Der Clown sagte Nein – Mischa Damjan und Torben Kuhlmann

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Der Clown sagte Nein – Mischa Damjan und Torben Kuhlmann

Es ist schon ein besonderes Jubiläum, das in Zürich gefeiert wird. Der Schweizer Nordsüd Verlag wird sechzig. Sechs Jahrzehnte lang sind Kinder weltweit mit Kinder- und Bilderbüchern aus dieser Kreativschmiede der guten Gedanken aufgewachsen. In aller Munde waren die großen Geschichten, die dem Verlag ihren Stempel aufdrückten und umgekehrt. Der Regenbogenfisch, die Heule Eule, Lars – der kleine Eisbär und nicht zuletzt die legendären Mäusegeschichten aus der Feder von Torben Kuhlmann stehen heute stellvertretend für zahllose Bilderbuchwelten, in denen Klein und Groß im wundervollen Einvernehmen eintauchen können. Zeitlos erfolgreiche, zeitlos relevante Inspirationsquellen für die jüngsten Lesenden und Orte guter Erinnerungen für die älter gewordenen „Kinder“, die heute ihren Kindern mit diesen Büchern eine Freude machen.

Es ist wahrlich der beste Grund, dieses Jubiläum gebührend zu feiern. Wie könnte das besser gelingen, als der Tradition des Verlages zu folgen, einen echten Pionier der Bilderbuchgeschichte ins Feld zu führen und gleichzeitig der Gegenwart die Chance zu geben, uns bei der Neuinterpretation der Geschichte zur Seite zu stehen? Man nehme also das allererste Bilderbuch, das 1961 von der Schweiz aus die Welt eroberte, gönne dem damaligen Verleger Dimitrije Sidanski die verdiente Ehre, die von ihm unter dem Pseudonym Mischa Damjan verfasste Geschichte unverändert zu belassen, und gebe dem grandiosesten Illustrator des Verlages in der heutigen Zeit, Torben Kuhlmann den Auftrag das Bilderbuch neu zu illustrieren. Was dabei herauskommt? Eine Hommage an die traditionellen Bilderbücher aus der Schweiz, die Renaissance einer Geschichte, die niemals an Relevanz für Heranwachsende verliert und ein brillanter Bildersturm für alle Fans von Torben Kuhlmann…! Der Clown sagte Nein wird zur Bilderbuch-Festschrift.

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Der Clown sagte Nein – Mischa Damjan und Torben Kuhlmann

Und nicht nur das. Aus einer gediegenen Festschrift wird eine wahre Streitschrift, weil diese Geschichte von Gegensätzen und Widersprüchen lebt. Und genau das sollte in der Kindererziehung doch immer vermieden werden. Sicherlich im Jahr 1961, als es in den Kinderzimmern deutlich autoritärer zuging, als vielleicht heutzutage. Was wollte man da bitte mit einem renitenten Clown, der sich schon im Buchtitel verweigert? Ist es nicht lehrreicher, irgendeine Geschichte von Jasagern für künftige brave und folgsame Jasager:innen („gegendert“ wurde damals gottlob noch nicht, was auch die Frage nach einer Clownin gar nicht aufkommen ließ) auszuwählen und als Erziehungsmittel in die Hände der auch einst schon gestressten Eltern zu legen? (Man bedenke, die konnten die lieben Kleinen nicht einfach vor einem IPad parken oder in die KiTa bringen.) Was bitte sollte das? Konnte ein junger Verlag mit einer NEINsager-Geschichte überhaupt punkten, geschweige denn überleben? Ja. Es funktionierte…

Diese Geschichte kam an. Sie transportierte Werte und Wertvorstellungen in die guten Stuben von einst und vermittelte das Gefühl, wie wichtig es ist, sich treu zu bleiben und deutliche Grenzen zu ziehen, die man niemals übertreten würde. Das NEIN des Clowns wird hier nicht zur bloßen Verweigerungshaltung. Es ist der wahre Wendepunkt in einer Geschichte, die ohne diese Wende wohl in Selbstaufgabe geendet hätte. Für die wilden 1960er Jahre eine steile These. Zumindest für den Beginn des Jahrzehnts. Präsentiert die Geschichte doch ausgerechnet einen Clown, der sich der Autorität widersetzt und in der Folge seiner Auflehnung auch noch eine kleine Revolution im Zirkus auslöst. Da ist es schon wichtig, sich zu hinterfragen, ob man als Zirkusdirektor und Dompteur eigener Kinder plötzlich infrage gestellt werden möchte. Wer diesen Mut aufbringt, der wird mit Heranwachsenden belohnt, die auch starkem Gegenwind widerstehen können, weil sie wissen, wie man NEIN sagt, wenn das JA viel leichter wäre.

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Worum geht es also in „Der Clown sagte NEIN“? Es geht ganz einfach um Rollen, die Erwartungen, die man an sie knüpft und die wenigen Möglichkeiten, den Grenzen zu entfliehen, die mit diesen Rollenbildern verbunden sind. Der Clown Petronius spürt das deutlich. Jeden Abend. In jener Manege. Bis ihm die Clownsmütze platzt und er mit einem deutlichen NEIN zum Ausdruck bringt, dass es ihm keinen Spaß mehr macht, im Rampenlicht zu stehen und sich allabendlich zum Narren zu machen. Die Reaktionen? Sehr gemischt. Das Publikum lacht und nimmt ihn nicht ernst. Der Zirkusdirektor knallt mit der Peitsche und will wissen, was in den Clown gefahren ist. Die Antwort lautet:

„Ich will Geschichten erzählen!“

Mit einem Clown in der Sinnkrise käme man ja vielleicht noch zurecht. Als sich im Verlauf der Aufführung allerdings alle Zirkustiere weigern, ihre Dressurstücke zu zeigen, wird klar, dass der ganze Zirkus am Scheideweg steht. Hier verläuft die Zirkusrevolution allerdings gänzlich ohne Gewalt. Der inspirierende Funke zündet neue Ideen, die Tiere und der Clown finden zusammen, weil sie jetzt nicht mehr nur die Nummern der Show sind. Mitbestimmung, Selbstwertgefühl und die eigenen Träume beginnen für den Start einer neuen Welt zu sorgen. Und diese neue Welt existiert nicht auf den Trümmern des Zirkusses, sondern ist sogar mit ihm vereinbar. Was für eine Botschaft fürs Leben. Den eigenen Weg zu finden, bedeutet nicht, alles über Bord zu werfen. Neubeginn kann im wahren Leben auch ganz anders aussehen.

