Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten – Helga Schubert

Vom Aufstehen - Ein Leben in Geschichten - Helga Schubert - Astrolibrium

Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten – Helga Schubert

Wie kann man ein ganzes Leben erzählen? Wie schafft man es, seine Leserschaft mit der eigenen ereignisreichen Lebensgeschichte zu konfrontieren und dabei nicht nur bestens zu unterhalten, sondern zu bewegen, aufzurütteln, in ungläubiges Staunen zu versetzen und aus der Summe der eigenen subjektiven Erinnerungen den literarischen Extrakt einer Epoche herauszupressen, die als Deutsch-Deutsche-Geschichte nur noch verschwommen wahrgenommen wird? Wie schreibt man als Schriftstellerin, die sich im Herzen zweier Deutscher Staaten ungeteilter Aufmerksamkeit sicher sein konnte, über dieses geteilte Leben? Fragen wir nicht. Lesen wir doch einfach, weil die Antworten auf diese Fragen gefunden sind. Es sind 29 Erzählungen, es ist ein Leben in Geschichten, es sind gerade einmal 220 Buchseiten, in die uns Helga Schubert entführt, um uns zu Zeitzeugen ihrer Geschichte zu machen.

Natürlich ist mir klar, dass sich gerade diese Autorin nicht selbst ausliefert, ohne ihre eigene Geschichte fiktional zu verfremden und sich durch einen Schleier vor allzu neugierigen Blicken zu schützen. Autobiographisches Schreiben ist ein Balanceakt, in dem das Scheitern immer zu einer der beiden Seiten der Medaille gehört. Hier jedoch muss man diese gekonnt vorgetragene Mischung aus Wahrheit und Erfindung einfach richtig einordnen können. Was sollte eine Autorin, die mehr als ein Jahrzehnt lang von der STASI intensiv beobachtet wurde, deren persönlicher und literarischer Freiraum in einer sozialistischen Diktatur an die kurze Leine genommen wurde, jetzt dazu bringen, unverblümt und ohne Rückfallposition für die eigene Psyche Farbe zu bekennen? Nein. Sie legt uns mit ihrem Buch „Vom Aufstehen“ sicher kein Sachbuch in die Hände. Sie liefert sich weder uns noch den Deutungshoheitssuchenden der Deutschen Geschichte aus. Sie bleibt die typische Helga Schubert. Sie lädt uns dazu ein, sie zu interpretieren.

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Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten – Helga Schubert

Dabei tritt das Groteske eines Lebens als Schriftstellerin in einem geteilten Land schon im Titel dieses Buches zutage. „Vom Aufstehen“ ist jene Erzählung, mit der Helga Schubert im Jahr 2020 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Die Resonanz auf diesen Text war so gewaltig, dass es nur allzu logisch erschien, ihn endlich auf den deutschsprachigen Olymp zu heben. Diese Geschichte allein beinhaltet schon 80 Jahre eines Lebens. Sie besticht durch die Verzögerung eines Vorgangs, der im Titel doch in aller Klarheit beschrieben ist. Nein. Eine Helga Schubert steht nicht einfach auf. Sie blickt zurück auf entscheidende Sequenzen ihres Lebens und macht ihren Frieden mit der Frau, die ihr Leben geprägt hatte. Aus einer Abrechnung wird ein Aufstehen in eine neue Zeit ohne Schuldzuweisungen. Ja, es ist grotesk, dass Helga Schubert mit einem Literaturpreis ausgezeichnet wurde, zu dem sie 1980 nicht einmal anreisen durfte. Die DDR hatte ihr die Grenzen aufgezeigt. Begründung:

„Durch den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb soll das derzeitig von feindlichen Kräften betriebene Weiterbestehen einer einheitlichen deutschsprachigen Literatur weiter hochgespielt werden.“

Brillant war der Text, mit dem sie gewann. Und doch liest er sich unvollendet und in Teilen nicht ganz auserzählt. Er wirft Fragen auf, auf die wir gerne weiter eingegangen wären. Es ist ein fragmentarischer Text, der wie die Einladung zu mehr wirkt, ohne uns zu verraten, wann und wo dieses „Mehr“ zu finden sein wird. Jetzt gibt sie die Antwort. „Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten“ löst das Versprechen ein, das sie uns im Jahr 2020 gab. Die letzte Geschichte des Buches kennen wir. Sie in vollem Umfang zu verstehen ist das Privileg, das wir nun genießen dürfen, wenn wir uns dem Anfang allen Erzählens nähern. Dieses Buch ist also rückwärts erzählt. Wir sammeln die losen Fäden eines Lebens auf, die wir ganz am Ende zu dem Teppich zusammenfügen, auf dem wir uns nach dem Aufstehen aufrichten. Allein diese Konstruktion ist preiswürdig.

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Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten – Helga Schubert

„Mein idealer Ort ist eine Erinnerung“

Mit diesen Worten fängt sie mich. Mit diesen Worten hat mich Helga Schubert schon auf der ersten Seite im Spinnennetz ihrer Erzählungen eingewoben und beginnt in sehr einfühlsamen Worten den Moment des Aufwachens nach dem Mittagsschlaf im Garten ihrer Großmutter zu beschreiben. Es ist die erste Erinnerung, der alle Erinnerungen im Gefolge treu ergeben sind. Es ist der lichtdurchflutete Moment, der nach Sommerferien schmeckt, einen Sehnsuchtsort vor dem geistigen Auge mit neuem Leben erfüllt und in einer wahren Kaskade aus lebenswichtigen Impulsen dem Erinnern Schwung verleiht. Neben den rein inhaltlichen Aspekten des Schreibens gelingt es Helga Schubert, ihren eigenen Gedankenprozess auf den Lesenden zu übertragen. Ich schließe das Buch in Gedanken an meine Sehnsuchtsorte, an meine Orte der prägenden Erinnerungen und an die Menschen, die mir beim Aufstehen halfen. „Vom Aufstehen“ ist eines der ganz wenigen Bücher, das mich dauerhaft unter Strom setzt, weil ich die Impulse fühle, die meine Erinnerungen wie mit einem Memoiren-Defibrillator wiederbeleben.

