Khomeini – Der Revolutionär des Islams – Katajun Amirpur

Khomeini - Der Revolutionär des Islam - Katajun Amirpur - Astrolibrium

Khomeini – Der Revolutionär des Islams – Katajun Amirpur

Khomeini – Der Revolutionär des Islams. Eine Biographie von Katajun Amirpur, erschienen im C.H. Beck Verlag, ist in der Kategorie Sachbuch für den Bayerischen Buchpreis 2021 nominiert. Die Rezension ist Teil meiner Auseinandersetzung mit allen zur Wahl stehenden Büchern, da ich die Preisverleihung auch in diesem Jahr als einer der drei Literaturblogger offiziell begleiten darf. Auf meiner Projektseite findet man die Hintergründe zum #baybuch, die nominierten Bücher in den Kategorien Belletristik und Sachbuch, den Bayern 2-Publikumspreis und unsere Rezensionen. Voller Spannung fiebern wir dem Ergebnis der öffentlichen Jury-Debatte entgegen, die am 11. November über die Preisträger:innen entscheiden wird.

Khomeini – Der Revolutionär des Islam von Katajun Amirpur - Astrolibrium

Khomeini – Der Revolutionär des Islams von Katajun Amirpur

Es war keine Überraschung für mich, dass unter den diesjährigen nominierten Titeln für den Bayerischen Buchpreis auch ein Buch zu finden sein würde, das ich mir selbst niemals gekauft hätte. Meine Interessen sind weit gefächert, aber bei einigen Themen bin ich doch eher zurückhaltend, weil ich mich zu intensiv einlesen müsste, um meiner Meinung zum Buch mit Nachdruck Gehör zu verschaffen. Insofern ist „Khomeini“ aus der Feder von Katajun Amirpur ein echtes literarisches Brett, das als letztes Buch der Kategorie Sachbuch noch von mir gelesen werden wollte. Der Revolutionär des Islams ist mir natürlich aus den Nachrichten des Jahres 1979 bekannt. Ich war Schüler in der Oberstufe eines Gymnasiums in der Eifel und stand drei Jahre vor dem Abitur. Und ja, der schwarz gekleidete Führer der islamischen Revolution hatte Eindruck hinterlassen, war nur in Verbindung mit seinem Titel Ajatollah im Westen bekannt und errichtete im Iran die Islamische Republik. Für einen siebzehnjährigen Eifelaner war das weit weg. Und zumindest die Persönlichkeit und die Geschichte Khomeinis sollten dies für mich noch lange bleiben. Fern…

Und nun liegt eine Biographie vor mir, die sich in aller Ausschließlichkeit mit diesem charismatischen Religionsführer beschäftigt, der mir immer noch so fremd ist. Da mein Weg allerdings zu allen nominierten Werken für den Bayerischen Buchpreis führt, führt auch kein Weg an Katajun Amirpur vorbei. Ich hätte nicht gedacht, dass mir der Auftritt unseres GlockenbachWelle-Teams auf der Frankfurter Buchmesse 2021 den Weg zu diesem religionswissenschaftlichen Buch ebnen würde. Neben unserem Stand, zu dem wir vom Börsenverein des Buchhandels und der Bayerischen Staatskanzlei eingeladen wurden, war natürlich bei XPLR-Media in Bavaria auch der Bayerische Buchpreis ein  sehr relevantes Thema. Und wir erhielten als Buchpreisblogger für den Buchpreis vom Börsenverein Prokura, auch diesen Themenbereich am Stand zu vertreten, Interviews zu führen und die Bücher vorzustellen. Und so entdeckte ich am Messe-Freitag einen Leser, der in der BayBuch-Ecke Platz nahm und in „Khomeini“ versank. Und wer sich während einer Buchmesse mehr als eine Stunde nicht mehr von einem Buch trennen kann, der ist DER perfekte Ansprechpartner für einen Rat suchenden Blogger.

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Khomeini – Der Revolutionär des Islams – Katajun Amirpur

„Sie sind Islam-Spezialist, kennen sich bestimmt mit Khomeini aus und ich darf Sie etwas fragen.“ So begann der hoffnungsvolle Versuch, mit dem Leser in Kontakt zu kommen. Was dann geschah, hat mich nachhaltig beeindruckt. Nein, er sei sicher alles andere als ein Spezialist. Er habe das Buch nur in die Hand genommen, weil er Khomeini als Schüler in den Nachrichten gesehen habe und die düstere Gestalt nicht mehr so richtig vergessen konnte. Und dann. Ja, dann habe er angefangen zu lesen und nicht mehr gemerkt, wie die Zeit vergangen sei. Das Buch habe einen zu großen Sog entwickelt, um es beiseite zu legen. Jetzt müsse er aber wirklich mal weiter. Man könne ja nicht den ganzen Tag an einem einzigen Messestand verbringen. Das Buch werde er sich allerdings kaufen. Sprach es und verschwand. Was für eine Erlösung in seinen Worten zu finden war, kann man sich kaum vorstellen. Ich verlor jede Scheu, in diese Khomeini-Biographie einzusteigen und wurde unmittelbar nach der Buchmesse belohnt. Sollte der mir unbekannte Leser diese Zeilen finden, ich danke herzlichst für diesen Schlüssel zu einem besonderen Buch.

