Wie kann man ein ganzes Leben erzählen? Wie schafft man es, seine Leserschaft mit der eigenen ereignisreichen Lebensgeschichte zu konfrontieren und dabei nicht nur bestens zu unterhalten, sondern zu bewegen, aufzurütteln, in ungläubiges Staunen zu versetzen und aus der Summe der eigenen subjektiven Erinnerungen den literarischen Extrakt einer Epoche herauszupressen, die als Deutsch-Deutsche-Geschichte nur noch verschwommen wahrgenommen wird? Wie schreibt man als Schriftstellerin, die sich im Herzen zweier Deutscher Staaten ungeteilter Aufmerksamkeit sicher sein konnte, über dieses geteilte Leben? Fragen wir nicht. Lesen wir doch einfach, weil die Antworten auf diese Fragen gefunden sind. Es sind 29 Erzählungen, es ist ein Leben in Geschichten, es sind gerade einmal 220 Buchseiten, in die uns Helga Schubert entführt, um uns zu Zeitzeugen ihrer Geschichte zu machen.
Natürlich ist mir klar, dass sich gerade diese Autorin nicht selbst ausliefert, ohne ihre eigene Geschichte fiktional zu verfremden und sich durch einen Schleier vor allzu neugierigen Blicken zu schützen. Autobiographisches Schreiben ist ein Balanceakt, in dem das Scheitern immer zu einer der beiden Seiten der Medaille gehört. Hier jedoch muss man diese gekonnt vorgetragene Mischung aus Wahrheit und Erfindung einfach richtig einordnen können. Was sollte eine Autorin, die mehr als ein Jahrzehnt lang von der STASI intensiv beobachtet wurde, deren persönlicher und literarischer Freiraum in einer sozialistischen Diktatur an die kurze Leine genommen wurde, jetzt dazu bringen, unverblümt und ohne Rückfallposition für die eigene Psyche Farbe zu bekennen? Nein. Sie legt uns mit ihrem Buch „Vom Aufstehen“ sicher kein Sachbuch in die Hände. Sie liefert sich weder uns noch den Deutungshoheitssuchenden der Deutschen Geschichte aus. Sie bleibt die typische Helga Schubert. Sie lädt uns dazu ein, sie zu interpretieren.
Dabei tritt das Groteske eines Lebens als Schriftstellerin in einem geteilten Land schon im Titel dieses Buches zutage. „Vom Aufstehen“ ist jene Erzählung, mit der Helga Schubert im Jahr 2020 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Die Resonanz auf diesen Text war so gewaltig, dass es nur allzu logisch erschien, ihn endlich auf den deutschsprachigen Olymp zu heben. Diese Geschichte allein beinhaltet schon 80 Jahre eines Lebens. Sie besticht durch die Verzögerung eines Vorgangs, der im Titel doch in aller Klarheit beschrieben ist. Nein. Eine Helga Schubert steht nicht einfach auf. Sie blickt zurück auf entscheidende Sequenzen ihres Lebens und macht ihren Frieden mit der Frau, die ihr Leben geprägt hatte. Aus einer Abrechnung wird ein Aufstehen in eine neue Zeit ohne Schuldzuweisungen. Ja, es ist grotesk, dass Helga Schubert mit einem Literaturpreis ausgezeichnet wurde, zu dem sie 1980 nicht einmal anreisen durfte. Die DDR hatte ihr die Grenzen aufgezeigt. Begründung:
„Durch den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb soll das derzeitig von feindlichen Kräften betriebene Weiterbestehen einer einheitlichen deutschsprachigen Literatur weiter hochgespielt werden.“
Brillant war der Text, mit dem sie gewann. Und doch liest er sich unvollendet und in Teilen nicht ganz auserzählt. Er wirft Fragen auf, auf die wir gerne weiter eingegangen wären. Es ist ein fragmentarischer Text, der wie die Einladung zu mehr wirkt, ohne uns zu verraten, wann und wo dieses „Mehr“ zu finden sein wird. Jetzt gibt sie die Antwort. „Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten“ löst das Versprechen ein, das sie uns im Jahr 2020 gab. Die letzte Geschichte des Buches kennen wir. Sie in vollem Umfang zu verstehen ist das Privileg, das wir nun genießen dürfen, wenn wir uns dem Anfang allen Erzählens nähern. Dieses Buch ist also rückwärts erzählt. Wir sammeln die losen Fäden eines Lebens auf, die wir ganz am Ende zu dem Teppich zusammenfügen, auf dem wir uns nach dem Aufstehen aufrichten. Allein diese Konstruktion ist preiswürdig.