Dabei sind Helga Schuberts Bilder relevant. Ihre Betrachtungen thematisieren nicht nur das Fehlen ihres eigenen Vaters im Gesamtgefüge ihres Lebens, die fehlende und kaum zu kompensierende moralische Leitschnur und das Trauma ihres Lebens. Es ist die Betrachtung über das allgemeine Fehlen, die hier ihren Anfang nimmt. Freiheit und Freiraum, Meinung, Haltung und Reise. Alles auf der Negativseite des Lebens. Hier ist es eine selbstkritische Schriftstellerin, die auch mit ihrer Rolle als Autorin in der DDR nicht zimperlich umgeht. Sie schreibt von richtungsweisenden Entscheidungen, die sie selbst bei der Wahl der Fahrrichtung in einem Zug nicht mehr vergessen kann. Es sind die augenscheinlich kleinen und privaten Erzählungen der Autorin, die so viel verraten, ohne sie zu demaskieren. Pathos: Fehlanzeige. Bedauern nur dann, wenn es Freiheit betrifft, die sie im geteilten Land nicht erleben durfte.

„Es gab ja so viele Freiheiten, die wir nicht hatten.“

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Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten – Helga Schubert

Helga Schubert legt sich selbst auf den Objektträger der Geschichte. Uns fällt es als Betrachter oftmals leicht, sie zu erkennen, dann wieder verschwimmt das Bild und wir justieren die Schärfe am Beispiel unserer eigenen Erinnerungen. So werden diese Geschichten und Erzählungen zum Sinnbild für Erinnerungen, denen man sich stellen muss:

„Geschichten als Mikroskop. Geschichten als Spiegel. Die guten Geschichten sind wie das Leben tragikomisch, plötzlich reißt mich die Geschichte aus dem Mitleid in die Ironie, aus der Ironie in die Verachtung, aus der Verachtung ins Verständnis. Und alles in dem Moment, in dem ich mich auf eine Sicht eingelassen hatte.“

„Vom Aufstehen“ ist kein literarischer Altweibersommer einer Autorin, die sich in ihrer Altersweisheit sonnt. Ganz im Gegenteil. Es ist die Zeit, die solche Erinnerungen aus dem Sand des Alltags herauswäscht. Manchmal findet sich dabei Gold, oftmals ist es nur eine unscheinbare Versteinerung, die sichtbar wird. Es sind solche Bücher, die wir sehr genau lesen sollten. Sie nehmen vorweg, was wir später zu erzählen haben. Vielleicht sind unsere Erinnerungen nicht so weltbewegend, nicht von großer medialer Aufmerksamkeit flankiert und letztlich völlig unbedeutend. ABER… Es werden unsere Erinnerungen sein und sie werden unsere Geschichten erzählen. So, wie uns Monika Helfer von ihrer Bagage und ihrem Vati erzählte. So, wie uns Helga Schubert etwas „Vom Aufstehen“ erzählte. Keine Erinnerung ist es wert, unausgesprochen zu sein.

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Sarah Kirsch – Christa Wolf – Ein geteiltes Land in ungeteilten Briefen

UPDATE: Die Nominierungen für den BR 2 – Publikumspreis:

  • Ewald Arenz, Der große Sommer (DuMont Buchverlag)
  • Mai Thi Nguyen-Kim, Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit (Droemer Knaur)
  • Richard David Precht, Von der Pflicht (Goldmann Verlag)
  • Helga Schubert, Vom Aufstehen (dtv Verlagsgesellschaft)
  • Juli Zeh, Über Menschen (Luchterhand Literaturverlag)

Bis zum 7. November kann unter bayern2.de/publikumspreis oder mit Postkarten, die in Buchhandlungen und in bayerischen Sparkassen-Filialen ausliegen, abgestimmt werden… Dieser Preis liegt jetzt in Ihrer Hand. Mehr auf meiner Projektseite

Vom Aufstehen - Nominiert - Bayerischer Buchpreis - Publikumspreis - Astrolibrium

Vom Aufstehen – Nominiert – Bayerischer Buchpreis – Publikumspreis

Der Abstinent von Ian McGuire

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Der Abstinent von Ian McGuire

Wenn man den Namen des Schriftstellers Ian McGuire auf einem Buchumschlag liest, sollte man sich schon gut überlegen, ob man einen Roman aus seiner Feder auf dem Büchertisch ignorieren darf. Spätestens seit Nordwasser sollte sich die Kunde verbreitet haben, dass der britische Erfolgsautor nicht nur viel zu erzählen hat, sondern wie er es erzählt. Die Walfangreise an Bord der „Volunteer“ mutiert zum einzigartigen Hybridszenario aus Moby Dick und Das Schweigen der Lämmer. Der Walfang allein reicht ihm nicht aus. Ian McGuire entfacht ein maritim geprägtes rechtsmedizinisches Inferno, in dem einem das Wasser bis zum Halse steht. Ich schrieb zu „Nordwasser„:

Dieser Roman ist ehrlos, schamlos und aufrichtig authentisch. Selten habe ich im Lesen so viele schlechte Gerüche erlebt. Selten war das Essen so mies. Selten waren Menschen in meinem Umfeld abgestumpfter, brutaler und ursprünglicher. Selten haben meine Beine so sehr geschlottert, wenn ich frierend in meiner Hängematte einschlafen durfte. Wenn Kälte ein literarisches Prädikat wäre, Ian McGuire hätte es verdient.