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Und nun kommt die zweite Ebene dieses Bilderbuchs zum Tragen. Die Bilder. Hier waren die Illustrationen der Erstausgabe eher abstrakt und unnahbar. Gian Casty galt 1961 als avantgardistischer Glasmaler, seine Bilder wirken jedoch heute wie aus einer Zeit gefallen, die Kinder kaum zu begeistern mag. Torben Kuhlmann hebt dieses Buch auf ein neues Level. Es sind warme, traumhafte und atmosphärische Zirkusbilder, mit denen er sich selbst treu bleibt. Sonst hätte auch der Zeichner Torben Kuhlmann sehr deutlich „NEIN“ gesagt. Von „Lindbergh“ über „Armstrong“, „Edison“ und „Einstein“ bis zu seiner „Maulwurfstadt„, wir haben uns inzwischen tausend Bilder seiner Bilder machen können. Wir wissen, wie er zeichnet, welchen Ausdruck er seinen Figuren mit auf die Reise gibt und wie detailverliebt dieser Künstler ist. Jede Illustration ein echtes Kunstwerk für sich. Im Dialog mit der Geschichte, ein Buchkunstwerk der besonderen Art. Ein Jubiläumsbilderbuch, zu dem man nicht NEIN sagen kann.

Ich schließe mich den Gratulanten an, zelebriere 60 Jahre NordSüd Verlag, weise auf all meine Rezensionen zu Büchern aus dieser Traumfabrik hin und verweise auch an dieser Stelle auf die JubiläumsanthologieBilderBuchBande“ mit mehr als dreißig der besten Geschichten aus sechzig Jahren NordSüd Verlag. Die Buchvorstellung folgt schon sehr bald… Genau hier. Werdet Teil der Bande. 

PS: Dreimal dürft Ihr raten, wer das Cover zur BilderBuchBande gezeichnet hat…

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SEESUCHT von Marlies van der Wel

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SEESUCHT von Marlies van der Wel

Seesuchtsvoll habe ich nach einem Zoom-Meeting mit dem Mixtvision Verlag auf dieses Buch gewartet. Seesüchtig freute ich mich auf den Moment des Eintauchens in einem besonderen Bilderbuch. Inzwischen hat dieses Kunstwerk hohe Wellen in der kleinen literarischen Sternwarte geschlagen. „Seesucht“ von Marlies van der Wel hat mich eingesaugt, meine Wahrnehmung verändert und mich bereichert wieder an Land abgesetzt, wo ich jetzt – festen Boden unter den Füßen – darüber schreiben kann, was ich in diesem Buch erlebt habe. Doch Vorsicht, es kann sein, dass ich zwischendurch immer wieder mal abtauchen muss, um unter Wasser Luft zu holen, damit ich mir hier keine nassen Füße bei der Rezension einfange. Die Seesucht ist einfach zu groß.

Schon beim Lesen des Buchtitels verspürte ich schon tiefe Dankbarkeit. Ich bin literarisch oft „draußen auf See“. Ich bin fasziniert von diesem tiefblauen Element, das unser Leben bestimmt. Zahllose Bücher zu den Themen Meer und Wasser bevölkern meine kleine Bibliothek und vermitteln das Gefühl, eine kleine Aquanautik-Abteilung zu führen. Was ich bisher nicht in Worte fassen konnte, gelingt Marlies van der Wel mit dem Titel ihres Bilderbuchs. Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes „seesüchtig„. Jetzt gibt es endlich ein Wort für die Sehnsucht nach dem Meer. Ein Wort für die tiefe Lust, in die Wellen zu laufen, mich schwerelos zu fühlen, treiben zu lassen, und in der Tiefe nach allem zu suchen, was sich dort verbirgt. Es ist die ungestillte Seesucht, die mich immer wieder in Bücher, an Strände und an Bord von Schiffen treibt.

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SEESUCHT von Marlies van der Wel

Da darf man sich nicht wundern, dass ich in literarische Schnappatmung verfiel, als ich auf diese Neuerscheinung aufmerksam gemacht wurde. Ich jedoch durfte mich wundern, in welche Tiefen mich dieses Buch entführen konnte. In bewegenden Bildern mit minimalistisch erscheinenden, jedoch vielsagenden Texten, erzählt uns die Autorin und Illustratorin die Geschichte von Jonas. Wir lernen ihn im Kinderwagen am Strand kennen, sehen seine ersten, magisch vom Meer angezogenen, Schritte zum Meer und das erste Eintauchen in dem fremden Element. Den großen Augen sieht man die tiefe Begeisterung an, die Schwerelosigkeit umfasst das Kleinkind, doch atmen funktioniert nicht. Im letzten Moment rettet die Mutter ihren kleinen Sohn. Was niemand ahnt. hier beginnt die „Seesucht“ des kleinen Jonas.

