Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery - Astrolibrium

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Es gibt Tage von solch historischer Relevanz, dass sie die Geschichte der Welt und das eigene Leben in ein DAVOR und DANACH aufteilen. Es gibt Tage, die sich in das kollektive Gedächtnis der Menschheit einbrennen und dem individuellen Erinnern kaum eigenen Spielraum lassen. Es gibt Tage, von denen man auch noch Jahrzehnte später genau weiß, wo und wie man sie verbracht hat. Ein solcher Tag war ein kühler Dienstag vor genau zwanzig Jahren. Man schrieb den 11. September 2001. Es war der Tag, der unter dem Namen “Nine Eleven” in die Geschichte eingegangen ist. Dieser tieftraurige Tag muss nicht erklärt werden, die Ereignisse bedürfen keiner Zusammenfassung mehr. Der grausame Tod Tausender von Menschen, deren Schicksal auf grausame Art und Weise miteinander verschmolzen wurde, steht heute für einen irreversiblen Wandel der Geschichte, als Auslöser für Krieg und das Ende im individuellen Sicherheitsempfinden.

Die Literatur hat sich den Anschlägen des 11.9. nur sehr zaghaft genähert. Ersten Ansätzen, die Terrorakte journalistisch aufzuarbeiten, folgten Jahre später vereinzelte Romane, die fiktive Einzelschicksale aus der kollektiven Erinnerung herauslösten, um in der geschützten Distanz eine Annäherung an das Unaussprechliche zu wagen. Zumeist blieben diese Romane bemüht und oberflächlich, weil der Schrecken zur Kulisse wurde und sich alle Lesenden als Augenzeugen empfanden, die dem geschilderten Szenario viel präzisere eigene Erinnerungen hinzufügen konnten. Eine ausweglose Situation für Autoren und Autorinnen, die keine Bilder erschaffen konnten, die man zuvor noch nicht wahrgenommen hatte. Jeder Roman wirkte wie ein Déjà-vu. Jede Geschichte steuerte plötzlich auf ein Ende zu, das so vorhersehbar war, wie der Untergang der Titanic. Nur waren das die Anschläge des 11. September 2001 keinesfalls, wie wir heute wissen.

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery - Astrolibrium

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Heute, zwanzig Jahre nach Nine Eleven, hat sich der Blickwinkel erneut verschoben. Wieder sehen wir Menschen, die vom Himmel fallen. Diesmal nicht von Hochhäusern in New York, sondern von US-Transportmaschinen über Kabul. Der Krieg, den man führte, um eine Wiederholung des Terrorismus zu verhindern, ist krachend gescheitert. Kaum zwanzig Jahre danach steht der Westen wieder ratlos einem Phänomen gegenüber, in dessen Inneres man kaum vorstoßen kann. Und schon greift sie wieder um sich. Diese kollektive Sprachlosigkeit, in der nur noch Raum für Worthülsen und Allgemeinplätze in der Beschreibung des globalen Versagens bleibt. Der Konjunktiv greift um sich und die Opfer sprechen keine Sprache mehr, die man verstehen könnte. Eigentlich wollte ich ja heute auf die Ereignisse von vor genau zwanzig Jahren zurückblicken. Eigentlich wollte ich nur ein Buch lesen, das zum Jahrestag der einstürzenden beiden Türme des World Trade Centers erschien. Aus diesem „Eigentlich“ wurden schlaflose Nächte, Rückblicke auf die Bücher, die ich gelesen hatte, Filme und Dokumentationen, die ich sah und das Rückfühlen in meine Gefühle, die ich niemals vergessen habe…

Ich wollte Ellis Avery in ihre literarischen Beobachtungen folgen, die sich in ihr als Reaktion auf den erlebten Schrecken in New York Bahn gebrochen hatten. Sie schrieb an einem Coming-of-Age-Roman. Sie war sprachgewaltig und inspiriert. Sie wohnte in Manhattan und sie genoss ihren Blick auf die Zwillingstürme des WTC. Was an diesem Tag geschah, veränderte auch ihr Leben. Es war ein Weltuntergang, den sie aus ihrem geschützten Arbeitszimmer heraus beobachten konnte und doch war der Autorin sofort klar, dass es fortan keine Biotope oder Refugien mehr geben wird, weil die brennenden Türme mehr verändern würden, als die globale Politik. Ihre Reaktion auf das Gesehene und Erlebte ist kein Augenzeugenbericht. Es ist ein Stimmungsbild und ein Zeitzeugnis für den Anschlag auf New York, der sich für uns auf ein Datum fokussiert. Dabei waren es nicht nur vierundzwanzig Stunden, die das Leben veränderten. Es waren:

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery - Astrolibrium

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Die Tage des Rauchs. 11. – 21. September 2001“ von Ellis Avery

Ellis Avery beschreibt uns diese Tage nicht. Sie erklärt uns nicht, was sie fühlte. Es ist wie der Blick in ihr tiefes Innerstes, den sie uns gewährt. Es fühlt sich an, als dürften wir mit ihren Augen sehen, mit ihrem Herzen fühlen und mit ihren Worten denken. Ellis beantwortet unsere Fragen, die wir seit zwanzig Jahren nicht stellen wollen. Oder, die wir uns nicht zu stellen trauen. Was war am Tag davor? Wie fühlte sich der Alltag an in einer Metropole, die uns mit ihrer pulsierenden Wucht in ihren Bann zog. Was nahm sie wahr? Wie? Wann realisierte sie es und was geschah in den Tagen nachdem wir schon lange abgeschaltet hatten? Die Überschriften ihrer Kapitel gleichen einem Gedicht auf den Untergang einer ganz eigenen Welt.

