Huhu… wäre es vielleicht erlaubt, Dich ganz kurz zu stören? Nur für einen kleinen Moment? Danke. So wie es aussieht, hast du gerade ein Buch aus der Hand gelegt, um diese Zeilen zu lesen. Das ist mehr als freundlich, da ich ja weiß, wie schmerzhaft eine solche Leseunterbrechung ist. Aber mir ist es sehr wichtig, dass Du Dich für ein paar Minuten auf ein Gedankenspiel einlässt. Ok! Legen wir los… Zeit ist Buch… ich weiß…
Kannst Du Dir vorstellen, dass genau jenes Buch, in dem Du gerade versunken bist, in genau 100 Jahren noch in vielen internationalen Buchhandlungen gekauft oder bestellt werden kann? Ok – gehen wir einfach mal davon aus, dass es im Jahr 2114 noch Buchhandlungen und Bücher gibt… Das macht es ein wenig einfacher.
Also, um es auf den Punkt zu bringen: Wird Dein Lesensabschnittsbegleiter dieser Tage jemals ein Klassiker werden? Wird man in 100 Jahren noch von ihm reden und bei der bloßen Erwähnung des Titels die erlesenen Augenbrauen hochziehen und ganz ehrfurchtsvoll hauchen: „Ja – das muss man unbedingt gelesen haben. Das ist ein absoluter Klassiker?“
Um die Frage punktgenau beantworten zu können, möchte ich ein paar einfache Theorien in den Raum stellen, die einen Anhalt darstellen könnten, was denn einen Klassiker ausmacht. Rein subjektiv natürlich. Mehr darf man nicht von mir erwarten, da ich wohl Literaturliebhaber, aber kein -wissenschaftler bin. Zum Kanonisieren tauge ich wenig!
Was haben die anerkannten Klassiker der Literaturgeschichte gemeinsam? Was verbindet eigentlich „Die Schatzinsel“ mit „Oliver Twist“? Weshalb reihen sich in den Klassikerregalen unserer Buchhandlungen die immer gleichen „Ewigseller“ aneinander? „Die drei Musketiere“; „Moby Dick“; „Krieg und Frieden“; „Der alte Mann und das Meer“; „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“; „20000 Meilen unter dem Meer“; „Der Glöckner von Notre Dame“ oder „Don Quijote“?
Vielleicht lässt sich ihr dauerhafter Erfolg an wenigen Eckpunkten festmachen:
- Zeitlos gültige Botschaft
- Bahnbrechende Erzählweise und Perspektive
- Charaktere, die man niemals mehr vergisst
- Sie vermitteln das Gefühl, dass man sie gelesen haben MUSS
- Ganze Generationen verbinden ihre Jugend mit einem bestimmten Roman
- Ein Klassiker ist polyglott – vielsprachig erobert er die Welt
- Der finanzielle Erfolg ist nebensächlich. Nicht Bestseller werden Klassiker.
- Man liest es 100 Jahre nach seinem Erscheinen immer noch
Hätte man vor langer, langer Zeit einen heranwachsenden Leser gefragt, ob man das Buch, in dem er gerade stöbert – sagen wir mal „Die Schatzinsel“ – noch in 100 Jahren lesen würde, wie hätte wohl seine Antwort ausgesehen? Ganz besonders vor dem Hintergrund, dass viele der heutigen Klassiker in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch als Fortsetzungsgeschichten in Tageszeitungen erschienen. Wer weiß?
Und doch haben sich die Namen einigeger legendärer Protagonisten im kollektiven Lesegedächtnis der Menschheit festgebrannt. Was wäre unsere Literaturliebe ohne den wagemutigen D`Artagnan oder Sam Hawkins? Könnten wir heute lesen, ohne unsere eigenen Jugendvorbilder Tom Sawyer, ohne Angst vor Kapitän Ahab oder dem Bild des tätowierten Queequeg vor Augen? Oder ohne Kapitän Nemo und seine Nautilus?
Was wäre die Jugend vieler Mädchen ohne Heidi, (weltweit anerkannt als Klassiker der Jugendbuchliteratur) und was wären Kriminalromane ohne das leuchtende Vorbild Sherlock Holmes, gäbe es das Gruseln ohne Frankenstein oder Dr. Jekyll und Mr. Hyde? Lesen mit großen Erwartungen ohne den legendären Pip, der immer wieder in modernen Büchern auftaucht (wartet nur auf „Die Seiten der Welt von Kai Meyer“). Was wären wir ohne diese Klassiker?
Und genau da setzt meine Frage wieder ein. Hast Du einen zukünftigen Klassiker in der Hand? Wird man von Deinem Protagonisten noch in 100 Jahren reden, oder ist Dein aktuelles Buch eine wundervolle Zeiterscheinung ohne nachhaltigen Charakter?
Und wenn wir schon dabei sind: Welches Deiner Lebensbücher hat das Zeug zum Klassiker? Ist es nicht ein toller Gedanke, einen Roman am Erscheinungstag gelesen zu haben, der auch in einem Jahrhundert in aller Munde ist? Es wäre wundervoll, Deine Gedanken zu dieser Frage in einem Kommentar zu diesem Artikel zu erfahren. Vielleicht gelingt es uns, aus den zahllosen Romanen der letzten Jahre diejenigen herauszufiltern, die wirklich das Potenzial haben, auch Menschen in ferner Zukunft in ihren Bann zu ziehen.
Lasst einfach Euren „Brain Stormen“ und schaut im eigenen Lebensleseregal nach, denkt dann an eine Buchhandlung in 100 Jahren und stellt Euch vor, wen wir dort in der Kategorie „Klassiker“ neben den oben (natürlich völlig unvollständig und rein subjektiv) aufgeführten Werken wiederfinden könnten.
Eins ist sicher. Ihr habt ihn in der Hand gehabt. Den Klassiker der Zukunft. Ihr habt ihn gelesen – nur die Zeit muss darüber entscheiden, welches Buch dieses Prädikat zukünftig verdient.
Ich verrate Euch meine Lebensbücher mit Potenzial natürlich auch! Versprochen. Denn ich fasse hier Eure wertvollen Meinungen zusammen und dann wissen wir, welche unserer Lieblingsbücher unsere Urenkel noch lesen können! Danke Euch!
Update vom 03. August 2014 nach erster Auswertung (Stand: 108 Kommentare):
Man sollte schon mal ein paar Regalmeter für Joanne K. Rowling reservieren, da ihre legendären Bücher über „Harry Potter„ zu den absolut meistgenannten Kandidaten für den Status „Klassiker des Jahres 2114“ gehören.