In interessanten Zeitscheiben dürfen wir ihm weiter auf der Suche nach seinem Sinn des Lebens folgen. Ob als Acht- oder Achtzehnjähriger, man spürt  dass seine Faszination für das Meer kein Ende findet. Nur sein Ideenreichtum nimmt zu. Es sind Zufallsfunde, die ihm nun dabei helfen, seine Aufenthalte im Meer zu verlängern. Hier erlangt auch der Begriff „Strandgut“ eine neue Bedeutung. Letztlich jedoch scheitern seine Versuche immer wieder. Der dreißigjährige Jonas experimentiert mit einem U-Boot und endlich gelingt ihm eine Tauchfahrt auf Augenhöhe mit den Fischen. Seine Konstruktion ist gewagt und nur ein dummer Zufall beendet das Abenteuer. Die Jahre ziehen vorüber und Jonas sammelt beharrlich Strandgut. Er lässt sich treiben, es sind die Zufälle, die ihn mit neuen Fundstücken versorgen. Die Liebe zum Meer bleibt. Bis wir ihn zuletzt mit achtzig Jahren sehen. Bilder, die wir kaum glauben können. Bilder, die belegen, dass lebenslang geträumte Träume und Visionen real werden können. Wir versinken in großzügigen 78 Seiten eines kleinen Wunders.

SEESUCHT von Marlies van der Wel - Astrolibrium

SEESUCHT von Marlies van der Wel

Marlies van der Wel erzählt mit ihren facettenreichen Mitteln die Geschichte einer wahrhaftigen Bestimmung. Sie erzählt von nicht enden wollender Ausdauer und einer Beharrlichkeit, die ein ganzes Leben bestimmt. Sie malt uns ein Bild des Scheiterns ins Herz und zeigt zugleich, dass Aufgeben für Jonas niemals in Frage kommt. Sie erzählt in Wort und Bild, dass man Lebensziele nicht immer auf direktem Weg erreicht, und in vielen Fragen des Lebens geduldig sein muss. Das Meer steht hier als Sinnbild für das Glück, nach dem wir alle streben. Wenn wir die Flinte ins Korn werfen (oder den Anker über Bord), dann kommen wir keinen Schritt weiter. Und genau hier wird das Buch für Eltern und Kinder oder sogar für Großeltern und das gemeinsame Lesen interessant. Auch wir hatten und haben unsere Träume, auch wir haben ihnen hinterhergejagt, mal mit mehr und mal mit weniger Erfolg. Wenn wir Werte an unsere Kleinen weitergeben möchten, dann sind dies eben gerade Beharrlichkeit und der Wille, nicht aufzugeben.

Was hier „Seesucht“ heißt, trägt für viele Kinder und Jugendliche andere Namen. Der Transfer zu ihren Visionen und Träumen fällt leicht. Vielleicht ist es ihre Sportsucht, die Reitsucht, die Ballettsucht oder einfach die Sucht nach Freiheit. Darüber lässt sich nach diesem aufrüttelnden Bilderbuch trefflich reden. Wovon träumst Du? Was bist Du bereit für Deinen Traum zu investieren, und hast Du die Geduld, es auch auf Umwegen zu schaffen? Die Themen gehen uns nicht mehr aus. Versprochen. Und wenn man es bis hierhin geschafft hat, dann kan man das Strandgut suchen und definieren, was uns helfen kann, Lebensträume zu verwirklichen. „Seesucht“ ist ein Traumbuch. Es sind in erster Linie die faszinierenden und großformatigen Bilder, die uns bestechen. Es sind die Details, die wir in ihnen entdecken. Es ist aber auch ein Muster, das jedem einzeln geträumten Wunschtraum zugrunde liegt, das wir hier auf unser Leben übertragen.

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SEESUCHT von Marlies van der Wel – Mit einem Klick zum Film auf Vimeo

„Seesucht“ ist nicht zuletzt auch der Beharrlichkeit von Marlies van der Wel zu verdanken. Was mit einem Kurzfilm begann, an dem sie viele Jahre gearbeitet hat, ist nun zu einem Buch geworden. Aus „Zeezucht“ oder „Jonas und das Meer“ wird jetzt ein Bilderbuch, das wir jederzeit wieder hervorholen können, wenn uns die Sehnsucht mal wieder packt. Es ist das Strandgut des Lebens, das uns die Autorin überreicht. In der Geschichte finden wir das Muster der Gegenstände, die ans Ufer gespült wurden. Auch wir haben unser Strandgut immer in unserer Nähe. Auch, wenn wir denken, es sei nutzlos und wenig wert, weil es anderen verloren ging. Einen wahren Nutzen zeigt unser Strandgut nur, wenn wir ihn erkennen wollen. Dieses Buch hilft uns dabei.

Das Meer und das Wasser bei AstroLibrium. Dies ist mein Strandgut, das ich mehr als gerne mit euch teilen möchte: Es sind die Bücher, die ich fand.

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SEESUCHT von Marlies van der Wel

Ich habe die Suche niemals aufgegeben, und vielleicht schreibe ich mit 80 Jahren mein erstes Buch. Träumen wird man ja wohl noch dürfen. Das ist der Jonas in mir.

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SEESUCHT von Marlies van der Wel

Einstein von Torben Kuhlmann

Einstein von Torben Kuhlmann - AstroLibrium

Einstein von Torben Kuhlmann – AstroLibrium

Das ist schon so eine Sache mit der Zeit. Mal rast sie davon, mal scheint sie kaum vergehen zu wollen und schleicht sich so dahin. Dann wieder hat man das Gefühl, sie hätte uns weit zurückgeworfen, nur um uns im nächsten Moment wieder in die Zukunft zu katapultieren. Es ist das subjektive Empfinden der Zeit, das uns immer wieder daran zweifeln lässt, ob unsere wertvollen Zeitmesser richtig funktionieren. Eigentlich messen Uhren ja keine Zeit. Sie zeigen sie nur an. Und so leben wir in einem ständigen Kampf zwischen gefühlter und angezeigter Zeit. Ein Kampf gegen Wecker, Normaluhren und Armbanduhren. Ein Kampf, den wir oft verlieren und zu spät zu einem Termin kommen, den wir gefühlt fast pünktlich erreicht hatten. Bei Büchern ist das vergleichbar.