Katajun Amirpur hat wohl geahnt, dass ich dieses Buch eines Tages lesen würde. In der Struktur und in der inhaltlichen Vorgehensweise erkennt man sofort, dass sie nicht voraussetzt, dass man sich vorher intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hat, In ihrer Herangehensweise liegt das sympathische Wissen, dass der Lesende nicht alles wissen kann und letztlich nur deshalb zu diesem Buch greift. Ihre Ausflüge in die Tiefe der islamischen Religionswissenschaft gelingen so leichtfüßig, dass man jederzeit gut folgen kann. Dass Katajun Amirpur weit ausholen muss, um die Bedeutung Khomeinis für den Islam und die restliche Welt hervorzuheben wird schnell klar. Der Revolutionär hatte nicht nur das Land, in dem er die Macht übernahm revolutioniert, er hatte es mit seiner eigenen Religion nicht anders gehandhabt. Hier liegen extrem spannende und erhellende Momente des Lesens vor der interessierten Leserschaft. Die Unterschiede zwischen schiitischer und sunnitischer Perspektive auf die Nachfolgefrage religiöser Führer, die dabei zur Anwendung kommenden Rechtsgrundlagen und Interpretationen sind so greifbar beschrieben, dass man sich als Zuhörender in einer Koranschule fühlt, der unbefangen und frei lauschen darf.

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Khomeini – Der Revolutionär des Islams – Katajun Amirpur

Untermauert werden diese religionstheoretischen Betrachtungen mit der Vita des Gelehrten und späteren Revolutionsführers. Katajun Amirpur kommt dem in schwarz gekleideten Mann und dem, bezogen auf seine Persönlichkeit unbeschriebenen, Blatt in vielerlei Hinsicht nah. Sie beschreibt nicht nur die familiären Wurzeln, jene Ausrichtung der Lehre die ihn prägte und die Geschichte seiner Exile im Ausland. Nein, es sind die tragischen Jahre der Herrschaft eines Schahs, die verdeutlichen, warum Khomeini sich seiner Heimat zuwenden musste, um die Islamische Republik ins Leben zu rufen. Hier muss man der Autorin aufmerksam in ihre intensiven Beschreibungen folgen, wenn sie der Armut des Landes die Verschwendungssucht des Herrschers gegenüberstellt. Was Khomeini allerdings selbst verursachte, nachdem der Despot vertrieben war, gehört in vollem Umfang zur Geschichte dieses Buches. Dass ausgerechnet eine Frau sich dem Mann so intensiv nähert, der jegliche Beteiligung von Frauen am islamischen öffentlich sichtbaren Leben unterdrückte, verdient Bewunderung. Sie beschreibt Automatismen und Auswüchse patriarchalischer Systeme im Gegenwind moderner Zeiten und im Unterschied zur Entwicklung westlich geprägter Frauenbilder. Das ist kraftvoll und hat Wucht.

Katajun Amirpur gelingt mit ihrem Buch, den Schleier des Islams zu lüften, den viele Frauen innerhalb dieser Religion niemals lüften dürfen. Sie nähert sich diesem heiklen Thema deutlich an und schließt Kreise des Verständnisses zu ihrer Sichtweise. Es ist auch die verborgene Welt der schönen Künste, die sie für uns eröffnet. Khomeini als Dichter und Poet, als modebewusster Träger eines schwarzen Kaftans. Grotesk mag das klingen, als grotesk beschreibt die Autorin dies jedoch nicht. Man mag den Islam besser verstehen, nachdem man dieses Buch gelesen hat. Man mag besser mitreden und diskutieren können, wenn es hier um religiöse und patriarchalische Stereotype geht, die Katajun Amirpur klar aufbricht und erläutert. Das bessere Verständnis führt auf jeden Fall dazu, dass der Dämonisierung des Anderen Grenzen gesetzt werden. Für mich bleibt jedoch der Eindruck jener Islamischen Republik, den ich im Roman von Amir Hassan Cheheltan gewonnen habe. „Der Zirkel der Literaturliebhaber“ gehört zu den lesenswertesten Büchern im Niemandsland zwischen Schah und Khomeini. Es beschreibt das Ende des freien Lesens im Islam. Unvorstellbar für mich. Diese beiden Bücher gehen sicherlich in gewisser Weise Hand in Hand. Mutige Bücher. Beide. 

Khomeini - Der Revolutionär des Islam - Katajun Amirpur - Astrolibrium

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und ihren Werken in den Kategorien Belletristik und Sachbuch.

Ein Nachtrag: Bleibt zuletzt die Verwirrung, wie das Buch eigentlich richtig heißt. Hier findet man auf der Verlagsseite unterschiedliche Angaben auf dem Cover und im Textteil. „Islam“ oder „Islams“. Ich habe mich damit auf Instagram beschäftigt.

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Bayerischer Buchpreis 2021 – Meine Partnerbuchhandlung

Bayerischer Buchpreis 2021 – Meine Partnerbuchhandlung

KAIROS von Jenny Erpenbeck

KAIROS von Jenny Erpenbeck - Astrolibrium

KAIROS von Jenny Erpenbeck

KAIROS“ von Jenny Erpenbeck, erschienen im Penguin Verlag, ist in der Kategorie Belletristik für den Bayerischen Buchpreis 2021 nominiert. Die Rezension ist Teil meiner Auseinandersetzung mit allen zur Wahl stehenden Büchern, da ich die Preisverleihung auch in diesem Jahr als Literaturblogger offiziell begleiten darf. Auf meiner Projektseite findet man alle Hintergründe zum #baybuch, die nominierten Werke und Rezensionen der drei Buchpreisblogger:innen. Voller Spannung fiebern wir dem Ergebnis der Jury-Debatte entgegen, die am 11. November über die Preisträger:innen entscheiden wird.