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Der Abstinent von Ian McGuire

Jetzt ist Ian McGuire wieder zurück. Es ist „Der Abstinent„, der uns ins England des Jahres 1867 entführt. Es ist ein historisches Szenario, das er als Impuls für den neuen Roman für sich entdeckte. Es ist die Zeit des irischen Widerstandes gegen das britische Königshaus. Ein Widerstand, der brutal niedergeschlagen werden soll. Ganz egal, wo er zutage tritt. Zum Beispiel in Manchester – fernab von der grünen Insel…

„Eine Krähe krächzt, als zöge man einen trockenen Korken aus einer Flasche; irgendwo am Fluss klappern Wagenräder und ein Pferd wiehert. Einen langen Augenblick stehen die drei Männer Seite an Seite unter dem schweren Eichenbalken wie grob gehauene Karyatiden, getrennt und doch vereint,
dann erschreckend plötzlich sind sie weg.“

Hier werden am 23. November 1867 drei Todesurteile vollstreckt. Öffentlich zeigen die royalen Machthaber, wie sie mit den „Fenians“, den irischen Terroristen umgehen. Ihre Anschläge tragen den Konflikt von Irland ins Herz ihres Feindes. Die große irische Community in Manchester scheint das ideale Brutnest für ihren Freiheitskampf zu sein. Dass man durch die Hinrichtung der Iren die Gewaltspirale erst recht beschleunigt und Märtyrer erzeugt, scheint den Regierenden egal zu sein. Jedes Mittel ist erlaubt. Darin zumindest sind sich die Konfliktparteien einig. Vom Polizistenmord bis zur Vergeltung, die Distanz zwischen Ursache und Folge schrumpft in sich zusammen und genau hier lässt Ian McGuire seine Protagonisten agieren. Auf beiden Seiten der formierten und geschlossenen Reihen.

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Der Abstinent von Ian McGuire

Wer hier von Ian McGuire einen ausschweifenden historischen Roman erwartet, der en passant auch noch die Hintergründe des irischen Freiheitskampfes in aller Tiefe erläutert, komplexe historische Beschreibungen der Geschichte dieses Konflikts in den Mittelpunkt stellt und sozio-politische Themen im Spiegel der Zeit thematisiert, der sieht sich schnell getäuscht. Dieser Kampf ist ein Stellvertreterkrieg für alle Szenarien in der Weltgeschichte, die geeignet erscheinen, große Geschichten von einsamen Wölfen zu erzählen, die im Clash of Conflicts aufeinanderprallen. Hier geht es unvermittelt und im gestreckten Galopp zur Sache. Hier wirkt die Hinrichtung der Fenians wie der Aufzug eines Theatervorhanges, um uns einen ersten Blick auf die verfeindeten Kontrahenten werfen zu lassen. Hier betritt „Der Abstinent“ die Bühne des Freiheitskampfes. Und er betritt sie nicht allein….

Hier zeigt Ian McGuire seine größte Stärke. Es ist die Nähe zu seinen Protagonisten, die seine Romane zu psychologisch wertvollen Charakterstudien macht. Er führt seine Charaktere mit all ihren Ecken und Kanten, mit ihren persönlichen Geschichten und in aller Tiefe ins Gefecht und verwischt alle Grenzen zwischen Gut und Böse. Er gewährt tiefe Einblicke hinter die harte Schale seiner Antihelden und macht uns zu Gefährten in schwierigen Zeiten, Komplizen im Verrat, Mitwissern bei gefährlichen Plänen und nicht zuletzt zu Mittätern, wenn wieder einmal die „Rules of engagement“ verletzt werden. Es ist der irische Polizist, der aus Dublin nach Manchester geschickt wird, um bei seinen Landsleuten Spitzel anzuwerben, um den Fenians jetzt zuvorzukommen. Für Constable James O´Connor ist dieser Job alternativlos. Eine Bewährungsprobe. Jetzt, abstinent und fern der Heimat, kann er wieder zeigen, was in ihm steckt. Ein harter Hund mit dem Instinkt eines Jagdhundes, in dem die Vergangenheit sehnsuchtsvoll schlummert.

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Der Abstinent von Ian McGuire

Was er nicht ahnt, die Fenians sinnen auf Rache für die hingerichteten Patrioten und setzen dabei auf ein in Manchester unbeschriebenes Blatt. Der frisch aus Amerika eingereiste irische Bürgerkriegsveteran Stephen Doyle handelt nach der Maxime, im Krieg ist alles erlaubt und jeder Zweck heiligt die Mittel. Es entwickelt sich ein gewagtes Katz- und Mausspiel zwischen den beiden einsamen Wölfen. So unterschiedlich sie in ihren Zielen sind, so sehr ähneln sich ihre Charaktere. Getrieben vom Irrglauben, einer Sache verpflichtet zu sein. Gelenkt von der Idee, die Wahl der Mittel nur in der eigenen Hand zu haben. Unbeirrt in der Sichtweise, sich selbst auf einem fatalen Opfergang zu befinden und verwundert, wenn nicht sie den Ereignissen zum Opfer fallen. Das ist der Stoff, aus dem große Romane gewebt sind. Zwei Männer, innerlich verletzt und voll von durchlebten Verlusten, instrumentalisiert und fremdgesteuert, liefern sich nicht nur den Showdown dieses Romans. Sie liefern sich den Showdown ihres Lebens.

