Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt – Marie Gaté

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt - Marie Gaté - Astrolibrium

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt – Marie Gaté

Wie wäre es mit einer literarischen Praline, die in wundervoller Verpackung auf euch wartet und in ihrem Inneren mehrere Geschmacksexplosionen verbirgt? Könnt ihr euch vorstellen, wie es sich anfühlt, ganz langsam durch eine äußere Schicht aus Krokant in die Tiefen dieser Leckerei vorzudringen und dabei festzustellen, wie sich alle Zutaten in eurem Mund zu einer Komposition von größter Raffinesse vereinen? Und plötzlich stoßt ihr mit der Zunge überraschend auf einen ersten inneren Kern, der sich von den zuvor erkundeten delikaten Schichten unterscheidet. Er scheint extrem hart zu sein und bitter zu schmecken. Alles widerspricht der Komposition, die euch gerade noch so begeistert jubilieren ließ. Doch ihr könnt nicht mehr innehalten. Ihr zerbeißt den Kern und stoßt in ein geheimes Inneres vor, das euch die Tränen in die Augen treibt. Ihr beginnt euch zu ekeln und seid kurz davor, die sich auflösende Praline auszuspucken, bis ihr vorsichtig weitertastet und auch im Inneren dieses Kerns etwas Neues entdeckt, das sich bereits im ersten Moment der Berührung mit euren Geschmacksnerven als Zauber erweist.

Wenn ihr euch dies alles vorstellen könnt, dann seid ihr bereit, mir in ein Buch zu folgen, auf das jedes einzelne Bild meines gerade gezogenen Vergleichs zutrifft. Dann seid ihr bereit, einer Schriftstellerin zu begegnen, die aus den unterschiedlichsten und selten kombinierten Zutaten ein literarisches Konfekt geschaffen hat, das sich deutlich von der Einheitsware unterscheidet, die uns alltäglich begegnet. Ihr Rezept besteht aus Liebe, Zuneigung, Sehnsucht, unerfüllten Hoffnungen, Stolz, poetischer Strahlkraft und patriotischer Heimatliebe. Aber eben auch aus einem Kern, den man schlucken muss, um die Schönheit des Ganzen zu ermessen. Ein Kern aus Hass, Repressalien, Gewalt, Stacheldraht, Schützengräben, Giftgas, Granaten und Vernichtung. Dieses Innere liegt schwer im Magen und im Herzen. Für eine französische Autorin schmeckt dieser Kern deutsch. Und nicht nur für sie. Es ist der Granatkern einer gemeinsamen Geschichte, die nur dann nachhaltig überwunden werden kann, wenn wir bereit sind, diese Praline mit all unseren Sinnen zu probieren. Nur so stoßen wir gemeinsam in den wahren Kern einer zutiefst persönlichen Familiengeschichte vor, die niemals Geschichte wurde.

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Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt – Marie Gaté

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt.“ So lautet der Titel eines Romans, der sich als autobiografischer Jahrhundertroman so erfreulich vom Mainstream abhebt, der uns in den Buchhandlungen begegnet. Es ist sicherlich der Titel, der neugierig machen kann. Es ist sicherlich auch das gediegene Äußere dieses Buches der Stroux Edition, dem man verfallen kann. Elemente einer Pralinenverpackung, die mir signalisierte, hier einer neuen Erzählstimme begegnen zu können. Marie Gaté. Ein Kind der Ardennen, könnte man sagen. Eine französische Weltbürgerin, die ihr Sprachtalent zur Berufung gemacht hat. Dolmetscherin, Übersetzerin und Autorin. Aufgewachsen in einer Region, die immer noch von den Spuren zweier Weltkriege durchzogen ist. Eine Französin, die ihre autobiografische Geschichte in einer Sprache schrieb, die für ihre Vorfahren nur die Sprache der Eroberer und Besatzer war. Auch eine deutsche Staatsbürgerin, aus deren Sicht die Geschichte ihrer Familie zur multiperspektivischen Kamerafahrt durch ein Jahrhundert der ambivalenten Beziehungen wird. Eine Schriftstellerin, die mit ihrer Vielsprachigkeit in der Herangehensweise an ein sensibles Thema sprachlos macht.