Bayerischer Buchpreis - Nominiert - Kairos - Jenny Erpenbeck - Astrolibrium

Bayerischer Buchpreis – Nominiert – Kairos – Jenny Erpenbeck

Ich sollte die Gelegenheit nutzen, um dieses Buch vorzustellen. Nie zuvor war die Gelegenheit günstiger, mich dem Roman von Jenny Erpenbeck zu widmen und, wenn ich diesen günstigen Zeitpunkt verstreichen lasse, werde ich es wohl ewig bereuen. Es ist mir egal, wie viel Zeit gerade verstreicht, während ich lese und schreibe. Jetzt ist der richtige und wertvolle Moment, jetzt muss es geschehen. Jetzt steht alles hinten an. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes „KAIROS“ für „KAIROS„, steht doch dieser religiös- philosophische Begriff aus dem alten Griechenland genau für diesen besten Zeitpunkt, eine Entscheidung zu treffen, die das weitere Leben prägen und beeinflussen wird. Es ist an der Zeit, „KAIROS“ beim Schopf zu fassen und ausführlich vorzustellen. Chronos hin oder her.

Schon im Prolog fällt dieser Roman aus der Zeit. Schon auf den ersten Seiten fühle ich, wie sehr sich Zeitbegriffe voneinander entfernen. Dieser Prolog zeigt Vergängliches und Ewiges, beides Bestimmungsgrößen für den Roman. Hier begegnen wir den letzten Ausläufern eines amourösen Hochdruckgebietes. Sturm zieht auf. Er fragt sie, ob sie zu seiner Beerdigung kommen würde. Sie versichert ihm, dass sie natürlich da sein würde. Sie, das ist die junge Frau. Katharina. Er, der 34 Jahre ältere Mann, von dem sie nicht lassen kann. Hans. Hier, im Prolog endet alles. Vier Monate später ist er tot und sie ist natürlich nicht auf seiner Beerdigung. Hier beginnen unsere Fragen. Hier kommen wir zu dem Moment, an dem zwei große Kartons bei Katharina abgegeben werden. Es ist der Nachlass einer Liebesbeziehung, in den sie hier eintaucht. Jenny Erpenbeck sei Dank, dass wir Katharina begleiten dürfen. In ihren und seinen Erinnerungen.

KAIROS von Jenny Erpenbeck - Astrolibrium

KAIROS von Jenny Erpenbeck

„Vor langer Zeit haben die Papiere, die aus seinen Kartons und die aus ihrem Koffer, einen Dialog miteinander geführt. Jetzt führen sie einen Dialog mit der Zeit.“

Es ist ihre Sprache, mit der uns Jenny Erpenbeck zu Gefangenen ihres Romans werden lässt. Es sind der unverbrauchte Tiefgang und die Unschuld der Worte, die uns an der Hand nehmen und in den Sog einer Geschichte entführen, die alles ist, nur nicht unschuldig und unverbraucht. Die Beschreibungen der in Ostberlin geborenen Autorin lassen schon zu einem ganz frühen Zeitpunkt des Lesens darauf schließen, dass mit „KAIROS“ jener Moment gemeint ist, an dem für Katharina und Hans alles beginnt. Es ist der schicksalhafte Moment, der sie zusammenführt. Sie, gerade 19. Er Mitte fünfzig. Sie ungebunden und frei, suchend, forschend, vibrierend. Die Schriftsetzerin. Er, nicht ungebunden, Ehemann, Vater, Schriftsteller, auf fest verlegten Schienen durchs Leben fahrend. Es sind fünf Jahre in Ostberlin, die wir an ihrer Seite verbringen. Es sind jene letzten Jahre der DDR und die ersten beiden eines neuen Landes. 1986 bis 1991. Und alles begann mit „KAIROS„, dem großen zufälligen und wohl doch vorherbestimmtem Moment der ersten Begegnung.

„Und er antwortete ihr: Trinken wir einen Kaffee?
Und sie sagte: Ja. 
Das war alles. Alles war so gekommen, wie es hatte kommen sollen.
An diesem 11. Juli im Jahr 86.“

Was zu Beginn nach Romantik, Liebe auf den ersten Blick und unmöglicher Liebe schmeckt, verkehrt sich schnell ins gefühlte Gegenteil. Jenny Erpenbeck entwickelt ein Szenario, in dem das geschriebene und gesprochene Wort im krassen Gegensatz zum tatsächlich gefühlten Gefühlsleben steht. Es ist nicht leicht, sich hinter die Kulissen der Worte und der Hülsen zu begeben. Es ist ernüchternd, in der Perspektive von Hans zu erkennen, wie sehr er sich selbst im Mittelpunkt stehend sieht, Katharina zu dominieren beginnt und keine Anstalten macht, sich zu ihr zu bekennen. Eine toxische Beziehung, die allerdings nur für Katharina Gift zu sein scheint. Er fühlt sich wohl. Und er begründet alles mit seiner Selbstsicherheit, seinem Standing, seiner Reputation. Er ist Machthaber im Reich der Gefühle.