Ian McGuire bleibt seinem Erzählstil treu. Er schreibt Klartext, er beschönigt nicht in seinen Beschreibungen von Lebensumständen, Erfahrungen und Leid. Er erweitert den Erzählraum um ein paar wichtige Charaktere, an denen sich seine Hauptakteure reiben und aufreiben. Er bringt Liebe und Zuneigung ins Spiel, wo alles nach verbrannter Erde riecht. Er lässt sehnsuchtsvolle Momente zu, wenn Hass regiert. Und er wechselt nicht nur gekonnt die Perspektiven, sondern auch die Schauplätze. Eine Jagd, die eigentlich in Manchester begann, wird im fernen amerikanischen Harrisburg fortgesetzt. Es sind auch hier die ausgewanderten Iren, die ihrer fernen Heimat die Treue halten. Ein Spiel um Vaterlandsliebe, Loyalität und die eigenen Prinzipien. Der Einsatz ist hoch.

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Der Abstinent von Ian McGuire

„Wir stecken alle fest im selben, großen, sich langsam drehenden Hamsterrad, denkt er. Wir glauben, wir kommen voran, aber in Wahrheit geht es immer nur
im Kreis.“

Der Abstinentist alles andere als enthaltsam. Dieser Roman macht trunken vor purer Lesefreude. Gerade wird „Nordwasser“ von der BBC als Serie mit Colin Farrell in der Hauptrolle verfilmt. Man kann nur hoffen, dass „Der Abstinent“ auch einen Weg findet, um vom Kopfkino zum opulenten Realkino zu werden.

Folgen Sie mir zu weiteren Buchvorstellungen bei AstroLibrium, die uns das ewig sehnsuchtsvolle Herz der „Grünen Insel Irland“ näherbringen. Von Auswanderern und den unsterblichen Mythen, von der Geschichte des Regens bis ins ferne Brooklyn, von einem Freund der Toten bis zu den Tagen ohne Ende. Irland ist ein weites literarisches Feld, das jede Reise lohnt. Ich folge jetzt Sebastian Barry auf eine kleine irische Farm und freue mich auf die Begegnung mit „Annie Dunne„. Hier stelle ich sie Ihnen vor.

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Der Abstinent von Ian McGuire

Weihnachten 1945 – Ein Buch der Erinnerungen

Weihnachten 1945 - Ein Buch der Erinnerungen - Astrolibrium

Weihnachten 1945 – Ein Buch der Erinnerungen

Ein besonderes Weihnachtsfest steht uns bevor. Eines, von dem wir vor mehr als einem Jahr wohl nicht gedacht hätten, dass es real werden würde. Das ganze Land im Lockdown, die Geschäfte schon vor dem heiligen Fest geschlossen und eine Feier im Kreise der Familie wird durch Ausgangsbeschränkungen erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht. Wir finden Halt in den kleinen Biotopen, die wir selbst geschaffen haben, um den Turbulenzen des Alltags trotzen zu können. Ein schweres Jahr mit den Wunden einer weltweiten Pandemie liegt nun bald hinter uns. Hoffnungsschimmer sind rar in diesen Tagen, obwohl die Impfzentren allüberall aus dem Boden schießen. Heißt das, wir gehen nun in eine unbeschwerte Zukunft? Können wir uns nun beruhigen und davon ausgehen, dass wir im Jahr 2021 wieder reisen können, Buchmessen besuchen oder gar ohne Gesichtsmaske zum Bummeln durch volle Einkaufsmeilen flanieren?

Hoffnung ist ein wichtiger Ankerpunkt im Leben. Schönreden jedoch hilft uns nicht weiter. Ich gehe davon aus, dass wir auch im neuen Jahr mit einigen Einschränkungen zu leben haben, an die man sich erst gewöhnen muss. Oder an die wir uns fast schon gewöhnt haben. Homeoffice, Homeschooling, Social Distancing und andere moderne Krisenbewältigungs-Anglizismen werden uns wohl noch lange begleiten. Dabei ist klar, dass wir von niemandem, auch nicht von unserer Volksvertretung erwarten dürfen, ein Patentrezept zu besitzen, das wie eine Blaupause auf jede Gesundheitskrise passt. In kaum einer Zeit dieser jungen gemeinsamen Republik waren wohl die wirtschaftlichen gesundheitlichen, emotionalen und sozialen Herausforderungen so einschneidend wie heute. Das Miteinander wird auf harte Proben gestellt, nicht nur durch Gruppierungen, die sich der Gemeinschaft durch das beharrliche Leugnen des Coronavirus entziehen. Es bleibt sehr schwer, Halt zu suchen, zu geben und zu finden. Und doch schaffen wir es. Es gibt so viele positive Beispiele, die mich wirklich hoffen lassen, dass wir heil aus dieser Krise herauskommen. Gestärkt und solidarisch.

