Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise – Dubois

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise - Dubois - Astrolibrium

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise – Dubois

Der renommierte französische Literaturpreis „Prix Goncourt“ ist ein Prädikat des guten Lesens. So habe ich es bisher empfunden. Hier wird kein Buch mit einem Etikett versehen, dessen Qualität man spätestens dann anzweifelt, wenn man es nicht versteht. Manche Literaturpreise schrecken mich eher ab. Diese Auszeichnung empfinde ich als Brandbeschleuniger für meine literarische Neugier. Und dies nicht grundlos. Bisher hat mich noch kein Preisträger enttäuscht. Ich nenne hier nur Beispiele:

2006 Jonathan Littell – „Die „Wohlgesinnten
2010 Laurent Binet – „HHhH – Himmlers Hirn heißt Heydrich“ – Kategorie Debüt
2011 Alexis Jenni – „Die französische Kunst des Krieges
2016 Leila Slimani – „Dann schlaf auch du
2017 Éric Vuilard – „Die Tagesordnung

Meine guten Erfahrungen mit diesen Preisträgern ließen mich kaum daran zweifeln, auch mit dem Gewinner der renommierten Auszeichnung aus dem Jahr 2019 eine gute Wahl getroffen zu haben. Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise kommt eigentlich wie eine leichte und ziemlich unaufgeregt erzählte Geschichte daher, die bei näherer Betrachtung jedoch alles andere ist, als literarische Meterware nach bekannten Mustern oder bibliophiler Einheitsbrei nach bekannter Rezeptur.

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Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise – Dubois

Jean-Paul Dubois gelingt es, mit einer skurril anmutenden Ausgangssituation seines Romans so viel Neugier zu erzeugen, dass man das Gefühl einfach nicht mehr loswird, das Buch lesen zu müssen, um dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Da sitzt ein Mann in einer Gefängniszelle, dessen Lebenswandel unbescholten ist, der als besonnen und hilfsbereit gilt, der keiner Fliege etwas zu Leide tun könnte und man fragt sich, was ihn hierher verschlagen hat. Wir befinden uns in der kanadischen Haftanstalt von Montreal und lernen Paul Hansen in seinem neuen Domizil kennen. Sechs Quadratmeter, zwei Etagenbetten, zwei Fenster, zwei in den Boden zementierte Hocker, zwei Ablagebretter und ein freistehendes Klo. Condo, so nennt man die Zelle, in der er genau zwei Jahre Haft absitzen muss. Und dies keineswegs allein. Patrick Horton, ein hünenhafter und jähzorniger Hells Angel teilt mit ihm die Luft zum Atmen und den letzten Rest einer nicht vorhandenen Privatsphäre.

Während Jean-Paul Dubois seinen Protagonisten einsperrt, befreit er seine Leser durch das geschickte Öffnen von Erzählräumen, zu denen nur er alle Schlüssel besitzt. Es sind die Innenansichten eines Insassen, aus denen wir seine Freiheit vor dem Urteil erleben dürfen. Dubois faltet die Landkarten der Welt zusammen und fabuliert sich im Verlauf seiner Erzählung in Rückblenden in ein magisches Dreiländereck. Frankreich, Dänemark und Kanada sind die Schauplätze, die wir verstehen und inhalieren müssen, um zu verstehen, warum dieser gutmütige Paul Hansen hier wie ein Schwerverbrecher gehalten wird. Es ist eine Familiengeschichte, die wir uns ganz genau ansehen sollten, bevor wir selbst zu einem Urteil kommen. Es sind die kleinen Geschichten, in die man uns entführt, die dem Mosaik einer Straftat ein Muster verleihen, das greifbar wird.

