Es ist schon ein besonderes Jubiläum, das in Zürich gefeiert wird. Der Schweizer Nordsüd Verlag wird sechzig. Sechs Jahrzehnte lang sind Kinder weltweit mit Kinder- und Bilderbüchern aus dieser Kreativschmiede der guten Gedanken aufgewachsen. In aller Munde waren die großen Geschichten, die dem Verlag ihren Stempel aufdrückten und umgekehrt. Der Regenbogenfisch, die Heule Eule, Lars – der kleine Eisbär und nicht zuletzt die legendären Mäusegeschichten aus der Feder von Torben Kuhlmann stehen heute stellvertretend für zahllose Bilderbuchwelten, in denen Klein und Groß im wundervollen Einvernehmen eintauchen können. Zeitlos erfolgreiche, zeitlos relevante Inspirationsquellen für die jüngsten Lesenden und Orte guter Erinnerungen für die älter gewordenen „Kinder“, die heute ihren Kindern mit diesen Büchern eine Freude machen.
Es ist wahrlich der beste Grund, dieses Jubiläum gebührend zu feiern. Wie könnte das besser gelingen, als der Tradition des Verlages zu folgen, einen echten Pionier der Bilderbuchgeschichte ins Feld zu führen und gleichzeitig der Gegenwart die Chance zu geben, uns bei der Neuinterpretation der Geschichte zur Seite zu stehen? Man nehme also das allererste Bilderbuch, das 1961 von der Schweiz aus die Welt eroberte, gönne dem damaligen Verleger Dimitrije Sidanski die verdiente Ehre, die von ihm unter dem Pseudonym Mischa Damjan verfasste Geschichte unverändert zu belassen, und gebe dem grandiosesten Illustrator des Verlages in der heutigen Zeit, Torben Kuhlmann den Auftrag das Bilderbuch neu zu illustrieren. Was dabei herauskommt? Eine Hommage an die traditionellen Bilderbücher aus der Schweiz, die Renaissance einer Geschichte, die niemals an Relevanz für Heranwachsende verliert und ein brillanter Bildersturm für alle Fans von Torben Kuhlmann…! Der Clown sagte Nein wird zur Bilderbuch-Festschrift.
Und nicht nur das. Aus einer gediegenen Festschrift wird eine wahre Streitschrift, weil diese Geschichte von Gegensätzen und Widersprüchen lebt. Und genau das sollte in der Kindererziehung doch immer vermieden werden. Sicherlich im Jahr 1961, als es in den Kinderzimmern deutlich autoritärer zuging, als vielleicht heutzutage. Was wollte man da bitte mit einem renitenten Clown, der sich schon im Buchtitel verweigert? Ist es nicht lehrreicher, irgendeine Geschichte von Jasagern für künftige brave und folgsame Jasager:innen („gegendert“ wurde damals gottlob noch nicht, was auch die Frage nach einer Clownin gar nicht aufkommen ließ) auszuwählen und als Erziehungsmittel in die Hände der auch einst schon gestressten Eltern zu legen? (Man bedenke, die konnten die lieben Kleinen nicht einfach vor einem IPad parken oder in die KiTa bringen.) Was bitte sollte das? Konnte ein junger Verlag mit einer NEINsager-Geschichte überhaupt punkten, geschweige denn überleben? Ja. Es funktionierte…
Diese Geschichte kam an. Sie transportierte Werte und Wertvorstellungen in die guten Stuben von einst und vermittelte das Gefühl, wie wichtig es ist, sich treu zu bleiben und deutliche Grenzen zu ziehen, die man niemals übertreten würde. Das NEIN des Clowns wird hier nicht zur bloßen Verweigerungshaltung. Es ist der wahre Wendepunkt in einer Geschichte, die ohne diese Wende wohl in Selbstaufgabe geendet hätte. Für die wilden 1960er Jahre eine steile These. Zumindest für den Beginn des Jahrzehnts. Präsentiert die Geschichte doch ausgerechnet einen Clown, der sich der Autorität widersetzt und in der Folge seiner Auflehnung auch noch eine kleine Revolution im Zirkus auslöst. Da ist es schon wichtig, sich zu hinterfragen, ob man als Zirkusdirektor und Dompteur eigener Kinder plötzlich infrage gestellt werden möchte. Wer diesen Mut aufbringt, der wird mit Heranwachsenden belohnt, die auch starkem Gegenwind widerstehen können, weil sie wissen, wie man NEIN sagt, wenn das JA viel leichter wäre.
