Wir schreiben den 14. Juli 1789. Wir befinden uns in Paris und stehen unbeteiligt vor den Toren der kleinen Bastion, liebevoll auch Bastille genannt. Die kleine und ziemlich unbedeutende Festung war eigentlich als Teil der Stadtbefestigung geplant, hatte acht Zinnentürme und wurde im Laufe der Zeit von der immer weiter ausufernden Metropole einverleibt. So nutzte man sie als Gefängnis, in dem sich jedoch wenig prominente und zahlungskräftige Gefangene befanden. Die Haftbedingungen waren bescheiden, brutal und angsteinflößend. Die Wachmannschaft bestand aus Invaliden und Veteranen, was eigentlich zur Verteidigung der kleinen Festung völlig ausreichen sollte. Unter normalen Bedingungen. Die jedoch waren am 14. Juli 1789 nicht gegeben. Keineswegs.
Ich war erst vor kurzer Zeit hier und wusste wohl, was auf mich zukommt. Es war das fulminante Hörspiel „Brüder“ nach dem Revolutionsroman von Hilary Mantel, das mich auf die Ereignisse an der Bastille vorbereitet hatte. Die Französische Revolution hatte sich tief in mir verankert. Die Ursachen und Wirkungen des Aufstandes hatten mir die Augen geöffnet, wie umfassend die Erschütterungen waren, die eine ganze Nation bis zum heutigen Tage prägen sollten. Der Hochadel agierte fortan im wahrsten Sinne des Wortes kopflos, Könige und Königinnen legten sich unter die Guillotine und wurden mit einem konsequenten Schnitt zur Abdankung gezwungen. Ein komplexes und kaum zu entwirrendes Netz aus Ursachen, Wirkungen, Strömungen und Verwerfungen hatte zum großen Umsturz und zu einem Erdbeben für die europäischen Monarchien geführt.
Ich war also im Bilde. Ich fühlte mich bestens informiert. Und ich war auf der Hut, als ich mich jetzt lesend vor der Bastille einfand und auf die Ereignisse des Tages wartete. Und doch zweifelte ich sehr daran, dass mir Éric Vuillard in seinem neuen Roman „14. Juli“ etwas erzählen konnte, dem ich zuvor keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Es sind schmale 136 Seiten, die er sich selbst gönnt, um einen so bedeutenden Tag in der Weltgeschichte zum Erzählraum zu machen. Das sieht gegenüber Hilary Mantels Epos „Brüder“ mehr als bescheiden aus. In der Kürze liegt jedoch manchmal die Würze und Vuillard hatte mich ja bereits mit der „Tagesordnung“ vollkommen überzeugt. Ich blieb gespannt und vertraute mich dem Erzähler an, der nicht viel Raum benötigt, um Räume voller Tiefe zu erzeugen.
So stand ich also vor der Bastille und war bereit für den „14. Juli“. Was mir jedoch auf den folgenden 136 Seiten zustoßen sollte, damit hatte ich nicht gerechnet. Vuillard erzählt nicht die Geschichte der Französischen Revolution. Er führt keine prominenten Redner ins Feld, die durch eloquente Appelle, den Volkszorn kanalisierten. Er streift die Ursachen für die Revolution und degradiert mich zum namenlosen Teil der Masse. Die Perspektive schlägt unmittelbar und mit grandioser Wucht zu. Vuillard macht mich zum Augenzeugen der ganz kleinen Verwerfungen, der banalen Ungerechtigkeiten und der Verschwendungssucht, die in den Adelsfamilien grassierte. Er lässt mich Paris riechen und schmecken, er lässt mich hungern und leiden, er macht mich arbeitslos oder zum einfachen Handlanger, der seine Familie nicht ernähren kann. Er lässt Wut und Hass in mir aufkommen. Er macht seine Leser zum Pulverfass der Revolution.