KAIROS von Jenny Erpenbeck - Astrolibrium

KAIROS von Jenny Erpenbeck

„Ohne Ehe wäre ich nicht der, der ich bin.“

Die wohl erniedrigendsten Worte aus seinem Mund. Und Worte, die nicht nur seine junge Geliebte Katharina ertragen muss. Da sind auch noch andere. Im Hintergrund, in seinen Gedanken und seinem Leben. Eine brutale Liebe, die zunehmend brutaler wird. So, wie das Land, in dem die Geschichte spielt, so ist auch die Beziehung nur auf Lug und Trug gebaut. So, wie die DDR im Untergehen begriffen ist, beginnt auch das Leben von Hans und Katharina nach einem Mauerfall zu schreien. Stark konstruiert und doch schwer zu verdauen, weil man an der bodenlosen Naivität der jungen Frau verzweifelt und den Narzissmus des alternden Autors von Seite zu Seite zu hassen beginnt. Keine Seite lädt zur Identifikation ein, kein Protagonist steht mir nah, die Trennung ist so sehr vorprogrammiert, wie das Scheitern der DDR. Ein glückliches Ende? Keine Option.

Jenny Erpenbeck inszeniert den Mauerfall der Kletterei auf der Emotionsfassaden auf hohem Niveau. Der hilflos naiven und in Sachen Gefühl sogar abhängigen jungen Katharina mag man pausenlos zurufen, dass sie sich in Sicherheit bringt und dem alten kalkulierenden und kalt agierenden Schriftsteller möchte man am liebsten ein Bein nach dem anderen stellen. Doch vielleicht ist hier auch nichts so wie es scheint, vielleicht hat das Zwischenspiel auf der Hälfte der Sichtung der beiden Kartons Überraschendes auf Lager. Vielleicht ist der Abgesang auf eine Liebe zugleich der Abgesang auf ein ganzes Land und vielleicht ähneln sich beide zu sehr. Auferstanden aus Ruinen. Diese Melodie und der Text haben wohl ausgedient. Nicht ausgedient hat der Roman, weil man in ihm Spurenelemente von Machtmissbrauch, Betrug, Illoyalität und tiefer Melancholie findet. Vielleicht das einzige Gefühl, das hier oftmals ernst gemeint und gefühlt ist.

KAIROS von Jenny Erpenbeck - Astrolibrium

KAIROS von Jenny Erpenbeck

Was als ein Lesen über eine unmögliche Liebe, den zu großen Altersunterschied und den Untergang eines politischen Systems als Rahmenhandlung begann, endet mit der Erkenntnis, dass jeder von uns seine eigenen Kartons mit sich durchs Leben trägt. Sie fühlen sich an, wie Ballast der Seele, sich in sie zu vertiefen mag verletzen und im Endeffekt zerstörerisch wirken. Sie ungeöffnet im Keller zu lassen ist selbstmörderisch. In der Konfrontation liegt der Spiegel unserer Seele verborgen. Seelenverwandtschaft ist ein hochtrabender Begriff. In KAIROS trabt er nicht. Er galoppiert. Sicher ist dieser Roman zeitlos. sicher passt er zu jedem untergehenden System und zu jeder Liebe in den Wirren solcher Zeiten. Vielleicht hat Jenny Erpenbeck einige Triggerpunkte in mir berührt. Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht mit Katharina mit Hans warm werden konnte. Zu extrem waren manche Ausflüge in ihrer Beziehung, zu derb gestaltete sich der Anspruch des Schriftstellers an eine junge Frau. Hier verlor mich dieser Roman oft. Im Rückblick auf die gesamte Geschichte, gelingt es nur wahrer Literatur, in mir diese Reaktionen auszulösen. Das, liebe Jenny Erpenbeck, ist Ihnen gelungen. Chapeau. Ich blieb nicht kalt in und zwischen ihren Zeilen. Das ist unmöglich.

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und ihren Werken in den Kategorien Belletristik und Sachbuch.

KAIROS von Jenny Erpenbeck - Astrolibrium

KAIROS von Jenny Erpenbeck

Last but not least: Die GlockenbachWelle goes Buchmesse. Alle Informationen  zu unserem Messeauftritt vom 20. bis 24. Oktober am Bayernstand von XPLR-Media in Bavaria, in Kooperation mit dem Börsenverein des Buchhandels, Landesverband Bayern und der Bayerischen Staatskanzlei erfahren Sie auf unseren Social-Media-Accounts, insbesondere auf Instagram Seiten . Wir sehen uns in Halle 3.1 Stand D 11.

Wir sind besonders stolz, Teil dieser besonderen Überschrift zu sein: Frankfurter Buchmesse: 5 bayerische Erfolgsstories, die Du nicht verpassen darfst. Und ganz nebenbei sind wir für den Bayerischen Buchpreis am Start. Am selben Stand.

Hier werden wir auch Jenny Erpenbeck begegnen. Ihr lest und hört von uns.

