Die Zeit heilt alle Wunden? Nicht wirklich. Alleine die Literatur sorgt dafür, dass man immer wieder an Schocknachrichten aus der Vergangenheit erinnert wird. Sie trägt die Verantwortung für die Konsequenzen einer literarischen Aufarbeitung, die geeignet ist, altes Narbengewebe wieder aufzureißen und lange verdrängte Ereignisse erneut in den Brennpunkt zu rücken. Hier wirkt die Literatur wie ein Gerichtsprozess, der Jahre nach der Tat alle Details des Verbrechens in epischer Breite ausführt, und den Angehörigen der Opfer kaum Erleichterung verschafft. Oft passiert genau das Gegenteil. Wenn dann Prozess und Literatur Hand in Hand gehen, liegt eine hochexplosive Mischung vor, der man sich nur behutsam nähern sollte. (Weiterhören – hier geht´s zum PodCast)
Fünfeinhalb Jahre sind seit dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ in Paris vergangen. Am 7. Januar 2015 richteten zwei islamistische Terroristen in der Rue Nicolas Appert ein Blutbad an und massakrierten elf Menschen, verletzten mehrere Anwesende schwer und töteten auf ihrer Flucht einen Polizisten. In ihrem Gefolge kam es zu weiteren Anschlägen, nicht nur in der Hauptstadt. Wir sehen wohl alle noch die dramatischen Bilder von einst vor Augen. Ein Paris in Schockstarre, trauernde Menschen vor den Redaktionsräumen von „Charlie Hebdo„, Ein Supermarkt voller Geiseln, in dem sich ein weiterer Terrorist verschanzt hatte. Polizei-Einsätze und weitere Tote. Erschossene Attentäter und eine Prozession der Erschütterten unter dem Motto „Je suis Charlie„. Ich denke, niemand hat diese Januartage vergessen.
In diesen Tagen hat in Paris der Prozess gegen die Hintermänner der Terroristen begonnen. Die Corona-Pandemie hat den Prozessauftakt verschoben. Gleichzeitig hat die neue Redaktion von Charlie Hebdo das Magazin neu aufgelegt, das den Anschlag der Islamisten verursacht hatte. Mohammed-Karikaturen hatten für einen Aufschrei in der islamischen Welt gesorgt und Extremisten dazu veranlasst, ihren Propheten rächen zu wollen. Unter dem Titel „Tout ça pour ça“ (All dies, nur dafür?) wurde das damalige Skandalblatt in einer Auflage von rund 400000 Exemplaren an die Kiosks der Metropole ausgeliefert. Der Aufschrei folgte sofort. Bilder der Überlebenden beim Prozess zeigen das Ausmaß der Traumatisierungen aus dem Jahr 2015. Nicht aufgeben, immer weiter für die Presse- und Gedankenfreiheit zu kämpfen, vereint die Menschen in Frankreich. Die Narben sind tief. Und jetzt kommt auch noch ein Roman hinzu…
„Oberkampf“ von Hilmar Klute mutet wie eine martialische Überschrift an, die uns auf eine absolute Meta-Ebene der Konfliktbewältigung vorbereitet. Dabei entpuppt sich der kämpferische Titel schnell als verträumte Straße mit gleichnamiger Metro-Station in unmittelbarer Nähe zu den Redaktionsräumen der Satirezeitschrift. Es sind gerade mal neun Gehminuten von der Rue Oberkampf Nr.11 bis ins Auge des Orkans. Und genau hier zieht Jonas Becker am 6. Januar 2015 ein. Tief in der Midlifecrisis gefangen, die eigene Ehe gescheitert, eine Agentur in den Sand gesetzt und nun auf der Suche nach einem literarischen Restart im Herzen von Paris. Im Auftrag eines Verlages hat er jetzt nur noch ein Ziel. Den ebenso legendären, wie erfolglosen Schriftsteller Richard Stein zu treffen und seine Biografie zu schreiben. Was eigentlich recht harmlos klingt, wird schnell zu einem Ritt auf einer doppelt geschliffenen Rasierklinge in einer Stadt, in der schon am nächsten Tag nichts mehr so ist, wie es je zuvor war. Am 7. Januar bricht die Hölle los.
Hilmar Klute legt einen bipolaren Roman vor, in dem es gelingt, die Menschen in den Vordergrund zu stellen und gleichzeitig die Situation in Paris nicht zur Kulisse zu degradieren. Ein Ausnahmebuch zu einer Stadt im Ausnahmezustand. Es sind die zwei Pole dieser MetroPole, die den Erzählraum abstecken. Es sind die Begegnungen, die aus Jonas Becker einen Wanderer in zwei unterschiedlichen Welten machen. Es ist in erster Linie der Schriftsteller Richard Stein, der ihn in seine Welt entführt. Und so, wie es am geografischen Nordpol nun mal wirklich keine Pinguine gibt, existiert in der Welt des Egozentrikers Stein kein Terror. Hier steht die Biografie im Vordergrund. Losgelöst von den Salven, die in den Straßen von Paris ihren lauten Nachhall finden. Hier sind es die Salven eines Lebens im Tunnelblick des Ichs, die in einem Buch verdichtet werden sollen. Und Steins Vorrat an Munition ist unendlich.