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Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise – Dubois

Es sind die Menschen. die das Leben von Paul Hansen geprägt haben. Es sind die erlebten und adaptierten Verhaltensmuster seiner Eltern, die seinem Weg Richtung und Wertevorrat mitgegeben haben. Wir lernen den an sich scheiternden Prediger kennen, der seinen Glauben verliert, die Liebe seiner Frau als Verrat empfindet und sich in eine Sucht flüchtet. Sein Vater, ein Däne. Wir lernen die Besitzerin eines Kinos kennen, die sich gegen alle Konventionen stellt und das kleinbürgerliche Frankreich und ihren Mann durch die Auswahl ihrer Filme provoziert. Eine Französin, schillernd schön. Die Mutter. Wir begegnen einer Pilotin, mutig, abenteuerlustig, liebeswütig und selbstlos. Die Frau fürs Leben. Kanadierin, Indianerin. Seine Frau. Die Frau, die ihn verzauberte:

„Meine Frau war der Umhang, der Stab, das Kaninchen und der Hut zugleich. Wie konnte eine Frau zugleich ein Flugzeug fliegen, mich lieben und ihre Hündin retten?“

Und nicht zuletzt ist es eine Hündin, die ihm zeigt, wie selbstlos Liebe ist und wie sehr ein Tier Halt geben kann. Es sind seine Toten, die ihm ihre Geschichte vor Augen führen. Dieser Roman kennt keine Totenruhe. Die Geister seiner Lieben sind an seiner Seite. Omnipräsent. Sie sind keine Alibis für sein Verbrechen. Sie sind Teil der Lunte, die sich niemals entzündet hätte, wäre Paul Hansen kein Unrecht geschehen. Dies ist die große Lehre, die sich von Seite zu Seite immer weiter manifestiert. Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise. Dass man sich dabei in die Quere kommt ist nur allzu logisch. Das Pulverfass explodiert mit fatalen Auswirkungen.

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Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise – Dubois

Dubois brilliert sprachlich, grandios eingefangen von den Übersetzerinnen Nathalie Mälzer und Uta Rüenauver, er besticht mit Bildern voller Lokalkolorit und nimmt seine Leser mit auf eine Reise, die der Zelle ihren klaustrophobischen Sog nimmt. Es ist das Programmkino, dessen schummrige Atmosphäre wir spüren können, es ist eine Kirche in Dänemark, die fast vom Sand verschluckt wurde und deren Turm mit den Dünen zu wandern scheint. Es ist ein Wasserflugzeug, das getragen von indianischen Legenden überall landen kann, wo die Zivilisation unüberwindbare Grenzen gezogen hat. Und es sind die Menschen, die diesen Roman mit ihrer Präsenz bereichern. Es ist die Magie des Arbeitsplatzes, an dem Paul Hansen in den Wahnsinn getrieben wurde. All diese Erzählelemente machen den Roman preisverdächtig und -würdig.

Dies ist ein großer franko-kanadisch-skandinavischer Roman, der nicht durch sein Tempo, sondern durch einen unterhaltsam melancholischen Tiefgang überzeugt. Es ist ein Sittengemälde dreier Länder, eine Charakterstudie ihrer Menschen und ein perfekt in Szene gesetztes Diorama einer Arbeitsumgebung, die einen Menschen mit Haut und Haaren in sich aufsaugt. Das „Excelsior„, die Wohnanlage, deren Hausmeister unser Häftling war, wird zum Sinnbild einer Trauminsel, die zum Horror mutiert. Und wer sich in diesem Roman fühlt, er säße an einem langsam vor sich hinplätschernden Fluss, der wird regelmäßig aufgerüttelt, wenn ein Hells Angel mal eben auf Toilette muss und sich in einen Zustand eruptiver Presswehen begibt…

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Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise – Dubois

Würde man nach einer Überschrift für diesen Roman suchen, ich würde ihn die Geschichte einer Rache nennen. Paul Hansen nimmt keine Rache. Er gönnt sie sich und steht für die Konsequenzen ein. Da kann man wieder einmal sehen, was passiert, wenn ein braver Maschinist das Öl gegen Sand vertauscht und dem Getriebe auf diese Art und Weise den revolutionären Todesstoß versetzt. Hier lernt man, wie komplex man sein Leben und die Leben seiner Vorfahren, Liebsten und Gefährten im Gepäck haben kann und was geschieht, wenn sie gemeinsam eine Entscheidung treffen, die einfach konsequent ist. Lesenswert, liebenswert, leidenswert, empfehlenswert.