Es ist die Champagne, in die uns Marie Gaté entführt. Hier vertraut sie sich uns an und öffnet uns behutsam die Seiten ihres Familienalbums mit all den Erinnerungen und Gefühlen, die ein solcher Rückblick mit sich bringt. Wir begegnen ihren Großeltern zu einer Zeit, in der die Region rund um Reims zu den umkämpftesten Gebieten Europas gehörte. Wir treffen auf gezeichnete Menschen, die der Erste Weltkrieg zermürbt hat. Wir finden jedoch auch die ersten Muster einer Familiengeschichte, die von Achtung und Liebe skizziert ist. Sehnsucht spielt eine große Rolle und Sehnsucht wird zu einer der wichtigsten Bestimmungsgrößen im Leben der jungen Marie. Es ist die Schwester ihrer Großmutter, die Jahrzehnte später zu einer wichtigen Bezugsperson für sie wird. Es sind ihre Eltern, die Marie zeitweise zu jener Großtante Adrienne in Obhut geben. Und so werden wir zu den Zeugen der Generationsgeschichten, die von zwei Kriegen charakterisiert sind. Von niemals verheilenden Wunden, Schrecken und gegenseitig zugefügtem Leid. Und wir werden heimliche Zeugen einer nie erzählten Geschichte.

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt - Marie Gaté - Astrolibrium

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt – Marie Gaté

Es ist „Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt“, den die Großtante Adrienne der jungen Marie als ganz persönliche Geschichte schenkt. Es sind die magischen Momente an Adriennes Seite, die das Mädchen früh prägen und es sind all die Fragen, auf die Marie einfach keine Antworten findet. Warum hat Adrienne niemals geheiratet? Warum lebt sie allein und gibt es ein Geheimnis, das sie nicht preisgeben will? Im Lauf der Jahrzehnte wird aus Adrienne eine wesentliche Konstante für Marie. Und während wir erleben, wie aus dem Mädchen die Frau wird, ahnen wir schon, welchen Konflikten sie neuen Treibstoff verleiht, als ausgerechnet sie ihren ersten Freund mit nach Hause bringt. Einen deutschen Soldaten. Hier reißen nicht nur alte Wunden auf, hier wird im modernen Frankreich das besiegte Frankreich des Ersten Weltkriegs und das schwer verwundete des Zweiten Weltkriegs sichtbar. Es ist eine Mischung aus Ablehnung und Misstrauen, die dem jungen Deutschen begegnet. Und doch ist dies längst nicht alles. Das Geheimnis von Adrienne beginnt langsam, sich an die Oberfläche zu graben.

Hier befinden wir uns tief im Inneren der literarischen Praline. Es schmeckt überall nach Gift und Tod, nach Unterdrückung und Repressalien. Die Uhren gehen in diesem Ersten Weltkrieg falsch. Sie zeigen die deutsche Zeit an. Hier beginnt, was Adrienne erst am Ende ihres fast hundertjährigen Lebens erzählt. Hier beginnt, was sich als ein Muster von tiefer Sehnsucht durch ihr Leben zog. Eine Liebesgeschichte, die einfach unmöglich war. Eine Liebe, die man Kollaboration oder Fraternisierung genannt hätte. Eine Liebe, die jedoch die Zeit überdauert hat. In Marie und ihren eigenen Lieben hat sich der Kreis einer Geschichte geschlossen, die zum Opfer der Geschichte wurde. In ihr liegt der Schlüssel zur Heilung aller Wunden. In ihrem heutigen Schreiben liegt der Schlüssel zur Nachhaltigkeit eines Friedens, den unsere Großeltern und Eltern niemals für möglich gehalten hätten. Dem „Klang des Bleitstiftes, der zu Boden fällt“ kommt in diesem autobiografischen Roman eine metaphorische Bedeutung zu, an die ich wohl noch lange denken werde. Dieser Stift ist dieser Familie nie aus der Hand gefallen. Bei Marie Gaté ist das eindrucksvoll nachzulesen.