8., 9., 10., 11. September
Normalzeit

11. September
Auf den ersten Blick
Sehen kann, sehen konnte
Was ich vom Fenster aus sah

Sommer 1996
Es war einmal

So arbeitet sie sich vor und zurück. In und durch sechzehn Kapitel voller Wehmut im Herzen und Hoffnung im Sinn. Sie macht uns zu Teilhabern ihres Lebens, ihrer Verluste und Ängste. Sie zeigt und ihr Davor und Danach. Sie lässt uns intensiv nachfühlen, wie sie gefühlt hat und was sie nicht mehr fühlen konnte. Es ist die literarische Tiefe, die sie in uns nach oben holt, um das Unsagbare verständlich und greifbar zu machen. Dabei zeigt sie sich nicht gelähmt oder erlegt. Sie bleibt vital. Erschreckend vital und viral, da sie nichts mehr mehr bewegt, als ihre Mitmenschen davon zu überzeugen, jetzt nicht in blindem Hass zurückzuschlagen und das Leid weltweit zu potenzieren. Sie ahnte wohl schon, was bald passieren sollte. Es sind ihre Worte, die uns an die Hand nehmen und Verluste spürbar werden lassen. Es sind ihre Gesten, die so viel Größe besitzen. Nicht zuletzt sind es ihre Übersprungshandlungen, die uns so gut verstehen lassen, was sie an diesem Tag verlor.

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery - Astrolibrium

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Wir sind an ihrer Seite, als sie…

  • Ansichtskarten der Türme kauft, weil die Souvenirs jetzt echte Andenken sind,
  • erstmals weiße Atemmasken in den Straßen sieht. (Heute so normal)…,
  • flammende Appelle zur Toleranz und gegen Hass vernimmt,
  • erste wüste Beschimpfungen der muslimischen Mitbürger miterlebt,
  • realisiert, dass Panik immer ein selbstbezogenes Gefühl ist,
  • fühlt, dass Überleben ein Glücksgefühl auslöst, das peinlich sein kann,
  • daran verzweifelt, dass die Zeit nicht stehenbleibt, sondern einfach verrinnt,
  • ihre Stadt mit einem Friedhof vergleicht, dessen Grabsteine Vermisstenbilder sind,
  • mit ihrer Frau erste Botschaften verfasst, die schon bald überall sichtbar werden:

„Die halten uns auch für Monster. Lasst uns ihnen das Gegenteil beweisen.“

„Wir müssen lernen, die Weiterlebenden mit der gleichen besonderen Aufmerksamkeit zu zählen, mit der wir die Toten beziffern.“

Ellis Avery erzeugt in mir unglaubliche Gefühle. Ich wünschte mir, bei ihr zu sein. Genau an diesem Tag, genau an diesem Ort und in genau jenen Straßen, in denen sie nun patrouilliert. Fern von jedem Voyeurismus. Fern von jeglicher Neugier. Einfach nur, weil ich in der Gefolgschaft einer Autorin wäre, die der Sprachlosigkeit dieser Stunden ein ganzes Buch entgegenzusetzen hat – vielleicht sogar ihr ganzes Sein…

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery - Astrolibrium

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Auch heute noch lassen sich die Opfer nicht beziffern. Es sind zu viele. Weltweit. Auch heute noch sterben Menschen an den Folgen der Anschläge. Sie sind Opfer von Kriegen, erliegen den gesundheitlichen Spätfolgen der Rettungsarbeiten im Asbest der Turmruinen oder, oder. Der Opfer wird gedacht, während neue Opfer gebracht werden. Es sind die Jahrestage, die uns wieder erinnern. Und doch ist es auch so, dass wir uns ganz bewusst in diese Tage fallen lassen, um zu fühlen, wie lebendig wir sind. Wie gut es uns doch geht. Nichts ist von Dauer. Pathos ist fatal, wenn es um Trauer geht. Alles Dinge, die wir wissen und die wir doch verdrängen. Ich hätte mich jedenfalls gerne mit Ellis Avery über dieses Buch unterhalten. Darüber, wie ihr Leben aussieht, was heute ihr Schreiben ausmacht und, und, und… Ich zitiere einen Satz aus ihrem Buch, der in mir nachhallt und nicht untergehen wird. Sie beschreibt eindringlich ihr Gefühl, als ihr bewusst wird, wie sehr die Umwelt vergiftet wurde. Nicht nur die Menschen…

Ich hoffe, lange genug zu leben, um noch Krebs von dem Asbest zu bekommen.

Ellis Avery starb am 15. Februar 2019 an den Folgen einer Krebserkrankung. Das Nachwort im Buch aus der Feder ihrer Ehefrau Sharon Marcus setzt ihr ein Denkmal.

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery - Astrolibrium

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Die auf den Artikelbildern abgelichteten Bücher „Und auf einmal diese Stille“ und „This is New York – A Democracy of Photographs“ gehören zu meinen bisher noch nicht vorgestellten Büchern zum 11. September 2001. Ich hoffe, auch für sie Worte zu finden. Hier finden Sie weitere Artikel über Bücher zum Thema Nine Eleven in der kleinen literarischen Sternwarte.

Danach, das Leben von Antoine Leiris

Danach, das Leben von Antoine Leiris - AstroLibrium

Danach, das Leben von Antoine Leiris

Am 13. November jährten sich die Anschläge auf Paris zum fünften Mal. Das Jahr 2015 war das Annus horribilis für die französische Metropole. Im Januar begann es mit dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitung „Charlie Hebdo“ und zum Ende des Jahres gipfelte der Terror in Paris in einer nie zuvor dagewesenen Anschlagsserie. Am 13. November schlugen islamistische Terroristen an einigen Orten zugleich zu, töteten 130 Menschen und verletzten mehr als 350 weitere schwer. Wer an diesem Abend das Fußball-Länderspiel im Fernsehen verfolgte, die beiden Explosionen vor den Toren des Stadions hörte, und die weiteren Nachrichten aus Paris verfolgte, der wird diese Nacht ebenso wenig vergessen, wie den 11. September 2001 in New York. Auch hier wurde die ganze Welt Zeuge der verheerenden Anschläge.