Meint übrigens auch Constanze auf Zeichen & Zeiten… 

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„Der Mann im Leuchtturm“ von Erik Valeur

Der Mann im Leuchtturm von Erik Valeur - Astrolibrium

Der Mann im Leuchtturm von Erik Valeur

Stets unverrückt, derselbe Jahr um Jahr,
Manch’ bösen Sturm, manch’ finst’re Nacht hindurch.
Unlöschbar prangt er in der Flammenburg,
Dem ew’gen Lichte gleich vor dem Altar.

Longfellow

Der Mann im Leuchtturm von Erik Valeur - Astrolibrium

Der Mann im Leuchtturm von Erik Valeur

Schönere Worte lassen sich kaum finden, wenn es darum geht, Leuchttürme zu beschreiben. Kontinuität, lebenswichtige Wegweiser und Orientierungshilfen. Einfach Fixpunkte, die in stürmischen Zeiten dafür sorgen, dass man das tosende Meer wieder hinter sich lassen kann um in den sicheren Hafen einzulaufen. Mein Leuchtturmlesen steht als kontinuierliches Projekt genau für diese Stabilität in unruhigen Zeiten. Ich lebe gerne für eine bestimmte Zeit auf einem Leuchtturm und lasse die Stürme an den Ufern meiner kleinen Leseinsel anbranden. Und da ich stets auf der Suche nach Büchern bin, die sich diesen ewigen Lichtzeichen verschreiben, darf es auch nicht überraschen, den aktuellen Roman von Erik ValeurDer Mann im Leuchtturm“ hier zu finden. 

Ich habe Leuchttürme in der Literatur in ihrer metaphorischen Ebene immer auch als Rückzugsgebiete für diejenigen empfunden, die hier leben, das Leuchtfeuer am Leben halten und anderen auf hoher See durch die Signale Halt geben. Ein einsames und zurückgezogenes Leben im engen Rund eines Außenpostens der Menschheit. Ich liebe die Vorstellung, während des Lesens selbst zum Leuchtturmwärter zu werden, in jeder Beziehung der Hektik des Alltags zu entfliehen und doch eine sinnvolle Aufgabe erfüllen zu dürfen. Und ich liebe gute Geschichten, die sich um diese Fixpunkte ranken.

Der Mann im Leuchtturm von Erik Valeur - Astrolibrium

Der Mann im Leuchtturm von Erik Valeur

Nicht umsonst hat Erik Valeur den Schauplatz seines aktuellen Krimis auf einem Leuchtturm angesiedelt. Er vereint die Abgeschiedenheit des Protagonisten mit allen szenischen Aspekten, die man von einem Skandinavien-Roman erwarten darf. Er lässt seine Leser in der Einsamkeit der Küste Dänemarks auf einen seltsamen Kauz stoßen, der sich für sein Eremiten-Leben einen Leuchtturm ausgesucht hat. Viggo Larssen ist nicht leicht zu fassen, seine Tage verlaufen geruhsam und geregelt. Er ist der einsame Leser auf einer Bank vor dem Leuchtturm auf der Insel Røsnæs. Was sich nur langsam entwickelt, ist ein vielschichtiges Mosaik, das zu keinem Zeitpunkt ahnen lässt, welches Bild die einzelnen Steine am Ende ergeben werden.

Ebenso, wie man sukzessive Details aus Viggos Vergangenheit erfährt, erlebt man im entfernten Kopenhagen das Verschwinden einer alten Dame aus einem Pflegeheim. Nichts verbindet den Leuchtturm mit der Hauptstadt und doch spürt man, dass hier alle Fäden zusammenlaufen werden. Die Frau bleibt verschwunden. Spurlos. Lösegeld wird nicht gefordert, was bei einer Entführung zu erwarten wäre. Denn, dass ein Verbrechen hinter ihrem Verschwinden steckt, muss man ja vermuten. Schließlich ist sie die Mutter der beiden mächtigsten dänischen Politiker. Palle und Poul Blegman. Während man im Trüben fischt bei der Polizei, die Presse immer lauter die Unfähigkeit der Ermittler in die Welt schreit, dreht Erik Valeur sein Kaleidoskop aus Perspektivwechseln, Zeitsprüngen und Erinnerungsfetzen so lange, bis wir Zusammenhänge erkennen.