GlockenbachWelle - Bayerischer Buchpreis - Frankfurter Buchmesse - Astrolibrium

GlockenbachWelle – Bayerischer Buchpreis – Frankfurter Buchmesse – Das Interview

Bayerischer Buchpreis 2021 – Meine Partnerbuchhandlung

Bayerischer Buchpreis 2021 – Meine Partnerbuchhandlung

 

Die Welt neu beginnen von Helge Hesse

Die Welt neu beginnen - Helge Hesse - AstroLibrium

Die Welt neu beginnen – Helge Hesse

Die Welt neu beginnen – Leben in Zeiten des Aufbruchs 1775 – 1799“ von Helge Hesse – Reclam Verlag, ist in der Kategorie Sachbuch für den Bayerischen Buchpreis 2021 nominiert. Diese Rezension ist Teil meiner Auseinandersetzung mit allen zur Wahl stehenden Büchern, da ich die Preisverleihung auch in diesem Jahr als Literaturblogger offiziell begleiten darf. Auf meiner Projektseite findet man #baybuch-Hintergründe, die nominierten Werke und Rezensionen der drei Buchpreisblogger:innen. Wir erwarten gespannt das Ergebnis der öffentlichen Jury-Debatte, in der am 11. November über die Preisträger:innen entschieden wird.

Update 11. November 2021: So sieht ein Sieger aus!

Die Welt neu beginnen - Die Welt neu beginnen - Gewinner - Sachbuch

Die Welt neu beginnen – Die Welt neu beginnen – Gewinner – Sachbuch

Wie gerne würden wir in jedem Moment der aktuellen Weltgeschichte erleben, ob wir an einem der magischen Wendepunkte angelangt sind, die die Welt verändern. Wie gerne wären wir als Zeitzeugen ebenso schlau, wie all die Geschichtsschreiber, die ein paar hundert Jahre später nach intensivem Quellenstudium die Vergangenheit sortieren und gewichten. Nur ganz wenige Ereignisse in unserem Leben lassen darauf schließen, einen solchen Wendepunkt selbst erlebt zu haben. Ich selbst habe den 11. September 2001, den sogenannten „Nine Eleven„, so empfunden. Andere Ereignisse jedoch muss auch ich Historikern und Philosophen (und natürlich auch den jeweiligen -Innen ihrer Zünfte) überlassen. Sie haben es gelernt, die epochalen Strömungen der Geschichte in die Waagschalen ihres Wissens zu werfen, zu wiegen und in den plausiblen Kontext der wissenschaftlichen Aufarbeitung zu stellen.

Die hohe Kunst dabei ist es, diese großen Wendepunkte und Wegmarkierungen nicht schulmeisterlich, sondern perfekt recherchiert, nachweislich verbrieft, sehr versiert und unterhaltsam zugleich an die geneigte Leserschaft zu bringen. Nur dann durchbrechen solche Publikationen die Schallmauern der breiten und öffentlichen Wahrnehmung und gelangen in Reichweite von Auszeichnungen und höheren Weihen. Nur dann wird aus einem Sachbuch etwas Lebendiges. Geschichte ist keine Sache. Sie lebt in uns. Das ist dem nominierten Buch aus der Feder von Helge Hesse anzumerken. Es pulsiert in dem Moment, in dem man es öffnet… „Die Welt neu beginnen„. Ein verheißungsvoller Titel.

Die Welt neu beginnen - Helge Hesse - AstroLibrium

Die Welt neu beginnen – Helge Hesse

Warum jedoch sollten wir uns ausgerechnet heute mit den Jahren 1775 bis 1799 auseinandersetzen? Warum einem Philosophen in seine These folgen, dass genau in diesen Jahren einer der Momente aufzuspüren ist, der unsere Geschichte in ein Davor und ein Danach aufteilt? Den meisten Lesenden klingelt diese Epoche intensiv im Ohr, kann man doch den Zeitpunkt der „Französischen Revolution“ und den Sturm auf die Bastille im Jahr 1789 aus der eigenen Schulzeit rekonstruieren. Dabei ist es doch ganz leicht, eine Vielzahl von Gründen zu finden, die dieses Buch lesenswert machen. Nein, Helge Hesse legt kein trockenes Schulbuch mit Zeitschienen, Orten, Daten und Fakten vor, die sich zum Auswendiglernen so gut eignen. Wir erleben nicht schon beim ersten Blättern in „Die Welt neu beginnen“ einen anaphylaktischen literarischen Schock, der uns an unsere Schulzeit erinnert. Nein, dieses Buch kommt im modernen Gewand und in ebenso unterhaltsamem Ton daher. Eine Versuchung von der ersten Seite an…

