenverhangenem Himmel und entsprechender Windstärke zeigt dieses Randmeer, das es sich sehr wohl zu größerem berufen fühlt. Das ist ein Meer. Keine Randerscheinung des Atlantiks. Ein Meer mit der Identität eines Schelfmeeres, das den randlichen Bereich eines Kontinents bedeckt.
Tom Blass erweckt schon auf den ersten Seiten nicht den Eindruck, ein Sachbuch oder eine Meeresreportage verfasst zu haben. In diesem Buch ist Leben drin, es passt sich der Gezeitenlage seines Namensgebers an. Es überflutet mich mit Anekdoten und wasserdichten Geschichten. Es bringt mich den Menschen näher, die im wahrsten Sinn nah am Wasser gebaut haben und es lässt mich in den Phasen der Ebbe im Sediment nach Zeugen der Vergangenheit suchen. Dabei ist das Buch keine Wattwanderung für wasserscheue Landratten. Hier muss man sich schon drauf einstellen, dass einem das Wasser manchmal bis zum Hals steht. Spätestens dann, wenn die Menschen ins Spiel kommen, die von und mit der Nordsee leben.
Spannend wird ein solch umfassendes Werk, wenn man es selbst greifen kann. Ich stand mit dem Buch staunend an unserem Deich, betrachtete das Brassemermeer, als Teil der holländischen Seenplatte über dessen weitläufige Wasserarme die Nordsee in greifbare Nähe rückte. Was mir Tom Blass in diesen ruhigen Momenten meines Lesens über Deiche erzählte, hat mich tief beschäftigt und steht noch immer stellvertretend für die von ihm beschriebene komplexe Welt, in der ich mich befand. Fast schon poetisch erklärte er mir die Poesie dieser Polder. Als gäbe es eine Deichhierarchie bezeichnet man die Schutzwälle je nach ihrer Nähe zum Meer mit eigenen Namen. Der wachende Deich ist der wichtigste, der schlafende Deich sichert ihn in der zweiten Reihe ab und ganz zuletzt, wenn alle Dämme brechen, steht der träumende Deich bereit, sich in die Wellen zu werfen.
Ich freundete mich mit meinem träumenden Deich an. Vertraute ihm. Und las mich an jedem Tag ein wenig tiefer in das wundervolle Buch hinein. Ich habe viel gelernt, bin bestens unterhalten worden und verbinde viele Details mit Ausflügen an die Strände in der näheren Umgebung. Die Magie der alten Seebäder, die Naturbelassenheit einiger menschenleerer Abschnitte und die umtriebige Geschäftigkeit der Hafenstädte zeigten mir viele Facetten eines Meeres, das Lebensader und Lebensgefahr in sich vereint. In den Kapiteln seines Buches lässt Tom Blass die Menschen nicht aus dem Auge, die im Angesicht mit den Nordseewellen lebten, leben und weiterleben werden. Eingriffe in die Natur spielen eine wichtige Rolle in seinem Buch. Der Mensch hat begradigt, dem Meer Land abgewonnen, Wasserwege schiffbar gemacht, Hafenbecken ausgebaggert und in letzter Zeit Windparks mitten im Meer errichtet. Blass stellt Zusammenhänge dar, die mit bloßem Auge nicht sichtbar wären.
Bedrohlich wirkt nicht immer nur die Nordsee. Viel bedrohlicher ist der Mensch, der ihre strategisch wichtige Lage zu nutzen sucht. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass kriegerische Auseinandersetzungen immer zur Folge hatten, dass man die Nordsee im schlimmsten Sinne nutzbar machte. Da wurden im Zweiten Weltkrieg Deiche gesprengt um Landstriche zu überfluten und Gegner zu ersäufen. Da wurde mit dem Leben jener Menschen gespielt, die hier nicht mehr auf dem Trockenen saßen und nicht zuletzt hat man auf dem Meer selbst die ein oder andere große Schlacht ausgefochten. Tom Blass arbeitet viele dieser Facetten so intensiv und unterhaltsam heraus, dass es keine Arbeit ist, dieses Buch zu lesen. Es riecht und schmeckt nach Meer. Es hinterlässt auch nach dem Lesen Gezeitentümpel, die nicht mehr austrocknen. Es bringt Kuriositäten zutage, über die man nur kopfschüttelnd schmunzeln kann und lenkt doch den Blick auf mehr.
Kulturelle Vielfalt, wirtschaftliche Abhängigkeiten im Wandel der Zeit und der ganz normale kleine Mann oder die kleine Frau im Hafen machen dieses Buch fast zu einem Standardwerk dieses Meeres. „Die Nordsee“ hat mir ein Bild vermittelt, das auch nach meiner Heimkehr haften geblieben ist. Es macht mich schon neugierig auf neue Reisen in die Länder, die ihre Küste an die Nordsee anlehnen. Es macht mich aber auch wach für aktuelle Nachrichten, wie sich die Region verändert, welche Pläne man hat, wie ein ewiges Gleichgewicht vielleicht doch aus der Bahn geworfen werden kann und was der Mensch seiner Umwelt durch kleine Eingriffe im Großen antun kann. Dem Mare Verlag ist nicht nur inhaltlich ein maritimer Volltreffer gelungen. Das kleine Buchkunstwerk hat einen Ehrenplatz in meiner Bibliothek und wird sicher erneut mit mir auf Reisen gehen.
Danke an meinen träumenden Deich. Schlaf gut…
Noch mehr Meer bei AstroLibrium. Stecht mit mir in die literarische See.
Pingback: Die Stille des Meeres von Donal Ryan | AstroLibrium