Nehmen wir nur die Werke von Torben Kuhlmann. Seit vielen Jahren begeistert uns der Schriftsteller und Illustrator mit Bilderbüchern, die ihre ganz eigenen Wahrheiten zu erzählen scheinen. Und kaum hat man eines gelesen, wünscht man sich, die Zeit möge im Flug vergehen, bis ein neuer „Kuhlmann“ das Licht der Bilderbuchwelt erblickt. Und dann? Kaum ist es dann angekündigt, zieht sich die Zeit bis zum Erscheinen wie zäher Kaugummi und mag überhaupt nicht mehr vergehen. Während wir eines seiner Bücher lesen, steht sie dann wieder still und wir tauchen ab, während wir das Leben vergessen und  die Zeit verdrängen. Ein paar Tage danach haben wir schon wieder das Gefühl, es seien Jahre vergangen und Torben Kuhlmann habe schon ewig nichts mehr gezeichnet und geschrieben. Ich denke, die Fans des Multitalents kennen dieses Phänomen.

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Einstein von Torben Kuhlmann

Dabei hat sich das Warten immer gelohnt. Von „Lindbergh“ über „Armstrong“ bis zu „Edison“ und der „Maulwurfstadt„. Jedes seiner Bilderbücher stellt ein Highlight in meiner Bibliothek dar. Jedes seiner Werke relativiert populärwissenschaftliche Irrtümer und zeigt auf nachhaltige Art und Weise, warum es nicht immer Menschen waren, die als Pioniere in die Geschichte eingehen sollten. Kuhlmanns Mäuse haben die Welt in Wirklichkeit revolutioniert. Sie waren zuerst auf dem Mond, sie haben den Atlantik vor dem Menschen überflogen, sie haben das elektrische Licht erfunden und wer immer noch daran zweifelt, dem ist auch nicht mehr zu helfen. Es war an der Zeit, dass sich der Mäuse-Visionär endlich mit einem Thema beschäftigt, das uns täglich beschäftigt. Es war an der Zeit, endlich wieder einen echten Kuhlmann in Händen halten zu dürfen. Es ist an der Zeit, „Einstein“ zu feiern..

Zum ersten Mal traut sich Torben Kuhlmann an einen Nobelpreisträger heran. Es ist mehr als gewagt, die Wissenschafts-Geschichte neu zu schreiben. Es ist gewagt, in Bilderbüchern zum Bildersturm aufzurufen, Legenden vom Sockel zu stoßen und diese dann durch Mäuse zu ersetzen. Es ist gewagt, neue Legenden zu erfinden und sich in seinen Büchern derart weit aus dem Fenster zu lehnen. Noch gewagter jedoch scheint es, nun den unangefochtenen Meister der Relativitätstheorie und Nobelpreisträger des Jahres 1921 aufs Korn zu nehmen und ihm eine Maus unterzuschieben. Typisch Kuhlmann, könnte man sagen. Er macht auch vor den Größten der Großen nicht Halt.

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Einstein von Torben Kuhlmann

In „Einstein. Die fantastische Reise einer Maus durch Raum und Zeit“ erleben wir eine Kuhlmann-Maus im Zustand riesiger Vorfreude. Das große Käsefest steht auf dem Plan. Ungeduldig macht sich die Maus im Jahr 1984 zum ersten Mal auf den Weg ins Mäuse- und Käseparadies Bern. Das Warten hatte sich elendig lange hingezogen. Die Zeit vor der riesigen Taschenuhr wollte kaum vergehen und als die Maus endlich in Bern angekommen war, erlebte sie den Schock ihres Lebens. Zu spät. Ein ganzer Tag zu spät. Statt Käse fand sie nur leere Kisten und Hallen vor. Was für ein Schlag in den kleinen Mäusemagen. Wer jedoch Torben Kuhlmanns Mäuse kennt, weiß, dass wir hier nicht am Ende einer Geschichte stehen, sondern gerade an ihrem Anfang. Hier gibt es kein Scheitern, hier gibt es kein „zu spät – Pech gehabt“. Hier gibt es nur den Moment, in dem sich die Maus die Frage stellt, ob sie die Zeit nicht um einen Tag zurückdrehen kann… Ein großes Abenteuer beginnt…

Torben Kuhlmann fabuliert und illustriert erneut auf höchstem Niveau. Er erreicht mit seiner Fantasie eine Zielgruppe, die heterogener und doch geschlossener gar nicht sein könnte. Kinder lassen sich von den warmen Bildern fesseln, Jugendliche sind vom ersten Augenblick durch den wissenschaftlichen Ansatz jenes Bilderbuchs gebannt und Erwachsene erleben ein Wechselbad der Gefühle, wenn sie mit der Mutter aller Fragen konfrontiert werden. „Warum?“ Die Maus erkundet das Geheimnis der Zeit, sie nähert sich experimentell, verstellt Uhren und beobachtet die Konsequenzen. Sie begegnet in Bern einem genialen Mäuse-Uhrmacher, der sie in die Geschichte der Uhren einweiht. Und doch weiß sie, dass es ihr niemals gelingen wird, das Käsefest zu erleben, indem sie die Uhrzeit verändert. Bleibt nur der gewagteste aller Gedanken. Eine Reise durch die Zeit.