Was mir auch in Erinnerung blieb, war ein Satz des französischen Schriftstellers Antoine Leiris, der an diesem Abend im Bataclan seine Ehefrau Hélène verlor und als Witwer mit seinem erst siebzehn Monate alten Sohn Melvil zurückblieb. Er schrieb nur: „Meinen Hass bekommt ihr nicht. Diese Botschaft an die Terroristen äußerte er drei Tage nach dem Massaker in Paris. Worte, die um die ganze Welt gingen. Tiefe Worte, die keinen Vater und keine Mutter unbewegt ließen. Worte der Liebe, Trauer und Klage. Verzweifelte Worte der Verantwortung für den gemeinsamen Sohn Melvil. Gleichzeitig auch eine Kampfansage an die Verantwortlichen für solche Anschläge. Antoine Leiris verweigerte den Terroristen den Sieg über die eigene Familie. Dieses Geschenk macht er ihnen nicht. Dies war seine Rache und ein Wegweiser in die ungewisse Zukunft für Vater und Sohn.

Danach, das Leben von Antoine Leiris - AstroLibrium

Danach, das Leben von Antoine Leiris

Und nun? Fünf Jahre danach? Was ist aus dem Mann geworden, der so gerne ein normales Buch geschrieben hätte? Der Mann, der gerne Romane in die Welt entlassen hätte, um zu unterhalten oder Spannung zu erzeugen? Der Mann, dessen Schreiben in der größten Krise seines Lebens ein Buch hervorgebracht hatte, von dem er sich nicht mehr trennen konnte? Stigmatisiert als traurige und kämpferische Stimme Frankreichs sollte es ihm nicht gelingen, einen fiktionalen Stoff zur Entfaltung zu bringen. Ihm blieb nur die Beobachterrolle, während sich Schriftsteller, die selbst keine Opfer zu beklagen hatten, das Fanal von Paris in Romanen aneigneten. Er verschwand von der Bildfläche. Bis jetzt. „Danach, das Leben“ ist mehr als ein Lebenszeichen von ihm. Allerdings ist es auch ein deutliches Zeichen seines Scheiterns als Romanautor. Seine Worte sind begrenzt auf die Folgen des Terrors. Sein inneres Gefängnis ist hermetisch verriegelt und lässt ein befreites und neutrales Schreiben nicht zu.

„Danach, das Leben“ beschreibt schon im Titel den großen Widerspruch, in dem der Autor und Vater heute lebt. Man fragt sich sofort, was für ein Leben das denn sein kann. Ob es lebenswert, von Trauer dominiert oder vom kleinen Melvil bestimmt ist. Man fragt sich, wie es dem Menschen Leiris hinter dem Vorhang geht und ob er es zulässt, einen Blick hinter seine Kulissen und Fassaden zu werfen. Man fragt sich auch, ob das neue Buch Teil einer Therapie ist, die immer noch nicht abgeschlossen ist. Auf all diese Fragen gibt Antoine Leiris Antworten. Er lässt nichts aus. Er zieht blank, nicht nur, was seine Gefühle und Perspektiven betrifft. Er schreibt von den kleinen Erfolgen, von dem Rückschlag, der ihn jedes Mal trifft, wenn er einen Schritt nach vorne wagt. Er schreibt über seine Frau, ihr Fehlen und seine Rolle als alleinerziehender Vater. Von Umzügen und Neuanfängen, vom Loslassen und Festhalten, von dunklen und hellen Nächten. Es ist ein Buch, das uns vielleicht Mut macht. Ob es ihm gelungen ist, sich zu ermutigen? Das steht auf einem anderen Blatt Papier.

Danach, das Leben von Antoine Leiris - AstroLibrium

Danach, das Leben von Antoine Leiris

Man möchte ihn in den Arm nehmen, wenn er sich dem Selbstvorwurf hingibt, im Versuch den Schmerz zu bewältigen, seine Frau „dargeboten zu haben, ohne dass sie ein Wort hätte mitreden können.“ Man trifft auf einen Mann, der schwer darunter leidet, seine Frau zu einer öffentlichen Person gemacht zu haben, die ihm nicht mehr gehört. Es ist nicht nur dieser Verlust, den er zutiefst beklagt. Es ist ein Zugeständnis, das ihn heute einholt, als er zum ersten Mal ein Theater besucht, in dem seine Geschichte auf der Bühne aufgeführt wird. Dieses Erlebnis mit ihm teilen zu können, gehört eindeutig zu den großen Momenten dieses Buches. Seltsam von sich selbst entrückt, folgt er im Theater dem Monolog des Schauspielers, der sich seine Geschichte nun aneignet. Es ist das Spiegelkabinett der Trauer, das wir mit Antoine Leiris betreten.

Was er uns als Vater eines kleinen Wirbelwinds erzählt, rührt und bewegt. Er gibt sich alle Mühe, der Normalität Raum zu geben und Melvil behütet großzuziehen. Er wird beim Vorlesen von Kinderbüchern zu Vater und Mutter für seinen kleinen Jungen. Eine Passage im Buch beschäftigt mich sehr. Es ist Pinocchio, dem Vater und Sohn hier gemeinsam begegnen. Es ist die innige Nähe, die spürbar wird und doch fühlt sich die Geschichte für Antoine Leiris an, wie ein Feld voller Tretminen. Keinen Fehler machen und die Fragen des kleinen Melvil ernst nehmen – das sind die Herausforderungen, die er hier zu meistern hat. Es gibt sehr viele dieser großen Momente in diesem schmalen Buch. Leiris gelingt es erneut, uns mit kaum 200 Seiten nachhaltig und bewegend mit seiner Welt zu konfrontieren. Er bietet uns keine Bewältigungsstrategien, er beschreibt keinen Trauer-Musterweg. Er schreibt aus meiner Sicht für sich selbst, um einen Weg zu einem neuen Schreiben zu finden.