Danton, Robespierre, Marat oder Camille Desmoulins spielen keine Rolle. Dieser Roman benötigt keinen intellektuellen Brandbeschleuniger. Das erzeugt Vuillard in uns. Er führt uns durch ein Paris, in dem wir an allen Ecken und Kanten fühlen, was gerade aus den Fugen gerät. Er macht uns zu Wegbegleitern der ganz kleinen Leute, die sich nicht mehr zu helfen wissen. Er lässt Gerüchte aufkommen, bewegt die Masse, weil sie sich von selbst bewegt und verteilt Waffen, die eigentlich keine sind. Er hebt Anonyme aus dem Status der Namenlosigkeit heraus. Er verleiht ihnen in den kurzen Momenten, die sie aus der Masse hervorstechen, eigenes Leben. Sie gleichen Eintagsfliegen. Ihre Geschichten sind zu klein, um in Erinnerung zu bleiben.
Und doch gelingt es dem französischen Schriftsteller auf den wenigen Seiten des Romans, genau diesen namenlosen Helden der Geschichte einen kurzen Auftritt in der Weltgeschichte zu verschaffen. Hier wird Vuillard detailverliebt. Jedes Massenteilchen, das er hervorhebt, wird in Kleidung, Alltagsberuf und Herkunft genau beleuchtet, bevor es im Trubel des Chaos plötzlich erlischt. Er wirft Namen in den Raum, die zuvor noch keine Erwähnung fanden. Er verleiht der Masse ein Gesicht und lässt sie unkoordiniert handeln. Wie ein Schwarm, der nur seinen Instinkten folgt, zieht sie die Schlinge enger um das Symbol der Unterdrückung. Die Luft wird eng in der Bastille. Der Sturm fegt los.
Der „14. Juli“ ist ein brillant erzählter Roman, der einen besonderen Sog entfaltet. Es ist nicht die große Politik, die hier in den Mittelpunkt drängt. Es ist der unterernährte, schlecht gekleidete und ungerecht behandelte kleine Mann und die kleine Frau von der Straße, die sich hier zum Volksaufstand erheben. Es sind Stuhlverleiherinnen, Metzger, Prostituierte, Musiklehrer, Dachdecker, Handlanger, Bäcker, Kleinkriminelle, die durch die Straßen ziehen. Sie alle versammeln sich vor der Bastille. Was dann folgt, stammt nicht aus strategischen Plänen großer Denker. Es ist die Masse, die erobert und Rache nimmt. Das Ende ist uns bekannt. Die Bastille fällt, mit ihr das Königreich und dann die Anführer des Aufstandes. Die Revolution fraß ihre Kinder. Éric Vuillard jedoch schreibt ein anderes Ende. Eines, das uns unvermittelt und emotional bewegt.
Wir folgen einer Frau. Acht Monate nach dem Sturm auf die Bastille. Sie ist auf der Suche nach einem der vielen namenlos gebliebenen Helden. Éric Vuillard sei Dank, ist uns dieser Vermisste ganz kurz begegnet. Er sagt uns mehr, als alle Prominenten. Wir sind ihm näher, weil er für einen ganz kurzen Moment seine Jackenknöpfe ins Licht der Weltgeschichte gehalten hat. Vuillard beschreibt den Mikrokosmos Revolution und geht dabei im Kern seiner Geschichte weiter, als es dieses Buch erwarten ließ. Spätestens, wenn wir am Tag nach der Erstürmung der Bastille den Papierregen sehen und uns die Gefangenenregister vorstellen, die vom Volkszorn vernichtet werden, denken wir auch an andere Revolutionen, denken wir an STASI-Archive, die ihren Niederschlag fanden. Der „14. Juli“ ist eine Revolution der Perspektive auf die Revolution. Lesenswert.
„14. Juli“ von Éric Vuillard / Matthes & Seitz Berlin / aus dem Französischen übersetzt von Nicola Denis / 136 Seiten / gebunden / 18 Euro
Ein Buch für eine Stunde – Eine Geschichte fürs ganze Leben!
„Der Krieg der Armen„ – Eric Vuillard, Matthes & Seitz Berlin, 16 Euro, 64 Seiten, aus dem aus dem Französischen brillant übersetzt von Nicola Denis