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Weihnachten 1945 – Ein Buch der Erinnerungen

Wenn wir uns mit unseren Großeltern unterhalten (und ja, wir können das auf so vielfältige Art und Weise, trotz aller Einschränkungen, die wir gerade zu ihrem Schutz ins Leben gerufen haben), dann werden wir schnell in Erfahrung bringen, dass dieses Weihnachtsfest mit all seinen Restriktionen nicht zu den schwersten Weihnachten im Leben unserer Großeltern zählt. Es ist wirklich eminent wichtig, die Maßstäbe im Auge zu behalten, um jede Einschränkung, die diese Corona-Pandemie mit sich bringt, ein wenig relativieren zu können. Meine eigene, inzwischen fast neunzigjährige Mutter sagt mit Nachdruck zu ihren Enkeln:

„Wer nächtelang im Luftschutzbunker saß und nicht wusste, ob das eigene Haus am nächsten Tag noch steht, der lässt sich auch durch eine Ausgangssperre wegen Corona nicht beirren.“

Vielleicht sind es diese Perspektiven, die uns jetzt helfen, einerseits Mut zu fassen und andererseits endlich den „Arsch hoch zu bekommen“, um unsere Alten nachhaltig und ohne egozentrisch überlagerte Diskussion darüber, auf was wir gerade verzichten müssen, zu beschützen. Es gäbe uns gar nicht, ohne ihre Fähigkeiten, sich mit Wucht gegen alle Krisen zu stellen, die sie erlebt haben. (Und das ganz ohne Internet, Netflix, Social Media, Onlineshopping, und Smartphones). Selbst für mich wäre im zarten Alter von 15 Jahren ein kompletter Lockdown in der Eifel des Jahres 1977 eine ganz andere Hausnummer gewesen, als er das für Jugendliche in unserer Zeit ist. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die pausenlos sagen, es könnte ja noch schlimmer sein, aber es ist mir wichtig, Zeitscheiben miteinander zu vergleichen, bevor man sich und seine Kinder in eine dramatische Opferrolle begibt und aus dem Jammertal nicht mehr entkommt.

Weihnachten 1945 - Ein Buch der Erinnerungen - Astrolibrium

Weihnachten 1945 – Ein Buch der Erinnerungen

Wie war das? Das schwerste Weihnachtsfest seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs? Ein Satz den man in letzter Zeit recht häufig hört. Diejenigen, die dieses Weihnachten selbst erlebt haben, werden sich wohl verwundert die ergrauten Augen reiben. Vielleicht ist es gerade jetzt an der Zeit, mit unseren Eltern und Großeltern über genau diese Zeit zu sprechen, über die sie eigentlich viel zu wenig erzählt haben. Vielleicht hilft auch ein Buch, das sich genau mit diesem ersten Weihnachtsfest im Frieden beschäftigt. Es ist nicht verkehrt, zurückzublicken, um danach im Vorwärtsgang die richtige Entscheidung für die eigene Geisteshaltung angesichts solcher Krisen zu treffen.

Weihnachten 1945 – Ein Buch der Erinnerungen“ (Claus Hinrch Cassdorf Hrsg.)

Die „dtv-Verlagsgesellschaft“ hat sicherlich nicht grundlos den folgenden Slogan Große Autoren – große Schriftauf die Rückseite des Taschenbuches gedruckt. Beides trifft zu. Beides ist sinnvoll, weil alleine schon der Großdruck es ermöglicht, die Lesenden mit einzubeziehen, die sich noch persönlich an diese Zeit erinnern können. Wir haben es hier nicht mit einem Opferbuch zu tun. Hier wird nicht gejammert. Hier finden sich starke Stimmen, die schon klar betonen, dass dieses Jahr 1945 das Ende eines Sturms darstellte, den Nazi-Deutschland damals selbst heraufbeschworen hatte. Eine Sichtweise, die man nie vergessen sollte, bevor man sich den Schicksalen derer annimmt, die jetzt verzweifelt auf die Heimkehr der Söhne und Männer aus dem Krieg warteten, der gerade erst verloren wurde. Ein Land in Trümmern atmete zum ersten Mal seit 1939 auf. Und dieses Aufatmen schmeckte sehr bitter, wurde man sich doch immer mehr bewusst, was man angerichtet hatte. Ein Gefühl, das sich auch in meiner eigenen Familie Raum verschaffte. Schuldlos waren nur sehr wenige. Wissend waren die meisten. Verdrängt hatten es plötzlich alle. Vom Holocaust bis zur Kriegstreiberei, immer mehr kam unmissverständlich an die Oberfläche.

Weihnachten 1945 - Ein Buch der Erinnerungen - Astrolibrium

Weihnachten 1945 – Ein Buch der Erinnerungen

24 Perspektiven warten in diesem Buch darauf, von uns eingenommen zu werden. 24 Persönlichkeiten, an die sich unsere Eltern und Großeltern (und wir uns wohl auch) noch sehr gut erinnern werden, schrieben hier ganz persönliche Erinnerungen nieder. Sie erzählen differenziert, maßvoll und voller Empathie, wie sie das Weihnachtsfest im Jahr 1945 verlebten. Sie schreiben aus der Perspektive von Exilanten, die geflüchtet waren und nun in die Heimat zurückkehrten und nichts wiedererkannten, was sie einst zurückgelassen hatten. Sie schreiben aus der Sichtweise jener Jugendlichen, die vom Geist der Nazi-Diktatur verblendet waren und nun auf den Trümmern ihres Lebens ein neues und freies Land aufbauen wollten. Sie schreiben als Waisen, die zu dieser Zeit bereits ihre Familie verloren hatten, und die alleine sicherlich nicht zurechtgekommen wären. Es sind intime und extrem persönliche Einsichten, die sie uns gewähren.

Sie erzählen nicht vom großen Ganzen. Sie berichten kleinteilig von den Biotopen, in denen sie sich wiederfanden. Sie berichten vom kargen Weihnachtsmahl, von Abenden der Kälte ohne Licht. Von zerbombten Häusern und Trauer um die Toten der Familie. In ihren kleinen Geschenken von Eltern und Freunden finden sie Hoffnung, Tannenbäume sind aus Papier gebastelt. Ein Weihnachtsbraten hatte nichts mit dem gemein, was wir heute unter einem Stück Fleisch verstehen und eine Suppe wurde schon zum Festmahl, wenn sie Fettaugen enthielt. Es ist die Stunde Null, die wir hier am Heiligabend erleben. Und doch strahlt aus all diesen Erzählungen auch die Zuversicht hervor, einen Wandel herbeiführen zu können und eine Zukunft anders zu gestalten. Pläne werden gemacht, in kleinen Schritten wird das Morgen skizziert. Ein Silberstreif am Horizont.