Danach, das Leben von Antoine Leiris - AstroLibrium

Danach, das Leben von Antoine Leiris

Antoine Leiris beschreibt, dass eine private Geschichte niemals Geschichte wird. Er schreibt ein intimes Buch, das ihn sicherlich irgendwann wieder einholen wird, weil er nun im Gefühl lebt, seinen Sohn „dargeboten“ zu haben. Ich denke nicht, dass es so ist. Er überschreitet keine Grenzen, die seinem Sohn nicht gerecht werden. Leiris geht nur mit sich extrem hart ins Gericht. Man sollte dieses Buch lesen, wenn man Antoine Leiris zuvor begegnet ist. Aus der Distanz heraus gelingt ihm nun, was vor fünf Jahren kaum möglich war. Die echte Liebeserklärung an seine Frau. Allein das ist lesenswert:

„Hélène ist der Stift, den ich halte, die Tinte, die darin fließt, die Tasten meines Computers, die Wörter, die auf dem Bildschirm erscheinen. Die Buchstaben haben ihre sanften Linien, die Wörter ihr Zartgefühl, die Assoziationen schwingen durch ihre Musikalität.“

In letzter Konsequenz jedoch sind es diese tiefen Worte, die aus seinem Herzen einen diebstahlsicheren Tresor machen. Jeder Versuch, den Schlüssel einer neuen Frau in seinem Leben in die Hand zu drücken, scheitert kläglich. Bisher. Vielleicht wird dieses neue Buch von ihm ein hilfreicher Panzerknacker für Menschen, die ihm in der Zukunft begegnen. Ich hoffe es für ihn…

Danach, das Leben von Antoine Leiris - AstroLibrium

Danach, das Leben von Antoine Leiris

Ein Beispiel für einen Roman, der im November vor fünf Jahren gipfelt:

Hilmar Klute legt einen bipolaren Roman vor, in dem es gelingt, die Menschen in den Vordergrund zu stellen und gleichzeitig die Situation in Paris nicht zur Kulisse zu degradieren. Ein Ausnahmebuch zu einer Stadt im Ausnahmezustand. Oberkampf

Oberkampf von Hilmar Klute

Oberkampf von Hilmar Klute - Astrolibrium

Oberkampf von Hilmar Klute

Die Zeit heilt alle Wunden? Nicht wirklich. Alleine die Literatur sorgt dafür, dass man immer wieder an Schocknachrichten aus der Vergangenheit erinnert wird. Sie trägt die Verantwortung für die Konsequenzen einer literarischen Aufarbeitung, die geeignet ist, altes Narbengewebe wieder aufzureißen und lange verdrängte Ereignisse erneut in den Brennpunkt zu rücken. Hier wirkt die Literatur wie ein Gerichtsprozess, der Jahre nach der Tat alle Details des Verbrechens in epischer Breite ausführt, und den Angehörigen der Opfer kaum Erleichterung verschafft. Oft passiert genau das Gegenteil. Wenn dann Prozess und Literatur Hand in Hand gehen, liegt eine hochexplosive Mischung vor, der man sich nur behutsam nähern sollte. (Weiterhören – hier geht´s zum PodCast)

Oberkampf von Hilmar Klute - Die Rezension fürs Ohr - AstroLibrium

Oberkampf von Hilmar Klute – Die Rezension fürs Ohr – Hier klicken…

Fünfeinhalb Jahre sind seit dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ in Paris vergangen. Am 7. Januar 2015 richteten zwei islamistische Terroristen in der Rue Nicolas Appert ein Blutbad an und massakrierten elf Menschen, verletzten mehrere Anwesende schwer und töteten auf ihrer Flucht einen Polizisten. In ihrem Gefolge kam es zu weiteren Anschlägen, nicht nur in der Hauptstadt. Wir sehen wohl alle noch die dramatischen Bilder von einst vor Augen. Ein Paris in Schockstarre, trauernde Menschen vor den Redaktionsräumen von „Charlie Hebdo„, Ein Supermarkt voller Geiseln, in dem sich ein weiterer Terrorist verschanzt hatte. Polizei-Einsätze und weitere Tote. Erschossene Attentäter und eine Prozession der Erschütterten unter dem Motto „Je suis Charlie„. Ich denke, niemand hat diese Januartage vergessen.

Oberkampf von Hilmar Klute - Astrolibrium

Oberkampf von Hilmar Klute

In diesen Tagen hat in Paris der Prozess gegen die Hintermänner der Terroristen begonnen. Die Corona-Pandemie hat den Prozessauftakt verschoben. Gleichzeitig hat die neue Redaktion von Charlie Hebdo das Magazin neu aufgelegt, das den Anschlag der Islamisten verursacht hatte. Mohammed-Karikaturen hatten für einen Aufschrei in der islamischen Welt gesorgt und Extremisten dazu veranlasst, ihren Propheten rächen zu wollen. Unter dem Titel „Tout ça pour ça“ (All dies, nur dafür?) wurde das damalige Skandalblatt in einer Auflage von rund 400000 Exemplaren an die Kiosks der Metropole ausgeliefert. Der Aufschrei folgte sofort. Bilder der Überlebenden beim Prozess zeigen das Ausmaß der Traumatisierungen aus dem Jahr 2015. Nicht aufgeben, immer weiter für die Presse- und Gedankenfreiheit zu kämpfen, vereint die Menschen in Frankreich. Die Narben sind tief. Und jetzt kommt auch noch ein Roman hinzu…

Oberkampf“ von Hilmar Klute mutet wie eine martialische Überschrift an, die uns auf eine absolute Meta-Ebene der Konfliktbewältigung vorbereitet. Dabei entpuppt sich der kämpferische Titel schnell als verträumte Straße mit gleichnamiger Metro-Station in unmittelbarer Nähe zu den Redaktionsräumen der Satirezeitschrift. Es sind gerade mal neun Gehminuten von der Rue Oberkampf Nr.11 bis ins Auge des Orkans. Und genau hier zieht Jonas Becker am 6. Januar 2015 ein. Tief in der Midlifecrisis gefangen, die eigene Ehe gescheitert, eine Agentur in den Sand gesetzt und nun auf der Suche nach einem literarischen Restart im Herzen von Paris. Im Auftrag eines Verlages hat er jetzt nur noch ein Ziel. Den ebenso legendären, wie erfolglosen Schriftsteller Richard Stein zu treffen und seine Biografie zu schreiben. Was eigentlich recht harmlos klingt, wird schnell zu einem Ritt auf einer doppelt geschliffenen Rasierklinge in einer Stadt, in der schon am nächsten Tag nichts mehr so ist, wie es je zuvor war. Am 7. Januar bricht die Hölle los.