Das süße Herz dieser Praline verdrängt die Bitterstoffe und lässt die Tristesse dort, wo sie hingehört. In der Vergangenheit. Die Zukunft gehört nur uns. Ihr Geschmack ist ein Geschenk….

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Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt – Marie Gaté

Ich wurde über die inhaltlichen Aspekte der Geschichte hinaus reich beschenkt. Immer wieder stelle ich mir die Frage: Was erwarte ich von einem Roman? Natürlich eine gute Erzählung, Spannung, Romantik und Tiefgang. Aber auch nie zuvor gelesene Impulse, die mich inspirieren. Schon auf den ersten Seiten des Romans gelang es der Autorin, mein Lesen zu unterbrechen und einen Zündfunken in mein Leben zu bringen, der einen Flächenbrand verursacht. Stellt euch einfach vor, ihr verliert einen Menschen aus eurem direkten Umfeld. „Welchem fehlenden Buchstaben des Alphabets würde er entsprechen?“ Darüber lohnt es sich intensiv nachzudenken. Wäre es ein Q, ohne das man gut zurechtkommt, oder verliert man einen lebenswichtigen Vokal, der absolut unersetzbar ist und uns fast sprachlos machen würde? Ein Gedanke, der sehr langsam Fahrt aufnimmt, sich dann aber mit dem eigenen Wertevorrat verbindet.

Heute sind wir, was man gemeinhin als Zeitgenossen bezeichnet. So habe ich den Roman von Marié Gaté gelesen. Wir gehören einer Generation an. Und doch sind wir mit völlig unterschiedlichen Narrativen aufgewachsen. Es sind verschiedene und nicht zu vergleichende Rollen, die unsere Länder in der Weltgeschichte gespielt haben. Hier gilt es anzusetzen und das Verbindende zu suchen. Es gilt, die Schuldfragen nicht zu dominant werden zu lassen, um die Heilung der Wunden nicht zu verhindern. Wir sind noch lange nicht am Ziel, stehen aber in der Tradition großer Politiker und Autoren, die sich tatsächlich und symbolisch über den Gräbern von einst die Hand gereicht haben. Den Beitrag, den Marie Gaté an dieser historischen Aufgabe geleistet hat, kann man nicht hoch genug einschätzen. Ich versuche durch meine Artikel einen eigenen kleinen Beitrag zu leisten, unser heutiges Leben in den historischen Kontext zu stellen und die Verantwortung als Vater an die nächste Generation weiterzugeben.

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt - Marie Gaté - Astrolibrium

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt – Marie Gaté

Ob mir das gelingt, das können andere besser beurteilen. Ich empfehle das Lesen meiner Artikelserie zum Ersten und zum Zweiten Weltkrieg. Und gerade im Bezug zu diesem Buch sind es folgende Rezensionen und Reflexionen, die mich zutiefst mit dem Schreiben von Marie Gaté verbinden:

Die Stunde, in der Europa erwachte
Die verborgene Chronik 
Die ewigen Stimmen aus Verdun
Elegie des großen Krieges
Der Wintersoldat

Chère Marie Gaté-Stallforth. Je vous remercie pour une histoire que je porterai dans mon cœur quand un jour je serai de retour à Verdun. Sans votre livre, ce serait comme toutes les consonnes manquantes de mon alphabet…

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt - Marie Gaté - Astrolibrium

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt – Marie Gaté

Update: Ein Buch für euch: Schreibt einen Kommentar und verratet mir, auf welchen Buchstaben des Alphabets ihr verzichten könntet. Unter allen Kommentierenden werde ich den Roman von Marie Gaté verlosen und ihn mit einer signierten Karte der Autorin auf den Weg bringen. Einsendeschluss ist Sonntag, der 24. Januar 24 Uhr.