Lassen Sie mich hier zu einem etwas ungewöhnlichen Vergleich greifen, der sich mir jedoch schnell aufgedrängt hat, als ich mich in die Zeilen stürzte. Ich empfand das Buch als „literarisch-historischen Thermomix„, dem es gelingt aus den Ingredienzien der Geschichte in Verbindung mit einer minimalistisch anmutenden 25-jährigen Garzeit ein Menü auf den Tisch zu zaubern, das neben bekannten Geschmacksmustern einige echte Überraschungen zu bieten hat. Schon die ersten kleinen Happen machen schnell klar, dass wir uns nicht auf dem Boden bekannter Kochbuchmuster bewegen, sondern in eine auf diese Art und Weise bisher unerzählte Welt abtauchen, in die sich der Autor intensiv eingearbeitet hatte… Seine Rezeptur besticht durch interkontinentale Zutaten, die in der richtigen Menge kombiniert eine Menge Schärfe in die Gedanken ihrer Zeit bringen. Es sind erste Schüsse in den noch gar nicht vereinigten Staaten von Amerika, die man im alten Europa vernimmt. Es ist ein George Washington, der über Freiheit sinniert, während er noch selbst Sklaven hält. Es ist ein Benjamin Franklin, der sich mit der Kunde vom Unabhängigkeitskampf gegen die britische Monarchie ins komplett abhängige Europa begibt. Es ist eine noch alles andere als kopflos agierende Königin Marie-Antoinette, die in Saus und Braus lebt und es sind nicht nur die Anekdoten am Rande der großen Geschichten, die uns zu neugierigen Lesenden werden lassen.

Die Welt neu beginnen - Helge Hesse - AstroLibrium

Die Welt neu beginnen – Helge Hesse

Helge Hesse präsentiert uns keine Hausmannskost, nichts leicht Vorhersehbares und schon gar kein kalorienarmes Geschichtsstudium ToGo. Die Rezeptur ist nicht leicht zu durchblicken, ergibt aber immer mehr Sinn, je weiter man sich in die Jahre der Zubereitung arbeitet. Es sind neue Menschenbilder, die überall entstehen. Es sind zarte Pflanzen der Individualisierung und Loslösung vom Herrschaftsglauben, die langsam zu wachsen beginnen. Es ist die Literatur, die den Geist befreit. Es sind die Prisen Goethe und Schiller, die das Denken erobern. Es ist der Domino-Effekt der Freiheit, der selbst festeste Steine ins Kippen bringt. Es sind die Entdecker, die der Welt ihre Geheimnisse entlocken, es ist eine Meuterei, die aus der „Bounty“ ein Abbild der Gesellschaft macht und es ist ein Wunderkind namens Mozart, das allem seine Melodie unterlegt. Es liegt an der eigentlich unsichtbaren Parallelität der Ereignisse, die Helge Hesse transparent macht, dass wir die Zusammenhänge sehen. Es sind seine Cliffhanger, die uns weiter und immer weiter voranschreiten lassen. Es sind die kleinen Narrative, die zur großen Erzählung werden. Es ist wie einer neu beginnenden Welt zuzuschauen…

Helge Hesse steigert die Temperatur von Jahr zu Jahr. Es gibt kaum ein Ventil, um den Druck entweichen zu lassen, bis sich alles in der französischen Implosion befreit. Spätestens hier sagt man sich… „Man hätte es kommen sehen müssen“. Spätestens hier erkennt man, dass schon 1789 eine Nachrichtenflut voller Fakenews über Leben und Tod bestimmt hat. Man fragt sich, wie die Revolution wohl mit Facebook verlaufen wäre. Man fragt sich immer mehr und erkennt das Unausweichliche. Die Kleinen sind plötzlich groß. Unwichtige Faktoren erlangen gigantisches Gewicht. Es sind die Kunst, der Krieg, die Dichtung, die Musik, die Diplomatie, der Adel, die Verschwendung und das immer heller leuchtende Licht aller wissenschaftlichen Disziplinen, die Europa in neuer Euphorie erscheinen lassen. Und es nicht damit getan. Die Welle geht weiter, wie die Fesselballons der Flugpioniere, die nicht nur den europäischen Himmel bevölkern.

Die Welt neu beginnen - Helge Hesse - AstroLibrium

Die Welt neu beginnen – Helge Hesse

Großartig zu lesen. Unterhaltsam erzählt. Perfekt recherchiert und pointiert. Und doch kein Buch für den Unterricht oder das Studium. Es ist ein universelles und extrem erhellendes Beispiel für eine wissenschaftliche Publikation, die Wissen schafft, sich im tiefsten Inneren allerdings nicht aufs hohe Ross setzt. Das macht Helge Hesse mehr als sympathisch. Bleibt zu hoffen, dass er weitere neuralgische Punkte identifiziert, um uns mehr zu erzählen. Sein abschließendes „Was aus ihnen wurde“ liefert so manche Steilvorlage für die Fortsetzung dieses leckeren „Geschichtshappens“. Fünf Sterne von mir und sicherlich nicht nur für den Guide Michelin eine Auszeichnung wert. Bayern hat ja einen eigenen Preis. Die Daumen sind ganz neutral gedrückt…

Hier geht´s weiter mit den nominierten Autoren und Autorinnen
und ihren Werken in den Kategorien Belletristik und Sachbuch und
hier finden Sie französisch-revolutionäre Literatur auf AstroLibrium.