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Einstein von Torben Kuhlmann

Torben Kuhlmann spielt mit allen Elementen einer fantastischen und doch auch wissenschaftlich angelegten Geschichte. Seine Ausflüge in die Theorie werden von der neugierigen Maus sofort in die Tat umgesetzt. Hier wird nicht nur gelötet, gebastelt und geschraubt, hier bedient sich die Maus der damals modernsten Technik, um ihren Sprung durch Raum und Zeit wagen zu können. H.G Wells und Die Zeitmaschine hat hier ein neues Mäuse-Level erreicht. Allerdings geht es nicht in die Zukunft. Es geht in die Vergangenheit. Zurück in der Geschichte. Ein Tag nur. Dann. Käsefest. So lautete jedenfalls der Plan. Am Ende der gewagten Reise ist jedoch nichts mehr, wie es zuvor einmal war. Wir schreiben das Jahr 1905 und die Maus ist ratlos, wie es ihr jetzt ohne elektronisches Superhirn gelingen könnte, wieder nach Hause zu kommen. Ganz ohne Computer scheint es unmöglich zu sein.

Jetzt hat uns Torben Kuhlmann genau da, wo er uns die ganze Zeit schon haben wollte. In einer Zeit, in der Wissenschaftler noch selbst denken mussten. In einer Zeit, die die Welt und die Technologie veränderte. In einer Zeit, über die wir heute nur noch staunen können. So öffnet er uns die Pforte zu einem Mitarbeiter des Patentamtes in Bern und verändert den Lauf der Zeit und dieser Geschichte. Die Maus trifft auf einen gewissen Albert Einstein. Torben Kuhlmann hat sich das gut ausgedacht. Er hat seine Geschichte brillant umgesetzt. Sein Mix aus wissenschaftlicher Geschichte und absolut an den Haaren herbeigezogener Mäuse-Legende ist faszinierend und brillant zugleich.

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Einstein von Torben Kuhlmann

Wir gehen ihm erneut auf den Leim und landen in seiner literarischen Mäusefalle. So kann es doch gewesen sein. Warum eigentlich nicht?. Das klingt so logisch und wir kennen ja schon Mäuse, die auf dem Mond waren. Herrlich, wie es ihm erneut gelingt, uns eine Maus auf den Rücken zu binden. Seine Bilderbücher regen dazu an, sich in der Folge des Lesens und Staunens mit der Materie auseinanderzusetzen. Im Anhang findet sich ein atmosphärisch gestalteter Sachbuchteil zu Albert Einstein und zur Zeit. Lehrreich und interessant. Dieses Bilderbuch hat es erneut in sich. Zeitreisen werden intensiv auf den Prüfstand gestellt. Der Wert von Uhren und ihre Geschichte steht im Fokus der Betrachtung und nicht zuletzt öffnen sich Türen zu einer Wissenschaft, die uns immer noch rätselhaft erscheint. Ein Quantensprung für ein Bilderbuch.

Hier ist nichts relativ. Hier ist alles absolut. Absolut Kuhlmann. Jetzt sitze ich vor diesem Buch und wünsche mich in der Zeit zurück, um es erneut lesen zu können. In ein paar Tagen wird es mir wieder so vorkommen, als hätte Torben Kuhlmann schon ewig nichts neues mehr geschrieben. Hach, die Relativitätstheorie der Literatur ist und bleibt ein Buch mit sieben Siegeln Habt einfach Spaß mit „Einstein“…

Einstein von Torben Kuhlmann - AstroLibrium

Einstein von Torben Kuhlmann

Mehr zu Zeitreisen und Albert Einstein findet ihr jederzeit auf AstroLibrium. Ich halte die Zeit für euch an, damit ihr die Buchvorstellungen ganz in Ruhe lesen könnt.

Neues vom Meister-Illustrator zum 60. Geburtstag vom NordSüd Verlag

Der Clown sagte Nein - Mischa Damjan und Torben Kuhlmann - Astrolibrium

Der Clown sagte Nein – Mischa Damjan und Torben Kuhlmann

Der Stein und das Meer

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Der Stein und das Meer

Stell Dir vor, Du musst in Quarantäne und hast keine Bilderbücher zur Hand. Gar nicht schlimm, sollte man meinen! Besonders, wenn die eigenen Kids schon erwachsen sind und Du gar nicht mehr in die Verlegenheit kommst, Dich zum gemeinsamen Lesen mit ihnen zu verabreden. Weit gefehlt. Eine Feststellung, die ich in den letzten Wochen als Literaturblogger gemacht habe. Denn ich habe sie zur Hand. Die illustrierten Bücher für Lesende jeder Altersstufe. Bilderbücher haben einen großen Stellenwert in meinem Leben. Sie sind die Türöffner für ein belesenes Leben, Schlüssel für Schlüsselmomente des gemeinsamen Erlebens und formbare Container für einen Wertevorrat, den man an seinen Nachwuchs weitergeben möchte. Moral-Kapital-Anlagen im allerbesten Sinn.

Gerade jetzt, gerage hier und gerade in schwierigen Zeiten gehören Bilderbücher in jede gut geführte private Bibliothek. Corona-Krise, Viren, Ausgangsbeschränkung, Lockdown, COVID19, geschlossene KiTas und Buchhandlungen. Das sind Schlagworte dieser Tage. Ein Horrorszenario für Eltern, die nun jede Rolle spielen müssen. Nicht nur Freunde und Freundinnen ihrer Kinder sind zu ersetzen, nicht nur Erzieher müssen im privaten Betreuungsprogramm kompensiert werden. Nein, nun ist man plötzlich sogar noch der uneingeschränkt zuständige Unterhaltungsdirektor der eigenen Familie. Wenn man nicht nur auf das Fernsehgerät oder das Internet bauen will und den gemeinsamen Spielen weitere inhaltsvolle Reize beisteuern möchte, ist man gut beraten, Bilderbücher in unmittelbarer Reichweite zu haben.