Oberkampf von Hilmar Klute - Astrolibrium

Oberkampf von Hilmar Klute

Hilmar Klute legt einen bipolaren Roman vor, in dem es gelingt, die Menschen in den Vordergrund zu stellen und gleichzeitig die Situation in Paris nicht zur Kulisse zu degradieren. Ein Ausnahmebuch zu einer Stadt im Ausnahmezustand. Es sind die zwei Pole dieser MetroPole, die den Erzählraum abstecken. Es sind die Begegnungen, die aus Jonas Becker einen Wanderer in zwei unterschiedlichen Welten machen. Es ist in erster Linie der Schriftsteller Richard Stein, der ihn in seine Welt entführt. Und so, wie es am geografischen Nordpol nun mal wirklich keine Pinguine gibt, existiert in der Welt des Egozentrikers Stein kein Terror. Hier steht die Biografie im Vordergrund. Losgelöst von den Salven, die in den Straßen von Paris ihren lauten Nachhall finden. Hier sind es die Salven eines Lebens im Tunnelblick des Ichs, die in einem Buch verdichtet werden sollen. Und Steins Vorrat an Munition ist unendlich.

Und dann ist es die Zufallsbekanntschaft, die zuerst zur Liaison und dann zu viel mehr wird, die Jonas Becker mit der Pariser Archivarin Christine zum Südpol dieser Geschichte führt. Hier erlebt er die Realität des Terrors in der Stadt, hier blickt er hinter die Kulissen der Emotionen und der Trauer. Hier wird er von Christine mit Bildern aus den Banlieues konfrontiert, weil sie ihm die Ausweglosigkeit der Ausgestoßenen zeigen möchte. Hier wird er hineingestoßen in eine Stadt, die darum kämpft, ihren Alltagsstolz zu bewahren. Hilmar Klute bewegt sich literarisch brillant zwischen diesen Welten. Er transportiert die Stimmung nach dem Anschlag in jede Zeile seines Romans. Und doch gelingen ihm auch die zarten und magischen Zwischentöne, die einer Emotionalität zu Höhenflügen verhilft, die genau in diesen Zeiten so lebenswichtig ist. Es ist der Beginn der Liaison zwischen Jonas und Christine, die so sehr nach dem unbeschwerten Paris schmeckt und riecht, wie man es sich einfach nur träumen kann…

„Dann“, sagte sie… „vielleicht auf ein anderes Mal. Vielleicht im Centenaire eines Mittags.“ „Ich werde da sein“ sagte Jonas…   

Oberkampf von Hilmar Klute - Astrolibrium

Oberkampf von Hilmar Klute

Es ist der scharfe Kontrast zwischen der Geschichte des Anschlages und einem Künstlerroman, der uns durch die Seiten von „Oberkampf“ treibt. Es sind brutale Schnitte, die uns in zwei Welten entführen, deren Schnittmenge äußerst gering zu sein scheint. Es ist Jonas Becker, der versucht, Verbindungslinien zu ziehen. Er trägt seine eigenen Schlachten aus. Er will seinen Job machen und mit Christine ein neues Leben beginnen. Ein Konflikt, der ihn an die Grenzen bringt. Hilmar Klute bettet seinen Roman nicht in dieses Szenario ein, weil er sich einer Kulisse bedient. Er beschreibt ein Paris, das er selbst erlebt hatte. Er verarbeitet sicher auch selbst, wie sich ein Autor inmitten der Wirren jener Tage gefühlt hat. Es ist beeindruckend, wie er dem Erschrecken und dem Gefühl, manchmal nur ein Voyeur zu sein, Ausdruck verleiht. Es ist erschreckend, wie einfach der Weg zur hermetisch abgeschlossenen Ignoranz sein kann, wenn man sich hinter einer Aufgabe versteckt. Es ist sehr atmosphärisch, war er erzählt und wie es ihm gelingt, Nord- und Südpol der bipolaren Geschichte zu vereinen.

Wir finden viele literarische Entsprechungen, wenn wir die Rue Oberkampf Nr. 11 betreten. Hilmar Klute erzählt von der Unterwerfungvon Michel Houellebecq, jenem Roman, in dem ein muslimischer Bürgermeister Paris regiert, und der genau in den Tagen des Anschlages auf Charlie Hebdo erschien. Wir fühlen uns an Bücher zu diesen Ereignissen erinnert. Klute gelingt dieser intensive Einblick in die französische Gesellschaft in einer Intensität, die ich zuvor nur bei Virginie Despentes gefühlt habe. Ihre Trilogie über „Das Leben des Vernon Subutex“ endet dort, wo Klute beginnt. In allen Beschreibungen schwingt „Die Leichtigkeit“ mit, die an diesem 7. Januar 2015 verloren ging. Ein Verlust den Catherine Meurisse literarisch verarbeitete. Sie kam an diesem Tag zu spät zur Arbeit. Die Karikaturistin von Charlie Hebdo hatte verschlafen und überlebte den Anschlag der Al-Qaida-Terroristen nur durch diesen Zufall. All diese Bücher habe ich bereits vorgestellt. Sie ergeben eine literarische Einheit, in die sich Oberkampf nahtlos einreiht.  