Weihnachten 1945 - Ein Buch der Erinnerungen - Astrolibrium

Weihnachten 1945 – Ein Buch der Erinnerungen

Es sind lesenswerte Texte, die sich zu diesem Erinnerungsbuch verketten, und uns zum Teil eines Weihnachtsfestes werden lassen, das aus heutiger Sicht kaum zu begreifen und kaum zu greifen ist. Es sind Texte von Heinrich Böll, Heinrich Albertz, Christine Brückner, Klaus von Bismarck, Leonie Ossowski, Annemarie Renger, Luise Rinser, Siegfried Lenz, Hildegard Hamm-Brücher, Walter Scheel und vielen mehr, die uns im wahrsten Sinne des Wortes mitnehmen. Beiträge, die mir persönlich gezeigt haben, wie sehr sich dieses Weihnachtsfest vom letzten Weihnachtsfest des Krieges im Jahr 1944 unterschied. In meiner eigenen Familienchronik war das Jahr vor dem Kriegsende das Ereignis, das meine Großeltern dauerhaft traumatisiert hatte. Ich schrieb darüber. Vielleicht möchtet ihr diese Gedanken lesen, wenn ihr am Ende dieses Textes angelangt seid.

Weihnachten 1944. Ein Ring, der alles veränderte…

Ich wünsche uns allen ein friedvolles Weihnachtsfest mit schönen Momenten, die dann später für unsere Kinder zu guten Erinnerungen werden. Ich wünsche uns, dass diese Erinnerungen eine Zeit ins Gedächtnis rufen, die nicht leicht war, in der wir uns jedoch verantwortungsbewusst und liebevoll um unsere Nächsten gekümmert haben. In diesen Momenten beginnen die Augenblicke, in denen ihr diese Erinnerungen gestaltet und sie zu Bausteinen im Gewölbe eurer Familiengeschichte macht. Lasst sie tragfähig und kunterbunt werden. Eure Kinder werden euch das nicht vergessen. Frohes Fest.

Weihnachten 1945 - Ein Buch der Erinnerungen - Astrolibrium

Weihnachten 1945 – Ein Buch der Erinnerungen

Wilde Freude von Sorj Chalandon

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Wilde Freude von Sorj Chalandon

Es ist mir eine wahrhaftige und Wilde Freude, den neuen gleichnamigen Roman aus der Feder von Sorj Chalandon vorstellen zu können. Ich fühle mich immer am wohlsten in Büchern und Hörbüchern, wenn ich dem Autor oder der Autorin bereits auf meinen Wegen durch die weite Welt der Literatur begegnet bin. Es fühlt sich an, wie in einen mir bekannten Erzählraum einzutreten, von dem ich ahne, was ich erwarten darf und was auf mich zukommt. Sorj Chalandon ist eine bekannte Größe in meinem Lesen. Ich weiß, dass er in der Lage ist, Gefühlswelten erlebbar zu machen. Ich weiß, dass er seine Geschichten gerne in unvorhersehbare Richtungen treibt und ich habe in seinem Roman „Am Tag davor“ eine Art von Urvertrauen zu ihm aufgebaut, weil er mich schon damals an die Hand nahm, und mich bis zum Ende sicher durch seine Geschichte und die unterschiedlichen Aspekte seines Romans führte. Aus gutem Grund schrieb ich:

Aus dem Bergarbeiter-Roman wird schlagartig ein brillanter Justiz-Roman, der es schafft, die Atmosphäre der Kohle-Region in den Gerichtssaal zu transportieren. Es ist die Aufarbeitung einer Rache. Die Abrechnung mit dem scheinbaren Täter, aus der im Verlauf des Prozesses jedoch die Aufarbeitung der Katastrophe wird. Wo ist Schuld zu suchen? Wo wird man sie finden? Wer hat das Recht zu rächen? Und nicht zuletzt die Frage, was „Am Tag davor“ geschah, zieht uns den Boden unter den Füßen weg. Hier sitzen wir bei den Beobachtern des Prozesses und wissen nicht, wie wir urteilen sollten. Wir wissen nichts. Nur, dass wir keine Opfer und keine Täter erkennen. Die Grenzen in dieser Bewältigungsgeschichte verschwimmen. Und das auf eine intelligent-emotionale Art und Weise, die lange im Gedächtnis bleiben wird.

Wilde Freude von Sorj Chalandon - AstroLibrium

Wilde Freude von Sorj Chalandon

Worauf war ich also vorbereitet, als ich mich in das Buch Wilde Freude und die Hörbuchfassung, gelesen von Jodie Ahlborn, begab? Nein, Chalandon würde nicht nur ein Thema behandeln. Er würde Genres miteinander verbinden und am Ende einer Geschichte auf die Füße helfen, die eben nur in diesem Mix existieren kann. Er würde keinen Roman über die Krebserkrankung seiner Protagonistin Jeanne verfassen, er würde keinen Roman über die Freundschaft von Frauen schreiben, die er zu einer im tiefsten Inneren verschworenen Schicksalsgemeinschaft zusammenfügt. Und er würde sicher keinen Thriller über den Raubüberfall auf einen Nobeljuwelier in Paris schreiben. All diese Ingredienzien der Chalandon-Rezeptur sind im Klappentext aufgeführt. Klingt wie eines buntes Potpourri aus Handlungssträngen, die nicht zusammenpassen. Klingt allerdings nach einem typischen Chalandon, da literarische Einbahnstraßen nicht zur Landkarte seines Schreibens gehören. Es sind Kreuzungen, Boulevards und Feldwege, die zu seinem Stadtplan werden, in dem wir der menschlichen Psyche begegnen.