Der Mann im Leuchtturm von Erik Valeur - Astrolibrium

Der Mann im Leuchtturm von Erik Valeur

Die Mosaiksteinchen, die wir nun berühren tragen die Aufschrift Schuld, Verlust, Vergangenheit und Scham. Sie deuten auf eine Vielzahl von Katastrophen hin, die im Leben von Viggo Larssen um sich gegriffen haben. Katastrophen, die ihn zu dem Mann gemacht hatten, der hier versucht, dem Unfassbaren auf die Spur zukommen. Dass der Leuchtturm nicht zum Refugium seiner letzten Lebensphase wird, erkennt er sofort, als er vom Verschwinden der alten Frau Blegmann erfährt. Wer an dieser Stelle denkt, es mit einem normalen sachlich/faktisch aufgebauten Krimi zu tun zu haben, der sieht sich schnell getäuscht. Valeur platziert mit Malin eine mysteriöse Frau ins Herz des Buches und macht sie zu den Augen und Ohren seiner Leser. Sie folgt scheinbar einer Mission. Sie taucht plötzlich an der Küste auf. Sie beobachtet Viggo Larssen, bricht bei ihm ein und liest für uns in den Zeugnissen seiner Vergangenheit und den Briefen, mit denen er versucht, in dieser schweren Situation seine Dämonen zu beherrschen.

Der Mann im Leuchtturm von Erik Valeur - Astrolibrium

Der Mann im Leuchtturm von Erik Valeur

Selten habe ich so lange drüber gerätselt, in welche Richtung sich die Handlung des Romans entwickeln würde. Zu viele falsche Fährten sind gelegt. Zu viele Andeutungen verleiten dazu, das Wesentliche aus den Augen zu verlieren. Dabei ist es so klar. Es ist so augenscheinlich und doch so gut verborgen. Ein gelbes Stück Plastik, ein Vogelkäfig und ein altes Exemplar von Antoine de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“, ein Friedhof und Verbrechen, die in der Vergangenheit angesiedelt sind. All diese Mosaiksteine in meiner Hand sah ich deutlich vor mir. Nur ganz am Ende war es möglich, sie zu einem schlüssigen Bild zu formen, das keine Fragen offenließ. Es lohnt sich, an die dänische Küste zu reisen. Es lohnt sich, im Leuchtturm einzuziehen und die dichte Atmosphäre eines spannenden Romans aufzusaugen.

Ein Roman, der sich aus meiner Sicht nicht als Thriller oder Krimi greifen lässt, weil Erik Valeur der Rezeptur dieses Spannungsmenüs ein paar Zutaten beigibt, die ich nicht erwartet hätte. Nennen wir es mystische Vorahnung, Verheißung oder Traum. Die Offenbarungen aller Geheimnisse aus der Vergangenheit mögen mysteriös wirken, in Wirklichkeit jedoch gehen sie Hand in Hand mit Malin, die diesen Roman auf eine ganz besondere Ebene hebt. Hier mündet alte Schuld nicht in ziellose Rache. Es gibt keinen Gewinner in „Der Mann im Leuchtturm“. Nur uns. Die Leser.

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Der Mann im Leuchtturm von Erik Valeur

Vielleicht legt ihr die „Wächter der See“ neben diesen Roman. Hier könnt ihr euch den passenden Leuchtturm aussuchen, einziehen und die Gedanken schweifen lassen. Kein Leuchtturmlesen ohne dieses Standardwerk.