Oberkampf von Hilmar Klute - Astrolibrium

Oberkampf von Hilmar Klute

Hilmar Klute verdeutlicht in seinem RomanOberkampf„, dass sich die beiden Pole seiner Geschichte ähnlicher sind, als man denkt. Die Metropole an der Seine und das Leben des Schriftstellers Richard Stein sind vergleichbar. Von sich eingenommen und nach außen hin stabil und unverletzlich wirkend. Und doch ist es kein Wunder, dass in beiden Mikrokosmen der Terror von innen angelegt ist, bevor es dem Feind von außen gelingt, sich Zutritt zu verschaffen. Hochexplosiv.

Zum Ende bleibt mir nur, ein Buch zu erwähnen, das auch von Paris und seinen Anschlägen handelt. Es ist ein Buch, das ich absichtlich nicht in die Reihe der zuvor erwähnten Bücher stelle, weil es nichts mit Charlie Hebdo und dem Januar 2015 zu tun hat. Hier beschreibt Antoine Leiris sein Leben, seine Geisteshaltung, seinen Schmerz und seine Weigerung, sich lebenslang dem Terrorismus zu beugen, als ein Mann, der seine Frau bei einem späteren Anschlag in Paris im November 2015 verloren hatte. „Meinen Hass bekomt ihr nicht“ ist eines der bewegendsten Werke, die uns zeigen, wie ein Hinterbliebener mit aufkommendem Hass umgeht und seinen kleinen Sohn vor Vorurteilen und einer weiteren Spirale der Gewalt beschützen möchte. Ein Manifest.

Oberkampf von Hilmar Klute - Astrolibrium

Oberkampf von Hilmar Klute

Ich hätte mir wirklich gewünscht, Antoine Leiris hier nicht erwähnen zu müssen. Jetzt jedoch steht sein Buch neben „Oberkampf“. Ich habe es kommen sehen und es war wohl unvermeidlich. Auch das ist Hilmar Klute. Es gibt einen dritten Pol, auch wenn man es nicht wahrhaben möchte.

Wenn ein Autor eine Brücke zwischen zwei Terror-Ufern schlägt, riskiert er, dass manche Leser den Brückenschlag für vorhersehbar halten. Für mich geht es in meiner Bewertung dieses Romans nicht um die beiden Ufer, sondern um die Tragfähigkeit der Brücke. Keine Leichtbauweise. Das steht für mich fest. Sie trägt…

Antoine Leiris – „Meinen Hass bekommt ihr nicht“

Meinen Hass bekommt ihr nicht - Antoine Leiris

Meinen Hass bekommt ihr nicht – Antoine Leiris

Frankreich im Zeichen der Terroranschläge des Jahres 2015. Das war mein Auftakt meines Bloggens in der kleinen literarischen Sternwarte in diesem Jahr. Vor genau zwei Jahren erfolgte der Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo und nur wenige Monate später richtete sich der Hass islamistischer Attentäter auf Besucher eines Fußballländerspiels zwischen Frankreich und Deutschland, sowie auf Menschen, die an diesem Abend des 13. Novembers 2015 an verschiedenen Orten in Paris einen schönen Abend verleben wollten.

Die Leichtigkeit“ der Charlie-Hebdo-Mitarbeiterin Catherine Meurisse schildert die Ereignisse rund um das Massaker am Redaktionsteam von Charlie Hebdo. Catherine Meurisse hat mit einigem zeitlichen Abstand zu diesem 07. Januar 2015, der ihr Leben für immer verändern sollte, ihre eigene Leichtigkeit wiedergefunden und in einem mehr als schmerzhaften Prozess der Verarbeitung eine Graphic Novel veröffentlicht, die ihren Weg zurück ins normale Leben sehr intensiv thematisiert. Die Hinwendung zur Literatur und zur Kunst war für sie der Schlüssel, ein Ereignis überstehen zu können, das sie nur durch einen kleinen Zufall überlebt hatte. Für Catherine Meurisse wurde das Überleben zum eigentlichen Problem.

Meinen Hass bekommt ihr nicht - Antoine Leiris

Meinen Hass bekommt ihr nicht – Antoine Leiris

Dass Paris im selben Jahr von einer weiteren dschihadistischen und koordiniert durchgeführten Terrorserie heimgesucht werden sollte, das war auch für Catherine unfassbar. Die Terroristen schlugen am 13. November an mehreren Orten gleichzeitig zu, töteten 130 Menschen und verletzten mehr als 350 weitere zum Teil schwer. Wer an diesem Abend das Länderspiel im Fernsehen verfolgte, die beiden Explosionen vor den Toren des Stade de France hörte, und den weiteren Berichten aus Paris folgte, der wird diese Nacht ebenso wenig vergessen, wie den 9. September 2001 in New York. Auch hier wurde die ganze Welt zu Zeugen der verheerenden Anschläge.

Sechs Explosionen erschütterten Paris, Restaurants, Bars und Cafés wurden mit Schusswaffen angegriffen und die Besucher eines Konzerts im Bataclan-Theater wurden zum größten Ziel dieser Anschlagsserie. Hier müssen sich dramatische und unglaublich brutale Szenen abgespielt haben. Mehr als 1500 Menschen befanden sich hier im Publikum eines Konzertes, als das Theater von Terroristen gestürmt wurde. 90 Menschen verloren alleine hier an diesem Abend ihr Leben. 90 Menschen, die während der Erstürmung, der anschließenden Geiselnahme und bei gezielten Hinrichtungen von kaltblütigen Mördern ausgelöscht wurden. Quälend lange drei Stunden dauerte es, bis das Bataclan endgültig befreit werden konnte. Quälende Stunden, in denen Angehörige zuhause vor den Fernsehgeräten saßen, sich überschlagenden Meldungen folgten und von der Ungewissheit erschlagen wurden.

