Ein besonderes Weihnachtsfest steht uns bevor. Eines, von dem wir vor mehr als einem Jahr wohl nicht gedacht hätten, dass es real werden würde. Das ganze Land im Lockdown, die Geschäfte schon vor dem heiligen Fest geschlossen und eine Feier im Kreise der Familie wird durch Ausgangsbeschränkungen erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht. Wir finden Halt in den kleinen Biotopen, die wir selbst geschaffen haben, um den Turbulenzen des Alltags trotzen zu können. Ein schweres Jahr mit den Wunden einer weltweiten Pandemie liegt nun bald hinter uns. Hoffnungsschimmer sind rar in diesen Tagen, obwohl die Impfzentren allüberall aus dem Boden schießen. Heißt das, wir gehen nun in eine unbeschwerte Zukunft? Können wir uns nun beruhigen und davon ausgehen, dass wir im Jahr 2021 wieder reisen können, Buchmessen besuchen oder gar ohne Gesichtsmaske zum Bummeln durch volle Einkaufsmeilen flanieren?
Hoffnung ist ein wichtiger Ankerpunkt im Leben. Schönreden jedoch hilft uns nicht weiter. Ich gehe davon aus, dass wir auch im neuen Jahr mit einigen Einschränkungen zu leben haben, an die man sich erst gewöhnen muss. Oder an die wir uns fast schon gewöhnt haben. Homeoffice, Homeschooling, Social Distancing und andere moderne Krisenbewältigungs-Anglizismen werden uns wohl noch lange begleiten. Dabei ist klar, dass wir von niemandem, auch nicht von unserer Volksvertretung erwarten dürfen, ein Patentrezept zu besitzen, das wie eine Blaupause auf jede Gesundheitskrise passt. In kaum einer Zeit dieser jungen gemeinsamen Republik waren wohl die wirtschaftlichen gesundheitlichen, emotionalen und sozialen Herausforderungen so einschneidend wie heute. Das Miteinander wird auf harte Proben gestellt, nicht nur durch Gruppierungen, die sich der Gemeinschaft durch das beharrliche Leugnen des Coronavirus entziehen. Es bleibt sehr schwer, Halt zu suchen, zu geben und zu finden. Und doch schaffen wir es. Es gibt so viele positive Beispiele, die mich wirklich hoffen lassen, dass wir heil aus dieser Krise herauskommen. Gestärkt und solidarisch.
Wenn wir uns mit unseren Großeltern unterhalten (und ja, wir können das auf so vielfältige Art und Weise, trotz aller Einschränkungen, die wir gerade zu ihrem Schutz ins Leben gerufen haben), dann werden wir schnell in Erfahrung bringen, dass dieses Weihnachtsfest mit all seinen Restriktionen nicht zu den schwersten Weihnachten im Leben unserer Großeltern zählt. Es ist wirklich eminent wichtig, die Maßstäbe im Auge zu behalten, um jede Einschränkung, die diese Corona-Pandemie mit sich bringt, ein wenig relativieren zu können. Meine eigene, inzwischen fast neunzigjährige Mutter sagt mit Nachdruck zu ihren Enkeln:
„Wer nächtelang im Luftschutzbunker saß und nicht wusste, ob das eigene Haus am nächsten Tag noch steht, der lässt sich auch durch eine Ausgangssperre wegen Corona nicht beirren.“
Vielleicht sind es diese Perspektiven, die uns jetzt helfen, einerseits Mut zu fassen und andererseits endlich den „Arsch hoch zu bekommen“, um unsere Alten nachhaltig und ohne egozentrisch überlagerte Diskussion darüber, auf was wir gerade verzichten müssen, zu beschützen. Es gäbe uns gar nicht, ohne ihre Fähigkeiten, sich mit Wucht gegen alle Krisen zu stellen, die sie erlebt haben. (Und das ganz ohne Internet, Netflix, Social Media, Onlineshopping, und Smartphones). Selbst für mich wäre im zarten Alter von 15 Jahren ein kompletter Lockdown in der Eifel des Jahres 1977 eine ganz andere Hausnummer gewesen, als er das für Jugendliche in unserer Zeit ist. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die pausenlos sagen, es könnte ja noch schlimmer sein, aber es ist mir wichtig, Zeitscheiben miteinander zu vergleichen, bevor man sich und seine Kinder in eine dramatische Opferrolle begibt und aus dem Jammertal nicht mehr entkommt.
Wie war das? Das schwerste Weihnachtsfest seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs? Ein Satz den man in letzter Zeit recht häufig hört. Diejenigen, die dieses Weihnachten selbst erlebt haben, werden sich wohl verwundert die ergrauten Augen reiben. Vielleicht ist es gerade jetzt an der Zeit, mit unseren Eltern und Großeltern über genau diese Zeit zu sprechen, über die sie eigentlich viel zu wenig erzählt haben. Vielleicht hilft auch ein Buch, das sich genau mit diesem ersten Weihnachtsfest im Frieden beschäftigt. Es ist nicht verkehrt, zurückzublicken, um danach im Vorwärtsgang die richtige Entscheidung für die eigene Geisteshaltung angesichts solcher Krisen zu treffen.
„Weihnachten 1945 – Ein Buch der Erinnerungen“ (Claus Hinrch Cassdorf Hrsg.)