Worum geht es also in „Der Clown sagte NEIN“? Es geht ganz einfach um Rollen, die Erwartungen, die man an sie knüpft und die wenigen Möglichkeiten, den Grenzen zu entfliehen, die mit diesen Rollenbildern verbunden sind. Der Clown Petronius spürt das deutlich. Jeden Abend. In jener Manege. Bis ihm die Clownsmütze platzt und er mit einem deutlichen NEIN zum Ausdruck bringt, dass es ihm keinen Spaß mehr macht, im Rampenlicht zu stehen und sich allabendlich zum Narren zu machen. Die Reaktionen? Sehr gemischt. Das Publikum lacht und nimmt ihn nicht ernst. Der Zirkusdirektor knallt mit der Peitsche und will wissen, was in den Clown gefahren ist. Die Antwort lautet:
„Ich will Geschichten erzählen!“
Mit einem Clown in der Sinnkrise käme man ja vielleicht noch zurecht. Als sich im Verlauf der Aufführung allerdings alle Zirkustiere weigern, ihre Dressurstücke zu zeigen, wird klar, dass der ganze Zirkus am Scheideweg steht. Hier verläuft die Zirkusrevolution allerdings gänzlich ohne Gewalt. Der inspirierende Funke zündet neue Ideen, die Tiere und der Clown finden zusammen, weil sie jetzt nicht mehr nur die Nummern der Show sind. Mitbestimmung, Selbstwertgefühl und die eigenen Träume beginnen für den Start einer neuen Welt zu sorgen. Und diese neue Welt existiert nicht auf den Trümmern des Zirkusses, sondern ist sogar mit ihm vereinbar. Was für eine Botschaft fürs Leben. Den eigenen Weg zu finden, bedeutet nicht, alles über Bord zu werfen. Neubeginn kann im wahren Leben auch ganz anders aussehen.
Und nun kommt die zweite Ebene dieses Bilderbuchs zum Tragen. Die Bilder. Hier waren die Illustrationen der Erstausgabe eher abstrakt und unnahbar. Gian Casty galt 1961 als avantgardistischer Glasmaler, seine Bilder wirken jedoch heute wie aus einer Zeit gefallen, die Kinder kaum zu begeistern mag. Torben Kuhlmann hebt dieses Buch auf ein neues Level. Es sind warme, traumhafte und atmosphärische Zirkusbilder, mit denen er sich selbst treu bleibt. Sonst hätte auch der Zeichner Torben Kuhlmann sehr deutlich „NEIN“ gesagt. Von „Lindbergh“ über „Armstrong“, „Edison“ und „Einstein“ bis zu seiner „Maulwurfstadt„, wir haben uns inzwischen tausend Bilder seiner Bilder machen können. Wir wissen, wie er zeichnet, welchen Ausdruck er seinen Figuren mit auf die Reise gibt und wie detailverliebt dieser Künstler ist. Jede Illustration ein echtes Kunstwerk für sich. Im Dialog mit der Geschichte, ein Buchkunstwerk der besonderen Art. Ein Jubiläumsbilderbuch, zu dem man nicht NEIN sagen kann.
Ich schließe mich den Gratulanten an, zelebriere 60 Jahre NordSüd Verlag, weise auf all meine Rezensionen zu Büchern aus dieser Traumfabrik hin und verweise auch an dieser Stelle auf die Jubiläumsanthologie „BilderBuchBande“ mit mehr als dreißig der besten Geschichten aus sechzig Jahren NordSüd Verlag. Die Buchvorstellung folgt schon sehr bald… Genau hier. Werdet Teil der Bande.
PS: Dreimal dürft Ihr raten, wer das Cover zur BilderBuchBande gezeichnet hat…