Meinen Hass bekommt ihr nicht - Antoine Leiris

Meinen Hass bekommt ihr nicht – Antoine Leiris

An diesem Abend zählte die Welt die Opfer der Anschläge. Sie waren noch anonym und hatten kein Gesicht, keine Geschichte und verschmolzen mit der Masse. Es ist wie so oft bei vergleichbaren Ereignissen. Erst nach Tagen treten die einzelnen Opfer ans Tageslicht, werden ihre Hinterbliebenen erkennbar und wir begreifen langsam, dass es nicht nur Zahlen sind, um die es eigentlich geht. Erst wenn die toten und Verletzten für uns erkennbar sind, wird real was vorher unfassbar schien. Für Freunde und Verwandte der Opfer ist das anders. Sie denken an ein einziges Schicksal, an den einen geliebten Menschen, um den sie sich sorgen. Sie befinden sich im Tunnelblick-Stadium.

Antoine Leiris blickte in diesen Stunden in genau diesen Tunnel des Grauens. Als wir die Fernsehbilder betrachteten war ihm klar, dass sich sein Leben bereits in diesen Minuten verändern würde. Er wusste, dass sich seine Frau im Bataclan aufhielt und zu den Besuchern des Rockkonzertes gehörte. Er wusste, dass dort Menschen ums Leben kamen und er wusste nach zahllosen erfolglosen Anrufen und SMS an seine Frau, dass sie nicht wohlbehalten entkommen sein konnte. Was wirklich mit ihr los war, das wusste er zu diesem Zeitpunkt am 13. November 2015 ab 22:37 Uhr nicht.

Meinen Hass bekommt ihr nicht - Antoine Leiris

Meinen Hass bekommt ihr nicht – Antoine Leiris

Er wusste nur eins. Dass er warten, hoffen und bangen musste. Dass er für seinen siebzehn Monate alten Sohn alleine sorgen musste, bis Mama wieder zuhause war. Er war mit sich, seinen Ängsten und Sorgen allein und musste gleichzeitig Halt geben. Der Moment, in dem Menschen über das eigentlich Vorstellbare hinauswachsen müssen, ist hier nur skizzenhaft zu beschreiben. Antoine Leiris hat diese entscheidenden Momente im Leben seiner Familie festgehalten. Er schrieb auch, um nicht verrückt zu werden vor Angst. Was er schrieb und wie er sich auf Facebook äußerte nachdem er über den Tod seiner Frau informiert wurde, hat die Welt bewegt.

Meinen Hass bekommt ihr nicht. Diese Botschaft an die Terroristen richtete er drei Tage nach dem Anschlag von Paris. Worte, die um die ganze Welt gingen. Tiefe Worte, die keinen Vater und keine Mutter unbewegt ließen. Worte die Liebesbeweis und Klage zugleich sind. Worte der Verantwortung für den gemeinsamen Sohn. Aber gleichzeitig auch eine Kampfansage an die Verantwortlichen für solche Anschläge. Antoine Leiris verweigert den Terroristen die Genugtuung, neben seiner Ehefrau auch noch die ganze kleine Familie der Toten zerstört zu haben. Dieses Geschenk macht er ihnen nicht. Dies ist seine frühe Rache und sein Weg in eine ungewisse Zukunft für Vater und Sohn.

Meinen Hass bekommt ihr nicht - Antoine Leiris

Meinen Hass bekommt ihr nicht – Antoine Leiris

Meinen Hass bekommt ihr nicht ist nun auch der Titel Buches von Antoine Leiris, das im Blanvalet Verlag erscheinen ist. Der offene Brief auf seinem Facebook-Profil ist hier eingebettet in die Aufzeichnungen des 34-jährigen Journalisten, die schon am Tag der Anschläge begannen. Anders als bei Catherine Meurisse fehlt hier jegliche Distanz zum Ereignis. Der Leser wird zum Live-Zeugen der Gefühlswelten eines Vaters, der in seiner Verzweiflung einen Weg aus der Hölle findet. Widerstand gegen den Terror kann nicht bewegender formuliert und miterlebt werden. Menschliche Größe kann greifbarer nicht sein. Die Liebe zu seiner Frau Hélène bedarf keiner weiteren Erklärung.

Antoine Leiris steht aufrecht, obwohl er sich eingesteht an diesem 13. November gebrochen worden zu sein. Keiner Zeile dieses Buches fehlt die Relevanz für unsere Zukunft unter den Vorzeichen der Terrorgefahr. Ob ich die Stärke hätte, so konsequent nicht hassen zu können und zu wollen? Ich weiß es nicht. Eine Passage aus dem Buch hat sich so tief in mir eingebrannt, dass ich hoffe, mich daran erinnern zu können, wenn es nötig sein sollte:

Ihr wollt, dass ich Angst habe,
dass ich meine Mitbürger misstrauisch beobachte,
dass ich meine Freiheit der Sicherheit opfere.
Verloren.
Der Spieler ist noch im Spiel.

Chapeau, Monsieur Leiris.

Meinen Hass bekommt ihr nicht - Antoine Leiris

Meinen Hass bekommt ihr nicht – Antoine Leiris

Fünf Jahre später: „Danach, das Leben„… Antoine schreibt weiter…

Danach, das Leben von Antoine Leiris - AstroLibrium

Danach, das Leben von Antoine Leiris

Eine weitere Empfehlung…

Hilmar Klute legt einen bipolaren Roman vor, in dem es gelingt, die Menschen in den Vordergrund zu stellen und gleichzeitig die Situation in Paris nicht zur Kulisse zu degradieren. Ein Ausnahmebuch zu einer Stadt im Ausnahmezustand. Oberkampf

Oberkampf von Hilmar Klute - Astrolibrium

Oberkampf von Hilmar Klute

buchhandlung-calliebe

Terror – Ferdinand von Schirach – Das TV-Experiment en Blog

Terror - Ferdinand von Schirach - Ein moralisches Experiment

Terror – Ferdinand von Schirach – Ein moralisches Experiment

In welcher Verfassung befindet sich Ihr Gewissen? Eine mehrdeutig zu verstehende Frage! Ist Moral in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland verankert? Urteilen unsere Richter auf der Grundlage von Maßstäben, die unser Gewissen berücksichtigen oder basiert unser Rechtssystem auf abstrakten Prinzipien, die das gemeinsame Leben in einer modernen Gesellschaft regeln sollen? Wie würden wir entscheiden? Wird hier wirklich immer Im Namen des Volkes Recht gesprochen oder würden wir selbst anders urteilen, wenn wir es dürften?