Die „dtv-Verlagsgesellschaft“ hat sicherlich nicht grundlos den folgenden Slogan „Große Autoren – große Schrift“ auf die Rückseite des Taschenbuches gedruckt. Beides trifft zu. Beides ist sinnvoll, weil alleine schon der Großdruck es ermöglicht, die Lesenden mit einzubeziehen, die sich noch persönlich an diese Zeit erinnern können. Wir haben es hier nicht mit einem Opferbuch zu tun. Hier wird nicht gejammert. Hier finden sich starke Stimmen, die schon klar betonen, dass dieses Jahr 1945 das Ende eines Sturms darstellte, den Nazi-Deutschland damals selbst heraufbeschworen hatte. Eine Sichtweise, die man nie vergessen sollte, bevor man sich den Schicksalen derer annimmt, die jetzt verzweifelt auf die Heimkehr der Söhne und Männer aus dem Krieg warteten, der gerade erst verloren wurde. Ein Land in Trümmern atmete zum ersten Mal seit 1939 auf. Und dieses Aufatmen schmeckte sehr bitter, wurde man sich doch immer mehr bewusst, was man angerichtet hatte. Ein Gefühl, das sich auch in meiner eigenen Familie Raum verschaffte. Schuldlos waren nur sehr wenige. Wissend waren die meisten. Verdrängt hatten es plötzlich alle. Vom Holocaust bis zur Kriegstreiberei, immer mehr kam unmissverständlich an die Oberfläche.
24 Perspektiven warten in diesem Buch darauf, von uns eingenommen zu werden. 24 Persönlichkeiten, an die sich unsere Eltern und Großeltern (und wir uns wohl auch) noch sehr gut erinnern werden, schrieben hier ganz persönliche Erinnerungen nieder. Sie erzählen differenziert, maßvoll und voller Empathie, wie sie das Weihnachtsfest im Jahr 1945 verlebten. Sie schreiben aus der Perspektive von Exilanten, die geflüchtet waren und nun in die Heimat zurückkehrten und nichts wiedererkannten, was sie einst zurückgelassen hatten. Sie schreiben aus der Sichtweise jener Jugendlichen, die vom Geist der Nazi-Diktatur verblendet waren und nun auf den Trümmern ihres Lebens ein neues und freies Land aufbauen wollten. Sie schreiben als Waisen, die zu dieser Zeit bereits ihre Familie verloren hatten, und die alleine sicherlich nicht zurechtgekommen wären. Es sind intime und extrem persönliche Einsichten, die sie uns gewähren.
Sie erzählen nicht vom großen Ganzen. Sie berichten kleinteilig von den Biotopen, in denen sie sich wiederfanden. Sie berichten vom kargen Weihnachtsmahl, von Abenden der Kälte ohne Licht. Von zerbombten Häusern und Trauer um die Toten der Familie. In ihren kleinen Geschenken von Eltern und Freunden finden sie Hoffnung, Tannenbäume sind aus Papier gebastelt. Ein Weihnachtsbraten hatte nichts mit dem gemein, was wir heute unter einem Stück Fleisch verstehen und eine Suppe wurde schon zum Festmahl, wenn sie Fettaugen enthielt. Es ist die Stunde Null, die wir hier am Heiligabend erleben. Und doch strahlt aus all diesen Erzählungen auch die Zuversicht hervor, einen Wandel herbeiführen zu können und eine Zukunft anders zu gestalten. Pläne werden gemacht, in kleinen Schritten wird das Morgen skizziert. Ein Silberstreif am Horizont.
Es sind lesenswerte Texte, die sich zu diesem Erinnerungsbuch verketten, und uns zum Teil eines Weihnachtsfestes werden lassen, das aus heutiger Sicht kaum zu begreifen und kaum zu greifen ist. Es sind Texte von Heinrich Böll, Heinrich Albertz, Christine Brückner, Klaus von Bismarck, Leonie Ossowski, Annemarie Renger, Luise Rinser, Siegfried Lenz, Hildegard Hamm-Brücher, Walter Scheel und vielen mehr, die uns im wahrsten Sinne des Wortes mitnehmen. Beiträge, die mir persönlich gezeigt haben, wie sehr sich dieses Weihnachtsfest vom letzten Weihnachtsfest des Krieges im Jahr 1944 unterschied. In meiner eigenen Familienchronik war das Jahr vor dem Kriegsende das Ereignis, das meine Großeltern dauerhaft traumatisiert hatte. Ich schrieb darüber. Vielleicht möchtet ihr diese Gedanken lesen, wenn ihr am Ende dieses Textes angelangt seid.
Weihnachten 1944. Ein Ring, der alles veränderte…
Ich wünsche uns allen ein friedvolles Weihnachtsfest mit schönen Momenten, die dann später für unsere Kinder zu guten Erinnerungen werden. Ich wünsche uns, dass diese Erinnerungen eine Zeit ins Gedächtnis rufen, die nicht leicht war, in der wir uns jedoch verantwortungsbewusst und liebevoll um unsere Nächsten gekümmert haben. In diesen Momenten beginnen die Augenblicke, in denen ihr diese Erinnerungen gestaltet und sie zu Bausteinen im Gewölbe eurer Familiengeschichte macht. Lasst sie tragfähig und kunterbunt werden. Eure Kinder werden euch das nicht vergessen. Frohes Fest.