Der Stein und das Meer - AstroLibrium

Der Stein und das Meer

Tja, und als LiteraturBlogger und Vater erwachsener „Kinder“ kann man aus dem Vollen schöpfen und in kleinen verschworenen Gruppen (WhatsApp) in kleinen Videos Bilderbücher für die Kinder der Mitarbeiter und Kollegen vorlesen. Einerseits kann das eine ganz kleine Entlastung für die Eltern sein, und andererseits ist es eine Möglichkeit, die Rezensions-Exemplare meiner Bilderbuch-Verlage einem Stresstest zu unterziehen. Halten sie, was sie versprechen? Wie kommen sie bei der Zielgruppe an und schaffen sie es, nicht nur für einen kurzen oberflächlichen Moment zu unterhalten, sondern sind sie in der Lage, Impulse zu geben, die vielleicht sogar prägend sein können. So sah sie aus, meine Ausgangslage, als ich mich vom Rezensieren entfernte und plötzlich vor der Kamera saß und Bilderbücher zum Besten gab.

Die Reaktionen auf die Bilder und Geschichten kamen sofort. Sie kamen spontan, ungefiltert und von Grund auf ehrlich. Und so sitze ich nun hier und stelle euch eins dieser „getesteten“ Bilderbücher in der kleinen literarischen Sternwarte vor. Der Stein und das Meer“ aus den kunstvollen Federn von Alexandra Helmig (Text) und Stefanie Harjes (Illustration) ist eine der aktuellen Neuerscheinungen aus dem Hause Mixtvision Verlag, den ich noch im März in München besucht hatte. Hier sprang mir das Buch ins Auge, hier konnte ich nicht widerstehen und nun sollte sich zeigen, ob sich mein Gefühl bestätigen würde, oder nicht. Ja, zugegeben, die Ausgangslage war nicht einfach, aber der Verlag selbst zeigte auf seinem Instagram-Profil, wie kreativ man mit der besonders schwierigen Situation umgehen kann. Das war und ist großes Bilderbuch-Kino…

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Der Stein und das Meer

Der Stein und das Meer ist eine Bilderbuchgeschichte über Sehnsucht, Zeit und Vergänglichkeit. Wir lernen „Sören„, einen kleinen grünen Stein, kennen. Seit ewigen Zeiten ist er auf einem Felsen im Meer gefangen. Er sehnt sich danach, endlich frei zu sein. Er möchte sehen, woher die Dinge kommen, die er täglich auf dem Wasser sieht. Neugier treibt ihn an und doch ist er einfach nur ein Stein. Passiv. Bis ihn ein Sturm in die Fluten wirft und er endlich ganz nah am Strand zur Ruhe kommt. Die Zeit geht nicht spurlos an ihm vorüber. Die Brandung lässt ihn kleiner werden. Die Flut scheint ihn im Lauf der Zeit immer weiter aufzureiben. Viele Menschen ziehen wie Silhouetten an ihm vorüber. Bis er von einem kleinen Mädchen gefunden wird, das „Sören“ gerne mit nach Hause nehmen würde. Ihre Mutter erklärt ihr, was ein wahrer Glücksstein ist und bringt das Mädchen zum Grübeln. Sollte man „Sören“ mitnehmen oder ihn am Strand lassen? Keine leichte Entscheidung und doch eine, die prägend für ein ganzes Leben ist.

Diese Geschichte regt die Fantasie an. Haben Dinge eine Seele? Was ist Zeit? Darf man einfach alles mitnehmen was man findet und darüber bestimmen? Bringt es Glück, seine Heimat zu verlassen und warum wird der Stein in der Brandung immer kleiner? In vielen Facetten bieten sich Anknüpfpunkte für ein gemeinsames Lesen und Leben. Wir erkennen schnell, dass manche Reise genau dort endet, wo sie mal begonnen hat. Und doch war es das Abenteuer wert. Sind wir selbst wie Steine im Strom der Zeit? Und was würden wir gerne sehen und entdecken, wenn wir frei wären. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Dies verdeutlichen auch die Bilder, die den sehnsuchtvoll poetischen Ton des Textes umfließen und die Geschichte zu einem lebendigen Wimmelbild werden lassen.

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Der Stein und das Meer

Ich habe versucht, beim Vorlesen einen zusätzlichen Impuls zu setzen. Die Eltern hatten im Vorfeld kleine grüne Steine vorbereitet, die am Ende der Geschichte zufällig vor den Kindern lagen. Nun sollten sie entscheiden, ob man sie behält oder ihnen ihre Freiheit zurückgibt. Die Reaktionen zeigten, dass „Der Stein und das Meer“ nicht nur ein einfaches Bilderbuch ohne Botschaft ist. Einige Kinder wollten sich nicht von ihrem „Sören“ trennen, da der Stein plötzlich eine eigene Persönlichkeit und eine Geschichte hatte. Andere nahmen ihn mit zu einem Spaziergang und suchten sichere Plätze, weil ein Glücksstein ja nur dort Glück bringt, wo er gefunden werden möchte. Manchmal ist es einfach interessant, den Dingen seinen freien Lauf zu lassen. Kinder können Dinge nicht nur gut verlieren. Sie können Dinge finden und ihnen eine eigene Geschichte im Leben geben. Wie auch immer. „Der Stein und das Meer“ ist ein Bilderbuch mit einer Seele und einem intensiven Innenleben. Wir alle sind „Sören“ und sollten Erfahrungen machen dürfen, die uns auch mal aufreiben und erstmal kleiner werden lassen.