Die Welt neu beginnen - Helge Hesse - AstroLibrium

Die Welt neu beginnen – Helge Hesse

Bayerischer Buchpreis 2021 – Meine Partnerbuchhandlung

Bayerischer Buchpreis 2021 – Meine Partnerbuchhandlung

Der vergessliche Riese von David Wagner

Der vergessliche Riese von David Wagner - AstroLibrium

Der vergessliche Riese von David Wagner

„Oft komme ich mir vor, als wäre ich aus einem Buch gefallen
und könnte nicht zurück. Ich bin plötzlich in einer ganz anderen
Geschichte und weiß nicht, was ich da soll.“

Bayerischer Buchpreis 2019 - Die Siegerkür - AstroLibrium

Bayerischer Buchpreis 2019 – Die Siegerkür – David Wagner

Es ist „Der vergessliche Riese“, der so fühlt und denkt. Er ist Vater, Stiefvater und Großvater. Er war Ehemann zweier bereits verstorbener Frauen. Es ist sein Sohn, der uns vom Riesen erzählt, der seinen Lebensabend an seine fortschreitende Demenz zu verlieren scheint. Es ist der Sohn, der ihn besucht und Veränderungen feststellt, die er nur schwer begreifen kann. Es sind seine Worte, die den vergesslichen Riesen in einer Welt beschreiben, die immer dunkler zu werden scheint.

Früher wusste er alles. Er war der Riese, auf den ich klettern konnte, er war der Größte.

Rechts von mir sitzt mein Vater, und ich nehme seine Hand, die sich nun wieder wie eine Kinderhand anfühlt, dabei war es mal die größte Hand der Welt.

Der vergessliche Riese von David Wagner - AstroLibrium

Der vergessliche Riese von David Wagner

Es ist der Schriftsteller David Wagner, der in seinem aktuellen Roman über einen alternierenden Prozess geistigen Verfalls schreibt und damit zugleich ein weiteres, deutlich autobiografisch geprägtes Kapitel seines Lebens öffnet. Schnell wird klar, dass er nicht über irgendjemanden schreibt. Schnell wird deutlich, dass er selbst in die Rolle des Sohnes und Ich-Erzählers geschlüpft ist und dass der vergessliche Riese niemand anderer ist, als sein eigener Vater. Und doch ist es ein Roman, weil man als Autor bei einer solch persönlichen Geschichte Distanz aufbauen muss, um nicht unterzugehen.

So fühlen sich die von David Wagner brillant und empathisch erzählten Bilder an. Er flieht ins Beobachtbare, bewegt sich auf der Demarkationslinie zwischen Gesundheit und Krankheit und blendet seine Innenansichten aus, um den Vater nicht zur Randfigur zu machen. Es ist diese schonungs- und liebevolle Distanz, die es uns ermöglicht, an der Seite der beiden Männer zu bleiben, ohne in Mitleid zu versinken. Es ist die Distanz, die der Demenz eine literarische Würde verleiht, die den Erkrankten in der Realität vom eigenen Umfeld oftmals genommen wird.

Der vergessliche Riese von David Wagner - AstroLibrium

Der vergessliche Riese von David Wagner

Vom eigenen Gedächtnis im Stich gelassen, droht auch noch die Entmündigung durch Verwandte, Ärzte und Pfleger. Aus Erwachsenen werden Kinder, unmündig in jeder Beziehung, der Fremdbestimmung und Bevormundung ausgesetzt. Pflegefälle in geriatrischen Einrichtungen und im schlimmsten Fall: Abgeschobene und Ausgesetzte. David Wagner verweigert in seinem Roman diesen stereotypen Prozess, indem er dem vergesslichen Riesen helle Momente schenkt und ihn reflektieren lässt. Der alte Mann darf sich in diesem Roman seiner Schwächen bewusst sein. Er darf seine Ängste und Gefühle äußern. Er wird nicht therapiert, ruhiggestellt oder fixiert. Er verliert nicht seine Freiheit. Und doch erfahren wir aus seinem Munde Wahrheiten, die sich im Gedächtnis festbrennen… Bis es vielleicht auch eines Tages… wer weiß…

David Wagner gelingt mit seinem Roman ein glaubwürdiger Grenzübertritt in die Denkwelt eines Alzheimerpatienten. Er entwickelt eine Perspektive, die zeigt, wie ein Mensch im Vergessen sogar vor unliebsamen Erinnerungen geschützt wird. Eine Sicht, die vielleicht schwer nachzuvollziehen ist. Und doch erscheint der vergessliche Riese in seiner Welt seltsam entrückt, befreit vom Alltäglichen und frei von Verpflichtungen. Ein Biotop des Vergessens umgeben von Menschen, die vom Erinnern geplagt sind, damit leben müssen, dass jeder Besuch schnell vergessen ist und Fragen in Endlosschleifen wiederholt werden. Hier verliert nicht der Kranke seine Identität. Es ist das Umfeld, das verblasst. Ein Kreislauf dem sich dieser Roman intensiv widmet.

Der vergessliche Riese von David Wagner - AstroLibrium

Der vergessliche Riese von David Wagner

David Wagner beschreibt auch das Skurrile im Katastrophalen. Er lässt Anekdoten zu ohne sie dabei komisch wirken zu lassen. Die Krankheit ist nicht komisch. An keiner Stelle dieses Romans setzt David Wagner seinen vergesslichen Riesen einer Situation aus, die uns zum Lachen bringt. Er erweitert seinen Erzählraum um die Dimension der Patchwork-Familie mit ihren Konflikten, Eifersüchteleien und niemals gestellten Fragen. Der liebevolle Blick des Sohnes auf seinen Vater, der Kampf um Normalität, Ausflüge in die gemeinsame Vergangenheit und verlorene Erinnerungen sind die Konstanten einer Geschichte, die von Variablen lebt. Als die alten Konflikte aufbrechen ist es fast zu spät für eine Bewältigung eines Urschmerzes, der die Beziehung zwischen Vater und Sohn seit Jahren belastet.