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt - Marie Gaté - Astrolibrium

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt – Marie Gaté

Interessante Einblicke im Rahmen der Rezension zu : „Emma Bonn, 1879 – 1942, Spurensuche nach einer deutsch-jüdischen Schriftstellerin

Ich danke auf diesem Weg ganz besonders jenen Lesern, die mir auf meinem Weg zu Emma auf Instagram oder Facebook gefolgt sind. Jürgen Gielsdorf zum Beispiel war mit Buch und Kamera zeitgleich im Norden unseres Landes unterwegs. Man kann sich vorstellen, wie bewegend es ist, mit den Erinnerungen an Emma Bonn nicht allein zu sein. Der Weg geht weiter. Erinnern und immer weiter erinnern, das ist mein Ziel im Lesen und Schreiben gegen das Vergessen. Wir werden Emma Bonn in der nächsten Ausgabe unseres literarischen PodCasts „GlockenbachWelle“ mit der Stroux Edition einen ganz besonderen Platz einräumen. Dazu schon bald mehr, wenn wir mit Marie Gaté, Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt, der Verlegerin Annette Stroux und einem noch gut gehüteten Geheimnis auf Sendung gehen. 

Emma Bonn – Eine Spurensuche - Astrolibrium

Emma Bonn und Marie Gaté – Bald eine GlockenbachWelle…

Die GlockenbachWelle mit Marie Gaté – Unser Literatur-PodCast aus München:

Jetzt sollten Sie sich zuschalten. Hier geht´s lang. Ohren auf!

Wir wünschen uns ein Wiederhören mit Ihnen, wenn es wieder heißt „Ohren auf für eine neue GlockenbachWelle“. Und versprochen. Die neunte Welle wird auch in rein inhaltlicher Hinsicht ein wahrer Ohrenschmaus.

GlockenbachWelle - Stroux Edition und Marie Gaté - Astrolibrium

GlockenbachWelle – Stroux Edition und Marie Gaté

23 Gedanken zu „Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt – Marie Gaté

  1. Vielleicht daz „s“? Macht die Texte durchauz zackiger und klingt witzig. Hmmm, irgendwie hatte ich gedacht, dazz ez öfter vorkommt…

    Buzzi, Kate 😁❤

  2. Ich könnte auf das X verzichten. Jeder andere Buchstabe wäre ein Totalverlust. Ein Gedanke, der mich jetzt echt beschäftigt. Danke allein dafür. PeWe

  3. Das W würde ich wählen. Da ich es einfach durch 2×V ersetzen würde. Und könnte so immer das Verlorene betonen💜
    Und das Buch hat No.1 auf meiner unendlichen Bücherliste, da meine Wurzeln auch im ersten Weltkrieg liegen.

  4. Hier fand gerade unter notarieller Aufsicht die Ziehung der Gewinnerin statt. Herzlichen Glückwunsch, Birgit…

    Vielleicht freut sich Deine Tochter Alexandra ja mit Dir, weil Du Dich für das Y entschieden hast…

    • Oh, ich freue mich sehr!
      Ich habe gewonnen, das ist toll. Vielen Dank!
      Das signierte Buch von Frau Stallforth bekommt meine Tochter.
      Ich habe mein eigenes und natürlich schon mit viel Vergnügen gelesen.

  5. Heute ist mein Hauptgewinn📖 bei mir angekommen. Ich freue mich!

    Vielen Dank, liebe Frau Gate, für dieses tolle Buch.

    Herzlichen Dank, Herr Stroscher, dass trotz der schlechten Wetterverhältnisse, es so schnell den Weg zu mir gefunden hat.

    PS: Das kleine Geheimnis ist bei mir sehr gut aufgehoben.

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