Wort und Bild gehen im Bilderbuch „Der Stein und das Meer“ Hand in Hand. Auch wenn sich die Illustrationen deutlich vom Stil vergleichbarer Geschichten unterscheiden, sind die Collagen und Suchbilder wesentlich für den Erfolg dieser Geschichte. Zeit wird sichtbar und ein Hauch von Surrealität lässt dem Denken in und zwischen den Zeilen der Geschichte viel Freiraum. Und wenn Kinder heute etwas ganz besonders brauchen, dann das: Freiraum und Freestyle im Denken. Versucht es mit eurem Sören

Der Stein und das Meer - AstroLibrium

Der Stein und das Meer

Der Mixtvision Verlag ist immer einen Besuch wert und schon bald geht es hier mit „Vront – Was ist die Wahrheit“ weiter. Es wird dystopisch und brandaktuell…

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Der Stein und das Meer

Rapunzel, lass dein Haar herunter – Francesca Dell´Orto

Rapunzel von Francesca Dell´Orto - AstroLibrium

Rapunzel von Francesca Dell´Orto

Es war einmal. So begannen sie fast alle. Die guten Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm. Und so, wie wir diesen Beginn noch in den Ohren haben, so ist auch das Ende der magischen Geschichten präsent. „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“. Zur Unterhaltung dienten diese Märchen nur in seltenen Fällen. Sie sollten lehrreich sein, mahnend und mit zumeist erhobenem Zeigefinger die jüngsten Leser und Zuhörer auf den richtigen Weg führen. Dazu fragte man gerne nach der letzten Seite nach der Moral von der Geschicht´. Erziehungshelfer in Märchenform. Das hat sich eigentlich wenig verändert, weil auch heutige Märchen Botschaften in sich tragen, die sich spielerisch einprägen und verfestigen sollen. Damals jedoch ging es da ein wenig heftiger und direkter zu.

Von Hänsel bis Gretel, vom Rotkäppchen zum Froschkönig, über Hans im Glück zum Rumpelstilzchen und bis zur Bienenkönigin. Die Liste der Märchen ist lang und wohlklingend. Viele sind uns in guter Erinnerung geblieben, vor einigen fürchten wir uns noch heute. Und, ganz ehrlich: Haben wir sie nicht schon unseren eigenen Kindern mit der Absicht vorgelesen, sie mögen sich schon ein wenig schaudern, wie wir selbst? Im Wald allein mit der eigenen Schwester? Ein Knusperhäuschen und eine Hexe? War da nicht ein uraltes Gruselgefühl in uns verborgen, das wir so gerne weitergeben? Ich bin ganz ehrlich. Ich habe diese Märchen vorgelesen. Aber auch die mit einem Happy End. Jene Märchen, bei denen sich der Held heillos verstrickte und dann doch das Herz der Angebeteten eroberte. Denke ich an solche Märchen, dann denke ich an Haare.

Rapunzel von Francesca Dell´Orto - AstroLibrium

Rapunzel von Francesca Dell´Orto

RAPUNZEL

Wer kennt diese Worte nicht? Rapunzel, lass dein Haar herunter. Wer sieht dabei nicht die wallende blonde Mähne aus dem Turmfenster herabfallen und wer sieht nicht den jungen Prinzen an der Löwenmähne des Mädchens bis in die höchste Turmspitze klettern? Oh ja. Das sind Bilder, die ein Märchen tief in uns eingebrannt hat. Und es ist eine Geschichte, die zwar eigentlich recht schmal daherkommt, es aber faustdick hinter den Märchenohren hat. Der Bohem Verlag scheint sich diesen Märchen verpflichtet zu haben. Hier hat man es nicht aufgegeben, den Klassikern neues Leben einzuhauchen und sie in neuem Licht erstrahlen zu lassen. Das beste Beispiel in diesen Tagen bringt nicht nur alte Erinnerungen zurück, es pflanzt auch neue, weil Francesca Dell´Orto in ihrem aktuellen Bilderbuch die Geschichte auf einzigartige Weise illustriert.

Textlich bleibt man nah am Original. Gertrud Posch und Annabel Lammers gelingt der Spagat zwischen verständlicher Textgestaltung und authentischem Ursprungswerk. Die Geschichte kommt im traditionellen Klang der Gebrüder Grimm daher. Sie ist nicht simplifiziert auf die jüngsten Leser heruntergebrochen. Sie lebt im Sinn der mündlichen Überlieferung und macht Vorleser oder Lesebegleiter zu Vermittlern zwischen der Welt der Gebrüder Grimm und unserer modernen, medial geprägten, Lebenslandschaft. Sie gibt Spielraum für Erklärungen und fordert dazu auf, aktiv gelesen, kommentiert und in den Kontext unserer Zeit eingeordnet zu werden.

Rapunzel von Francesca Dell´Orto - AstroLibrium

Rapunzel von Francesca Dell´Orto

Keine leichte Geschichte für Kinder. Sie warf schon immer Fragen auf. Ein Mädchen, das vom eigenen Vater einer bösen Zauberin versprochen wird, weil ihre eigene Mutter den Heißhunger auf Rapunzeln nicht zügeln kann. Eine Zauberin, die dieses Mädchen wegsperrt und vor den Augen der Welt verbirgt. In der Spitze eines Turms ohne Treppe oder Tür. Nur ein Fenster lässt den Blick nach draußen zu. Und wenn die Zauberin zum unglücklichen Rapunzel wollte, dann sprach sie die magischen Worte „lass dein Haar herunter“ und kletterte am aufgelösten Zopf in die Spitze des Turms. Ein Prinz, der sie dabei beobachtete, die Worte wiederholte und sich in das schönste Mädchen der Welt verliebte. Viele Besuche. Eine ungewollte Schwangerschaft und eine Zauberin, die sich betrogen fühlt.