„Mein idealer Ort ist eine Erinnerung“
Mit diesen Worten fängt sie mich. Mit diesen Worten hat mich Helga Schubert schon auf der ersten Seite im Spinnennetz ihrer Erzählungen eingewoben und beginnt in sehr einfühlsamen Worten den Moment des Aufwachens nach dem Mittagsschlaf im Garten ihrer Großmutter zu beschreiben. Es ist die erste Erinnerung, der alle Erinnerungen im Gefolge treu ergeben sind. Es ist der lichtdurchflutete Moment, der nach Sommerferien schmeckt, einen Sehnsuchtsort vor dem geistigen Auge mit neuem Leben erfüllt und in einer wahren Kaskade aus lebenswichtigen Impulsen dem Erinnern Schwung verleiht. Neben den rein inhaltlichen Aspekten des Schreibens gelingt es Helga Schubert, ihren eigenen Gedankenprozess auf den Lesenden zu übertragen. Ich schließe das Buch in Gedanken an meine Sehnsuchtsorte, an meine Orte der prägenden Erinnerungen und an die Menschen, die mir beim Aufstehen halfen. „Vom Aufstehen“ ist eines der ganz wenigen Bücher, das mich dauerhaft unter Strom setzt, weil ich die Impulse fühle, die meine Erinnerungen wie mit einem Memoiren-Defibrillator wiederbeleben.
Dabei sind Helga Schuberts Bilder relevant. Ihre Betrachtungen thematisieren nicht nur das Fehlen ihres eigenen Vaters im Gesamtgefüge ihres Lebens, die fehlende und kaum zu kompensierende moralische Leitschnur und das Trauma ihres Lebens. Es ist die Betrachtung über das allgemeine Fehlen, die hier ihren Anfang nimmt. Freiheit und Freiraum, Meinung, Haltung und Reise. Alles auf der Negativseite des Lebens. Hier ist es eine selbstkritische Schriftstellerin, die auch mit ihrer Rolle als Autorin in der DDR nicht zimperlich umgeht. Sie schreibt von richtungsweisenden Entscheidungen, die sie selbst bei der Wahl der Fahrrichtung in einem Zug nicht mehr vergessen kann. Es sind die augenscheinlich kleinen und privaten Erzählungen der Autorin, die so viel verraten, ohne sie zu demaskieren. Pathos: Fehlanzeige. Bedauern nur dann, wenn es Freiheit betrifft, die sie im geteilten Land nicht erleben durfte.
„Es gab ja so viele Freiheiten, die wir nicht hatten.“
Helga Schubert legt sich selbst auf den Objektträger der Geschichte. Uns fällt es als Betrachter oftmals leicht, sie zu erkennen, dann wieder verschwimmt das Bild und wir justieren die Schärfe am Beispiel unserer eigenen Erinnerungen. So werden diese Geschichten und Erzählungen zum Sinnbild für Erinnerungen, denen man sich stellen muss:
„Geschichten als Mikroskop. Geschichten als Spiegel. Die guten Geschichten sind wie das Leben tragikomisch, plötzlich reißt mich die Geschichte aus dem Mitleid in die Ironie, aus der Ironie in die Verachtung, aus der Verachtung ins Verständnis. Und alles in dem Moment, in dem ich mich auf eine Sicht eingelassen hatte.“
„Vom Aufstehen“ ist kein literarischer Altweibersommer einer Autorin, die sich in ihrer Altersweisheit sonnt. Ganz im Gegenteil. Es ist die Zeit, die solche Erinnerungen aus dem Sand des Alltags herauswäscht. Manchmal findet sich dabei Gold, oftmals ist es nur eine unscheinbare Versteinerung, die sichtbar wird. Es sind solche Bücher, die wir sehr genau lesen sollten. Sie nehmen vorweg, was wir später zu erzählen haben. Vielleicht sind unsere Erinnerungen nicht so weltbewegend, nicht von großer medialer Aufmerksamkeit flankiert und letztlich völlig unbedeutend. ABER… Es werden unsere Erinnerungen sein und sie werden unsere Geschichten erzählen. So, wie uns Monika Helfer von ihrer Bagage und ihrem Vati erzählte. So, wie uns Helga Schubert etwas „Vom Aufstehen“ erzählte. Keine Erinnerung ist es wert, unausgesprochen zu sein.
UPDATE: Die Nominierungen für den BR 2 – Publikumspreis:
- Ewald Arenz, Der große Sommer (DuMont Buchverlag)
- Mai Thi Nguyen-Kim, Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit (Droemer Knaur)
- Richard David Precht, Von der Pflicht (Goldmann Verlag)
- Helga Schubert, Vom Aufstehen (dtv Verlagsgesellschaft)
- Juli Zeh, Über Menschen (Luchterhand Literaturverlag)
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