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Der Mann im Leuchtturm von Erik Valeur

Der endlose Sommer – Ein Requiem von Madame Nielsen

Der endlose Sommer von Madame Nielsen

„… wir bleiben im »endlosen Sommer«, der gleich dem Paradies der Ort ist, der nie war und an den man nie zurückkehren kann, außer in der Erzählung…“

Der endlose Sommer – Sommerzeit bei Literatur Radio Bayern – Ein Klick genügt

Könnt Ihr Euch noch an Euren letzten Endlosen Sommer erinnern? An diese Zeit in Eurer Jugend, in der fast alles möglich schien, in der man sich unsterblich fühlte, auf der Suche nach der ersten wahren Liebe jedes Risiko eingehen konnte und dachte, die Freunde dieser Tage wären jene Menschen mit denen man sein Leben lang zusammen sein würde? Könnt Ihr Euch noch daran erinnern? An diesen verschleierten Traum, der alle Konturen verwischte und an dessen Ende man inständig hoffte, nicht irgendjemand zu sein. Jemand wollten wir werden. Geliebt, nicht beliebig. Die flirrenden Träume und Fantasien jener Tage hinterlassen in jedem Menschen eine nicht mehr auzuslöschende Melodie, der wir lange hinterher trauern, wenn sie erst verklungen ist.

Könnt Ihr Euch an diese Zeit in Eurem Leben erinnern? Seid Ihr bereit, den Kokon zu durchbrechen, der Eure Erinnerungen vor dem Hier und Jetzt beschützt und seid Ihr bereit, in ein Paradies zurückzukehren, in das man niemals zurückkehren kann? Außer in Erzählungen? Wenn ja, dann seid Ihr bereit für Madame Nielsen. Aber Vorsicht, die Rückkehr in dieses Paradies kann alte Wunden aufreißen und Gefühle wecken, die Ihr schon lange vergessen habt. „Der endlose Sommer“ beginnt erneut.

Der endlose Sommer von Madame Nielsen

„Der Junge, der vielleicht ein Mädchen ist, es aber noch nicht weiß. Der scheue Junge, der vielleicht ein Mädchen ist, aber nie einen Mann berühren, sich nie mit einem Mann ausziehen und Haut an Haut reiben würde, nie im Leben…“

Der endlose Sommer ist kein Roman und keine Erzählung im üblichen Sinn. Wir tauchen in ein Requiem ein, den emotionalen Abgesang auf das verlorene Paradies, in dem eine Gruppe junger Menschen die wundervollste Zeit ihres Lebens verbrachten. Es ist eine Phase der unbeschwerten Orientierungslosigkeit und Offenheit für die Wunder der Welt. Alles scheint erlaubt und doch ist es mutig, die moralischen Schranken einer Gesellschaft zu durchbrechen die keine Durchbrüche toleriert. Ein junges Mädchen und ihr zarter scheuer Freund erleben dies am eigenen Leib. Die eigene Suche nach den großen und sicheren Gefühlen wird durcheinandergewirbelt, als zwei Portugiesen im strahlenden Licht des endlosen Sommers erscheinen. Die feste Gemeinschaft dieser Tage wird um eine Melodie erweitert, die alles vergessen macht und vieles neu erfindet.

Den Stiefvater, der seine Frau eifersüchtig mit dem Gewehr bewacht. Die Brüder, die haltlos durch ihr Leben taumeln und die Mutter, die plötzlich alle Zweifel über Bord wirft und sich hoffnungslos in einen der Portugiesen verliebt. Eine wahrlich unmögliche Liebe, die alles in ihren Bann zieht, alles mit sich reißt und auch nicht endet, als der letzte Sonnenstrahl des endlosen Sommers für immer untergeht.

Der endlose Sommer von Madame Nielsen

„Doch manches ist selbst im Traum nur ein Traum, »der endlose Sommer« zum Beispiel, vielleicht beginnt er nie, vielleicht ist er nichts als die Befreiung, von der das Mädchen oder der schmale Junge träumen…“

Vom Olymp des Erzählers macht uns Madame Nielsen nicht nur zu Beobachtern.  Wir spüren, dass sie die Fäden in der Hand hält und das Schicksal bestimmt. Wie eine griechische Göttin vermag sie die Gefühle der jungen Menschen aufzuspüren und uns ins Herz zu schreiben. Dabei schreibt Madame Nielsen nicht im traditionellen Sinn den Roman den man vielleicht erwartet hat. Sie komponiert ihr Requiem wie ein Musikstück, dessen melancholische Grundmelodie uns gefangen nimmt. Sprachlich eine Klasse für sich. In der Struktur der Erzählung so vergleichbar, wie ein Traum im Traum, der jede Struktur verweigert und sich erst erschließt, nachdem man aufgewacht ist. Dieses Buch ist die Kathedrale, in der dieses Requiem aufgeführt wird.