Und dann ist es die Zufallsbekanntschaft, die zuerst zur Liaison und dann zu viel mehr wird, die Jonas Becker mit der Pariser Archivarin Christine zum Südpol dieser Geschichte führt. Hier erlebt er die Realität des Terrors in der Stadt, hier blickt er hinter die Kulissen der Emotionen und der Trauer. Hier wird er von Christine mit Bildern aus den Banlieues konfrontiert, weil sie ihm die Ausweglosigkeit der Ausgestoßenen zeigen möchte. Hier wird er hineingestoßen in eine Stadt, die darum kämpft, ihren Alltagsstolz zu bewahren. Hilmar Klute bewegt sich literarisch brillant zwischen diesen Welten. Er transportiert die Stimmung nach dem Anschlag in jede Zeile seines Romans. Und doch gelingen ihm auch die zarten und magischen Zwischentöne, die einer Emotionalität zu Höhenflügen verhilft, die genau in diesen Zeiten so lebenswichtig ist. Es ist der Beginn der Liaison zwischen Jonas und Christine, die so sehr nach dem unbeschwerten Paris schmeckt und riecht, wie man es sich einfach nur träumen kann…
„Dann“, sagte sie… „vielleicht auf ein anderes Mal. Vielleicht im Centenaire eines Mittags.“ „Ich werde da sein“ sagte Jonas…
Es ist der scharfe Kontrast zwischen der Geschichte des Anschlages und einem Künstlerroman, der uns durch die Seiten von „Oberkampf“ treibt. Es sind brutale Schnitte, die uns in zwei Welten entführen, deren Schnittmenge äußerst gering zu sein scheint. Es ist Jonas Becker, der versucht, Verbindungslinien zu ziehen. Er trägt seine eigenen Schlachten aus. Er will seinen Job machen und mit Christine ein neues Leben beginnen. Ein Konflikt, der ihn an die Grenzen bringt. Hilmar Klute bettet seinen Roman nicht in dieses Szenario ein, weil er sich einer Kulisse bedient. Er beschreibt ein Paris, das er selbst erlebt hatte. Er verarbeitet sicher auch selbst, wie sich ein Autor inmitten der Wirren jener Tage gefühlt hat. Es ist beeindruckend, wie er dem Erschrecken und dem Gefühl, manchmal nur ein Voyeur zu sein, Ausdruck verleiht. Es ist erschreckend, wie einfach der Weg zur hermetisch abgeschlossenen Ignoranz sein kann, wenn man sich hinter einer Aufgabe versteckt. Es ist sehr atmosphärisch, war er erzählt und wie es ihm gelingt, Nord- und Südpol der bipolaren Geschichte zu vereinen.
Wir finden viele literarische Entsprechungen, wenn wir die Rue „Oberkampf„ Nr. 11 betreten. Hilmar Klute erzählt von der „Unterwerfung“ von Michel Houellebecq, jenem Roman, in dem ein muslimischer Bürgermeister Paris regiert, und der genau in den Tagen des Anschlages auf Charlie Hebdo erschien. Wir fühlen uns an Bücher zu diesen Ereignissen erinnert. Klute gelingt dieser intensive Einblick in die französische Gesellschaft in einer Intensität, die ich zuvor nur bei Virginie Despentes gefühlt habe. Ihre Trilogie über „Das Leben des Vernon Subutex“ endet dort, wo Klute beginnt. In allen Beschreibungen schwingt „Die Leichtigkeit“ mit, die an diesem 7. Januar 2015 verloren ging. Ein Verlust den Catherine Meurisse literarisch verarbeitete. Sie kam an diesem Tag zu spät zur Arbeit. Die Karikaturistin von Charlie Hebdo hatte verschlafen und überlebte den Anschlag der Al-Qaida-Terroristen nur durch diesen Zufall. All diese Bücher habe ich bereits vorgestellt. Sie ergeben eine literarische Einheit, in die sich „Oberkampf„ nahtlos einreiht.
Hilmar Klute verdeutlicht in seinem Roman „Oberkampf„, dass sich die beiden Pole seiner Geschichte ähnlicher sind, als man denkt. Die Metropole an der Seine und das Leben des Schriftstellers Richard Stein sind vergleichbar. Von sich eingenommen und nach außen hin stabil und unverletzlich wirkend. Und doch ist es kein Wunder, dass in beiden Mikrokosmen der Terror von innen angelegt ist, bevor es dem Feind von außen gelingt, sich Zutritt zu verschaffen. Hochexplosiv.
Zum Ende bleibt mir nur, ein Buch zu erwähnen, das auch von Paris und seinen Anschlägen handelt. Es ist ein Buch, das ich absichtlich nicht in die Reihe der zuvor erwähnten Bücher stelle, weil es nichts mit Charlie Hebdo und dem Januar 2015 zu tun hat. Hier beschreibt Antoine Leiris sein Leben, seine Geisteshaltung, seinen Schmerz und seine Weigerung, sich lebenslang dem Terrorismus zu beugen, als ein Mann, der seine Frau bei einem späteren Anschlag in Paris im November 2015 verloren hatte. „Meinen Hass bekomt ihr nicht“ ist eines der bewegendsten Werke, die uns zeigen, wie ein Hinterbliebener mit aufkommendem Hass umgeht und seinen kleinen Sohn vor Vorurteilen und einer weiteren Spirale der Gewalt beschützen möchte. Ein Manifest.
Ich hätte mir wirklich gewünscht, Antoine Leiris hier nicht erwähnen zu müssen. Jetzt jedoch steht sein Buch neben „Oberkampf“. Ich habe es kommen sehen und es war wohl unvermeidlich. Auch das ist Hilmar Klute. Es gibt einen dritten Pol, auch wenn man es nicht wahrhaben möchte.
Wenn ein Autor eine Brücke zwischen zwei Terror-Ufern schlägt, riskiert er, dass manche Leser den Brückenschlag für vorhersehbar halten. Für mich geht es in meiner Bewertung dieses Romans nicht um die beiden Ufer, sondern um die Tragfähigkeit der Brücke. Keine Leichtbauweise. Das steht für mich fest. Sie trägt…