Da ist Jeanne. Die Pariser Buchhändlerin, der wir zu einer Mammografie folgen und miterleben müssen, wie sich ihr Leben von einer auf die andere Sekunde dramatisch in die Zeitscheiben vor und nach der Krebsdiagnose aufteilt. Chalandon versetzt uns hier tief in das Innenleben einer Frau, die sich nach einem bereits erlittenen Verlust erneut darauf einstellen muss, einen medizinischen Kampf gegen die Zeit zu führen. Hier geht der Autor schonungslos mit den Wahrheiten um, er löst blankes Entsetzen aus, wenn er „seine“ Jeanne im Stich lässt, weil er ihr einen Ehemann zur Seite stellt, der wohl einer der am wenigsten mitfühlenden Charaktere ist, der mir jemals in einem Buch begegnet ist. Ich scheue mich nicht, ihn hier als „echtes Arschloch“ zu bezeichnen. Ein Prädikat, das er sich im Verlauf der Geschichte ehrlich verdient hat. Nur ein guter Autor ist in der Lage, mich mit einer solchen Figur zur Lese-Weißglut zu treiben. Gelungen. Danke.

Wilde Freude von Sorj Chalandon - AstroLibrium

Wilde Freude von Sorj Chalandon

Und da sind die drei Frauen, denen Jeanne während der Therapie über den Weg läuft. Brigitte, Assia und Melody. Alle vom Leben gezeichnet, alle in der Situation, die kaum Auswege kennt und doch mit feinen Antennen für ihre Mitmenschen ausgestattet. Sie entdecken das Gemeinsame. Sie verbünden sich und suchen nach einem Weg, in ihrer eigenen Ausweglosigkeit dem eigenen Leben wieder einen neuen Sinn zu geben. Was also könnte näher liegen, als sich nun zusammenzutun, um Melody zu helfen, die nichts anderes mehr gebrauchen kann, als Geld. Sie folgt einer Mission, zu der sich in aller Konsequenz unsere Ladies zusammenschließen. Sie, die kaum etwas zu verlieren haben, beschließen, einen Pariser Nobeljuwelier zu überfallen. Hier haben wir ihn. Den augenscheinlichen Bruch in einem Roman, der wie eine Krankenakte begann. Hier ist Chalandon in seinem Element.

Hier passt augenscheinlich nichts mehr zusammen. Nicht der Titel zum Buch, nicht die Protagonistinnen zur Handlung, nicht die Männer ins Bild, nicht die Krankheiten zur Geschichte eines Überfalls. Es fühlt sich an, wie ein Puzzle aus Steinen, die sich kaum verbinden lassen. DAS IST CHALANDON. Denn so spiegelt er das Leben literarisch im Herzen seiner Erzählungen. Auch in unserem Leben passt nicht viel zusammen. Nicht die Realität zu unseren Träumen, nicht die Menschen aus unserem Umfeld zu Visionen von Harmonie, nicht die Krankheiten zu unserer Vorstellung von einer heilen Welt. Und letztlich würden wir den Titel unserer Lebensgeschichte auch gerne ändern. Hier wird aus einem Roman ein Spiegelkabinett des wahren Lebens. „Wilde Freude“ ist für mich der große Trugschluss, der diesen Roman so trefflich auf den Punkt bringt.

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Wilde Freude von Sorj Chalandon

Aus all diesen Widersprüchen zieht Chalandon die Berechtigung, als Schriftsteller zu verbinden, was im eigentlichen Sinn niemals miteinander in Beziehung zu setzen ist. Seine Fiktion schlägt Brücken über Flüsse, die so weit auseinanderliegen, dass man in der kühnsten Fantasie keinen Brückenschlag erwarten würde. Ihm gelingt es, in dieser Geschichte, Puzzlesteine zu einem Bild zu vereinen, die zuvor als unvereinbar galten:

  • Krebs und Crime
  • Mammografie und Überfallskizzen
  • Therapeutische Perücken und Täter-Tarnung
  • Empathie und Betrug
  • Hass und Liebe
  • Selbstlosigkeit und Egozentrik
  • Kinderlosigkeit und Elternschaft

Oder, um es mit den Worten des Autors zu sagen, hier ein Zitat aus dem Roman:

Dies ist die Geschichte von vier Frauen. Sie wagten sich sehr weit vor. In die tiefste Dunkelheit, in die größte Gefahr, in den äußersten Wahnsinn. Gemeinsam rissen sie die Krebsstation nieder und errichteten auf ihren Trümmern eine Zitadelle.