Ein verstoßenes Mädchen, dem man die Haare abgeschnitten hatte, ein Prinz, der von der Zauberin in eine böse Falle gelockt wird. Sein Sturz aus dem Turm. Die Rache der Zauberin. Mit Blindheit geschlagen irrt der Prinz jetzt durch die Welt. Weinend und jammernd, weil er Rapunzel und das inzwischen geborene gemeinsame Kind verloren hatte. Ja, das wirft Fragen auf. Das kann Ängste erzeugen. Kein leichter Stoff für junge Seelen. Wird man für die Laster der Mutter bestraft? Endet es in einem Gefängnis hoch über dem Boden? Wird man selbst verstoßen und gezeichnet, wenn man Fehler macht und ist der Prinz wirklich verliebt oder nutzt er die Lage des Mädchens aus. Man muss Antworten geben, sonst hängt die Geschichte in der Luft. Aktive Begleitung ist nötig.

Rapunzel von Francesca Dell´Orto - AstroLibrium

Rapunzel von Francesca Dell´Orto

Francesca Dell´Orto bietet ihre visuelle Begleitung an. Sie kleidet das Märchen in ein farbenfrohes und leuchtend helles Gewand. Sie weiß, wie die Geschichte endet und ist in der Lage in ihren Illustrationen den Hauch von Hoffnung zu versprühen, den der Text nicht verspricht. Die Detailverliebtheit der großformatigen Gemälde (sie nur als einfache Illustrationen zu bezeichnen würde ihnen nicht gerecht werden) lenkt unseren Blick auf Pflanzen und Tiere, den Nachthimmel und die Farbenvielfalt des wahren Lebens. Trost und Zuversicht sind Grundlagen dieser Illustrationen. Sie sind Wegweiser eines Happy Ends, das in dieser Form für Märchen absolut außergewöhnlich ist. Hier überschreitet Francesca Dell´Orto die Grenzen, die ihr von einem Bilderbuch gesetzt werden. Was man auf zwei Seiten nicht erzählen kann, lässt sich erweitern. Viele der Bilder können aufgeklappt werden und werden so zu einem vierseitigen Kosmos einer Bilderbuchwelt, die ihresgleichen sucht.

Mit Fug und Recht glauben wir am Ende der Zeile: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“ Vielschichtig ist diese Geschichte zu interpretieren. Das Essverhalten der Mutter, die unstillbare Gier nach Rapunzeln und die Bereitschaft, ein ungeborenes Leben als Entlohnung anzubieten, ähnelt dem egoistischen Bild, dass man das Greifbare dem noch Anonymen stets vorzieht. Der Turm wird für Rapunzel zur Isolationshaft und die Beziehung zum Prinzen ist der einzige Ausweg, der ihr bleibt. Es ist Abhängigkeit in Reinformat, die hier beschrieben wird. Die Verhältnisse kehren sich um, als sie ihm erneut begegnet. Rapunzel, selbst Mutter, frei und selbständig. Er, blind und auf der Suche. Aspekte, die dieser Geschichte Tiefe verleihen. Es ist ein einfaches Märchen. Und doch ist es genau das nicht.

Rapunzel von Francesca Dell´Orto - AstroLibrium

Rapunzel von Francesca Dell´Orto

Rapunzel, lass dein Haar herunter ist eine typische Entwicklungsgeschichte. Sie entwickelt sich sukzessive mit dem Lebensalter und dem Erfahrungsschatz des Lesers. Wenn man dieses Märchen im Abstand von mehreren Jahren liest, erkennt man immer neue Seiten. Die Interpretationen verändern sich, Botschaften werden greifbarer und in den Illustrationen werden Schattierungen sichtbar, die man zuvor nicht wahrgenommen hat. Die wahre Magie dieses Märchens entfaltet sich im gemeinsamen Lesen. Hier sind Vater und Mutter gefordert, Antworten anbieten zu können. Antworten, die der Situation der eigenen Familie entsprechen. Fragen auf- und ernstzunehmen, die ganz sicher von Kindern gestellt werden.

Wie kann man nur sein Kind verschenken? Warum wird Rapunzel weggesperrt? Hat der Prinz sie wirklich lieb? Wo sind Rapunzels Eltern, als sie von der Zauberin aus dem Turm verstoßen wird? Warum sagt sie, dass ihre Kleider zu eng werden? Der Text geht mit ihrer Schwangerschaft nur in dieser Andeutung um. Hier werden wir von einer ganz intensiven Form der kindlichen Neugier herausgefordert. Dem haben wir uns zu stellen. Ein Bilderbuch ist niemals Unterhaltung als Selbstzweck und zum isolierten Zeitvertreib gedacht. Begebt euch nicht in die Turmspitze und lasst Eure Kinder nicht alleine. Lasst Euer Haar herunter und gewährt Euren Kindern ein gemeinsames Erlebnis, auf dem sie lebenslang aufbauen können. Bilderbuchwelten sind gemeinsame Welten.

Rapunzel von Francesca Dell´Orto - AstroLibrium

Rapunzel von Francesca Dell´Orto

Rapunzel, lass dein Haar herunter“ von Francesca Dell´Orto / Bohem Verlag/ Text der Gebrüder Grimm bearbeitet von Gertrud Posch und Annabel Lammers / 52 Seiten / ab 3 Jahren / 22 x 30cm / vollfarbig / Hardcover mit aufklappbaren Panoramaseiten und Prägung auf dem Cover / 24,95 Euro