Der endlose Sommer von Madame Nielsen

„… und viele Jahre später, als er schon längst eine alte Frau ist…“

Wer sich dieser Erzählung bedingungslos ausliefert, wird schnell fühlen, dass sie sich den Kategorien entzieht, die wir gerne über Literatur stülpen würden. Wir haben es hier nicht mit einem Coming-of-Age-Roman zu tun, dies ist sicher keine Geschichte über diffuse Rollenbilder oder gar eine Gender-Story. Wir erleben kein sexuelles Outing oder homo-erotische Trugbilder. Hier ist alles möglich. Alles ist ungeformt und im Fluss. Das Leben liegt nicht als Blaupause zum Nachzeichnen auf dem Tisch. Die Menschen dieses Romans sind Skizzen, die keine scharfen Kanten haben und die wir gemeinsam mit der grandios fabulierenden Autorin ganz zart ausmalen dürfen.

Ihr werdet den Roman nicht zu fassen bekommen, wie Ihr Euren eigenen endlosen Sommer auch heute nicht zu fassen bekommt. Er besteht aus Sequenzen, Bildern und Rhythmen, die sich langsam aneinander reihen. Sucht nicht verzweifelt nach Struktur, wo Euer Paradies selbst nie strukturiert war. Versucht Euch hinzugeben, das Requiem zu erhören und saugt die Melodie auf, die wir schon lange nicht mehr summen können.

Der endlose Sommer von Madame Nielsen

Sucht nach Euren eigenen Antworten auf die Fragen des Lebens. Wer gehört zu wem, wer ist wer und was bleibt am Ende von allem? Ist es nur das liebestrunkene und unvergessliche Gefühl der letzten großen unbeschwerten Lebensphase und die Angst vor der Unausweichlichkeit des Schicksals? Ist es Liebe? Ist es Unsicherheit oder gar die eigene Erinnerung, die es plausibel erscheinen lässt, dass ein Junge vielleicht ein Mädchen ist. Madame Nielsen reicht Euch ihre Hand und summt ihr ganz eigenes Lied. Durchleben müsst Ihr diesen endlosen Sommer ganz allein. Das ist Euer Privileg. Es ist wundervoll, in diesem Roman den eigenen endlosen Sommer zu finden und sich dabei zu fragen, was wir im Herbst und Winter unseres Lebens davon noch im Herzen haben. Ich fand meine Antworten.

Dieser Roman entspricht seiner Autorin. Madame Nielsen ist alles, was man sich vorstellen kann, wenn man das Wort Künstlerin reflektiert. Sie ist Kunstperson und Lebenskünstlerin, Performance-Artist, Autorin und Sängerin. Ihre Vita klingt skurril, was sie für mich nur umso faszinierender macht. Sie löste sich 2001 sehr konsequent von ihrem männlichen Ich, trug Claus Beck-Nielsen zu Grabe, erfand sich selbst und lebt ihr Leben, wie sie ihren endlosen Sommer lebte. All diese Geheimnisse möchte ich gerne im Verborgenen lassen und sie so akzeptieren, wie sie schreibt. Außergewöhnlich und einfach als grandiose literarische Stimme. Ich fühlte mich sprachlich ein wenig an die große Tania Blixen erinnert. Ja, ich denke, das hätte ihr gefallen. Dänische Stimmen tragen die Weltliteratur auf leichten Schultern. Ich verneige mich.

„Es ist stets die Idee des Paradieses, auf die es ankommt,
und wenn eine hinreichend ansprechende Illusion erschaffen werden kann,
folgt die Wirklichkeit von selbst.“
(Tania Blixen)

Der endlose Sommer von Madame Nielsen

Ihr könnt diese Rezension auch auf Literatur Radio Bayern hören. 

Inzwischen ist die endlose Sommerzeit auch bei Zeichen und Zeiten angebrochen.