Ob man sich dem Roman „Wilde Freude“ lesend in der gebundenen dtv-Ausgabe nähert, oder sich auf das Hörbuch einlässt, es ist eine besondere literarische Reise, die uns erwartet. In der ungekürzten Der Audio Verlag-Lesung brilliert Jodie Ahlborn in besonderer Weise, weil man ihr die Zerrissenheit Jeannes deutlich anhört. Aus ihrer Sicht ist der Roman erzählt. Eine wundervolle Spielwiese für eine große Stimme, die in einem einzigen Aufzug von der leidenden Frau zur kaltblütigen Räuberin mutieren darf. Großes Kopf- und Stimmkino…

Wilde Freude von Sorj Chalandon - AstroLibrium

Wilde Freude von Sorj Chalandon

Ein Nachtrag: Chalandon weiß, worüber er schreibt, wenn er von Krebs schreibt. Eine Krankheit, die nicht nur ihn selbst, sondern auch seine Ehefrau heimgesucht hat. Es ist sicher eine Expertise, auf die man als Autor verzichten kann. Allerdings spürt man jeder Faser des Buches in den Krebs-Passagen an, dass hier mehr erzählt wird, als nur eine Geschichte. Constanze Matthes weist in ihrer Buchvorstellung auf dem Blog „Zeichen & Zeiten“ ebenso deutlich darauf hin. Was macht der Krebs mit einem Menschen? Wie sehr dominiert die Angst das Leben? Wann geht die Hoffnung verloren? Wie groß wird die pure Eifersucht auf die gesunden Menschen, die nur Mitleid zeigen? Und wann ist der Point of no Return erreicht, an dem man zu allem bereit ist? Die Antworten sind in diesem Roman verborgen. Es bereitet eine „Wilde Freude“, sie zu teilen…

Wilde Freude von Sorj Chalandon - AstroLibrium

Wilde Freude von Sorj Chalandon

Iris Wolff und Daniel Mellem im Gespräch

Buchmessespitzen - Die Interviews - AstroLibrium

Buchmessespitzen – Die Interviews – AstroLibrium

Frankfurter Buchmesse, digital. Eine neue literarische Welt, die uns in diesem Jahr erwartet, bringt auch ihre guten Seiten mit sich. Die Buchmessespitzen in München lässt Schriftsteller*innen in der bayerischen Metropole mit ihren Werken auftreten, die zu genau diesem Zeitpunkt in Frankfurt die Messehallen dominieren würden. Ich habe die Ehre im Rahmen dieser Lesungsveranstaltung gleich zwei Interviews für Literatur Radio Hörbahn führen zu können, auf die ich mich besonders freue.

Hier geht es ohne große Umschweife zu meinen Gesprächen mit:

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff - Das Interview - AstroLibrium

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff – Das Interview

Iris Wolff

Autorin von „Die Unschärfe der Welt„, nominiert für den Bayerischen Buchpreis, den „Wilhelm-Raabe-Preis“ und auf der Shortlist „Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhändler*innen“. Zu ihrem Roman schrieb ich in meiner Rezension:

Warum ich bereits jetzt denke, dass „Die Unschärfe der Welt“ ein preiswürdiger Roman ist? Weil ich es tief in mir drin gespürt habe. Mit jeder Faser meines lesenden Herzens und mit jedem Wort, das ich aufsaugen durfte. Dieses Buch zu lesen ist wohl die beste Entscheidung, die man am Anfang des Lesens treffen kann. Denn:

„Für Anfänge musste man sich entscheiden, Enden kamen von allein,
wenn man sich nicht entschieden hatte.“ 

Ein Gespräch über literarische Zauberer, heimatlose Suppen, Windwanderer, ein satirisches Staatsbegräbnis, Heimat, Sehnsucht, Siebenbürgen und natürlich die Nominierung zum Bayerischen Buchpreis. Ganz nebenbei erfahren Sie, welchen eigentlichen Titel der Roman lange Zeit trug. Hier geht´s zum PodCast.

Die Erfindung des Countdowns - Daniel Mellem - Das Interview - Astrolibrium

Die Erfindung des Countdowns – Daniel Mellem – Das Interview

Daniel Mellem

Autor von „Die Erfindung des Countdowns„, Physiker und Schriftsteller, mit dem Debüt über den Raketenforscher Hermann Oberth. Zu seinem Roman schrieb ich in meiner Rezension:

Woran jedoch lag es, dass man den großen Vordenker des Raketenantriebs hier übersehen hatte? Dieser Frage geht Daniel Mellem auf die Spur. Und wer, wenn nicht er könnte berufener sein, um das Schicksal jenes Wissenschaftlers über ein Zeitfenster von fast 70 Jahren zu skizzieren und zu erzählen? Der promovierte Physiker gehört für mich zu den kommenden lauten Stimmen im Literaturbetrieb, weil es ihm gelingt, seine wissenschaftliche Prägung sehr nuanciert einzusetzen, um seinen Erzählfluss nicht zu überfrachten. Und wie er erzählt. Man kann sich weder dem Sog des Romans noch der Konstruktion entziehen. 

Ein Gespräch über: Ethik und Wissenschaft, schreibende Physiker, fantastische Visionäre, Jules Verne, die Ausweglosigkeit der Herkunft und jenen Countdown, der unsere Welt veränderte. Hier geht´s zum PodCast.

Die Glockenbach Buchhandlung in München - AstroLibrium

Die Glockenbach Buchhandlung in München

Mein besonderer Dank gilt der Glockenbach Buchhandlung München, die spontan die Pforten öffnete und als Location für die Aufzeichnung des Interviews zur Verfügung stand. Ein absolut erlesenes Wohlfühl-Ambiente. (Das machen wir mal wieder…) 

Buchmessespitzen - Die Interviews - AstroLibrium

Buchmessespitzen München – Die Interviews

Zwei Gespräche, zwei so verschiedene Werke und doch wird es verwundern, welche Gemeinsamkeit in den Interviews zutage tritt. Die literarische Welt ist wirklich klein. 

Danke an den Kaffeehaussitzer Uwe Kalkowski, für die Erwähnung dieser Interviews in der Kategorie „Fundstücke aus den Literaturblogs“ im Buchmarkt, Ideenmagazin für den Buchhandel, Oktober 2020.

Buchhandlung Lesezeichen Germering - Astrolibrium

Meine Partnerbuchhandlung zum Bayerischen Buchpreis