Ferdinand von Schirach ermöglicht uns in seinem experimentellen Theaterstück Terror“ unseren gesunden Menschenverstand in die Waagschale der Justiz zu werfen. Dabei basiert seine Idee darauf, die Zuschauer im Theater in die Rolle von vollwertigen Schöffen zu versetzen, die am Ende der Aufführung auf schuldig oder nicht schuldig zu plädieren haben. Die Gerichtsverhandlung wendet sich an das Publikum. Einzigartig in seiner Relevanz und bemerkenswert in seiner Tragweite für das eigene Denken, weil man selbst zum Teil eines Schuld- oder Freispruches wird.

Terror - Ferdinand von Schirach - Ein moralisches Experiment

Terror – Ferdinand von Schirach – Ein moralisches Experiment

Der zu verhandelnde Fall berührt unsere Moralvorstellungen im Kern und jeder ist betroffen, da es sich um ein Horrorszenario handelt, über das wir uns schon Gedanken gemacht haben. Spätestens nach den Anschlägen auf das World Trade Center. Darf ein Kampfpilot der Bundeswehr eine mit 164 Menschen besetzte Passagiermaschine abschießen, die von einem Terroristen entführt wurde, der nun den gezielten Absturz in die mit 70000 Zuschauern ausverkaufte Allianz Arena einleitet? Mit dieser Frage hat sich das Gericht auseinanderzusetzen und damit sind auch wir persönlich betroffen, da wir am Ende der Beweisführung und der Plädoyers das Urteil gegen den Kampfpiloten zu fällen haben, der die Rakete abgefeuert hat.

Keine Sorge. Es erwartet Sie kein trockenes juristisches Lehrstück! Von Schirach liefert alle Fakten und lässt sowohl den Verteidiger als auch die Staatsanwältin in jeder Hinsicht fundiert argumentieren. In militärischer, juristischer und moralischer Hinsicht ist am Ende der Verhandlung alles gesagt und der neutrale Zuschauer, Schöffe oder Leser ist frei in seinem Urteil. Wir sind frei. Wir stimmen auf einheitlicher Wissensbasis über das Schicksal eines Menschen ab, der seine „Tat“ weder leugnet, noch abstreitet. Von Schirach hat brillant recherchiert. Er selbst entscheidet nicht. Das überlässt er uns. Die Chance sollten wir nutzen. Der Verantwortung sollten wir uns stellen.

Terror - Ferdinand von Schirach - Ein moralisches Experiment

Terror – Ferdinand von Schirach – Ein moralisches Experiment

Wir können „Terror“ in einer Taschenbuchausgabe des btb Verlages lesen. Wir können ins Theater gehen und die Verhandlung live erleben oder wir stellen uns diesem einzigartigen Experiment am Montag, den 17. Oktober im Fernsehen. Die ARD hat das brillante Buch verfilmt und macht die Zuschauer zu den Aktivposten des Experiments. In einem ersten Teil verfolgen wir den Prozess, und im Anschluss daran können wir in der Sendung „Hart aber fair“ abstimmen, erleben die Verlesung unseres Urteils und können der Livediskussion folgen. Wir beeinflussen diesen Abend mit unserem eigenen Urteil.

Urteilen Sie selbst! Ich selbst werde mein Urteil nach dem TV-Prozess abgeben. Ich bin gespannt auf den Verlauf dieses Abends, den Ausgang der Abstimmung im TV und auf die Urteilsverlesung, zu der wir letztlich alle beigetragen haben. Für mich gibt es in dieser Frage keine absolute Wahrheit, da dieser Fall die Zerrissenheit unserer Wert- und Moralvorstellungen widerspiegelt, wie kaum ein anderer. Lassen Sie sich auf das einzigartige Experiment ein. Urteilen Sie auch hier. Unter allen Kommentaren verlose ich eine Ausgabe des Taschenbuches. Das ist insofern mehr als interessant, da im Buch beide Urteilssprüche mit ihrer jeweiligen Begründung zu lesen sind, während wir am Ende des TV-Events wohl nur eine Variante zu sehen bekommen.

Einsendeschluss: Sonntag, 23.10.2016 bis Mitternacht

Terror - Ferdinand von Schirach -Sie sind gefragt...

Terror – Ferdinand von Schirach – Sie sind gefragt…

MEIN URTEIL: Freispruch

Ich habe so entschieden, weil der Artikel 1 unseres Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ nicht zu einem leeren Prinzip verkommen darf, das uns erpressbar macht. Das menschliche Leben zu schützen ist vornehmste Aufgabe aller Staatsorgane. Würden wir diesem Prinzip blind folgen, wären wir im Falle von politisch motivierten Geiselnahmen (Hans-Martin Schleyer) handlungsunfähig und als Terrorziel perfekt geeignet.

Auch die TRIAGE, die Sichtungsgrundsätze beim Massenanfall von Verletzten, stellt keine Verletzung des Artikels 1 dar. Hier wird priorisiert, wer aufgrund der Schwere der Verletzung zuerst versorgt wird, und wer eben nicht. In engster Auslegung der Gesetze wäre jeder Notarzt schuldig, weil er nicht versucht hat, jeden Verletzten zu versorgen. Die moralischen Werte unserer Gesellschaft verlangen nach Ausnahmen in Situationen, die vom Gesetzgeber nicht explizit gefasst wurden. Diese Werte gilt es zu schützen.

Hier die bisherigen internationalen Abstimmungsergebnisse

Das Ergebnis der ARD-Abstimmung: Freispruch (86 %)

Terror - Ferdinand von Schirach - Ein moralisches Experiment

Terror – Ferdinand von Schirach – Ein moralisches Experiment