Nein, David Wagner hat keinen Bewältigungsroman verfasst. Dieses Buch ist auch kein Ratgeber. Es ist der zutiefst aufrechte Blick in eine Welt, die sich jedem Gesunden weitgehend entzieht und ihn dadurch hilflos macht. Würde. Dies ist die Überschrift, die für diesen Roman steht. Menschen, für die ihre Zeit stehengeblieben ist, sind begleitbar und zugänglich, wenn man seine eigene Zeit anhält. Auch wenn es frustrierend ist, dem Feind des Erinnerns täglich zu begegnen. Wer den Kampf aufgibt, verliert einen Riesen der letztlich nur gegen das Vergessen kämpft. Der letzte Satz dieses Romans bedeutet mir persönlich sehr viel, da er einen Weg weist, dem man sich am Ende zu stellen hat. Ein Ende, das dem vergesslichen Riesen gerecht wird, weil er von jenen in Erinnerung behalten wird, die ihm entgleiten. Ein wahrlich großes Buch.

Der vergessliche Riese von David Wagner - AstroLibrium

Der vergessliche Riese von David Wagner

Ich begegnete David Wagner auf der Frankfurter Buchmesse. Ein Spaziergang an seiner Seite und ein Gespräch über sein Buch bedeuten mir viel. Aus gutem Grunde. Ich erzählte ihm, dass auch mein Riese vergesslich wurde. Mein Zugang zum Buch war komplex, weil es mir an Distanz mangelte. Ein gefährliches Lesen, wenn man sich betroffen fühlt. Manches was ich so gerne vergessen hätte, kommt wieder hoch. Vieles, was mein Riese behalten wollte, ging unter. Ein bitteres Pendel. Es schwingt bis heute. Ich hätte nicht so über meinen Vater schreiben können. David Wagner hat mit seinem Riesen gezeigt, wie es vielleicht gegangen wäre. Ein beeindruckender Schriftsteller, der nicht polternd durch diese Welt läuft. Er ist ein Mann der bedachten, unaufgeregten und leisen Töne. Er schreibt präzise, bildhaft, auf den Punkt und man kann ihm leicht folgen auf den Wegen in seinen Erzählräumen. Was er schreibend in mir ausgelöst hat? Man kann das hier lesen, weil sich in dieser Rezension auch etwas verbirgt, über das ich im Leben nicht schreiben wollte. Ist so eine Sache mit der fehlenden Distanz.

David Wagner ist für seinen Roman Der vergessliche Riese für den Bayerischen Buchpreis 2019 nominiert. Neben Steffen Kopetzky für „Propaganda“ und Carmen Buttjer für „Levi“ ist er der Dritte im Bunde der Nominierten. Ich darf den Buchpreis als einer von drei Buchpreisbloggern begleiten. Auf meiner Projektseite kann man gerne nachlesen, was diesen Preis auszeichnet und hier finden Sie auch meine Rezensionen zu den nominierten Büchern. Ich werde natürlich auch von der Preisverleihung am 07. November 2019 in der Allerheiligen-Hofkirche der Münchner Residenz berichten. Mein Favorit? Ich werde das oft gefragt in diesen Tagen. Wiegesagt. Fehlende Distanz ist so ein Ding. David Wagner hat in mir etwas ausgelöst, was mir verlorengegangen war. Ich würde mich sehr freuen, wenn „Der vergessliche Riese“ unvergesslich würde.

Update 07. November 2019

David Wagner ist Bayerischer Buchpreisträger 2019. Weitere Informationen zur Kür der Gewinner in der Allerheiligen-Hofkirche der Münchner Residenz finden sie hier.

Bayerischer Buchpreis 2019 - Die nominierten Bücher - AstroLibrium

Bayerischer Buchpreis 2019 – Die nominierten Bücher

Der vergessliche Riese von David Wagner / Rowohlt Verlag / 269 Seiten / 22 Euro

ENTENBLAU - Eine Geschichte von Lilia - Astrolibrium

ENTENBLAU – Eine Geschichte von Lilia – Astrolibrium

Kinderbuch-Update:

Wer neben Entenblau“ als Kinderbuch gerne einen Roman lesen würde, den ich guten Herzens empfehlen kann, dann greifen Sie zu Der vergessliche Riese von David Wagner.  Das gilt auch umgekehrt! Wie man hie unschwer erlesen kann.

Amos Oz und Mirjam Pressler Hand in Hand für „Judas“

Judas von Amos Oz - Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse - Übersetzung von Mirjam Pressler

Judas von Amos Oz – Nominiert – Preis der Leipziger Buchmesse – Übersetzung

Die deutsche Autorin und Übersetzerin Mirjam Pressler ist für ihre Übersetzung des Romans Judas“ von Amos Oz aus dem Hebräischen für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Es ist mir eine ganz besondere Ehre, sie als einer der Bloggerpaten der Leipziger Buchmesse mit diesem Artikel bis zur Entscheidung der Jury begleiten zu dürfen. Dieser Artikel ist ihr und dem großen israelischen Schriftsteller in besonderer Weise zugeeignet.

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Die folgende Buchvorstellung können Sie sich auch gerne anhören. Rezensionen fürs Ohr auf Literatur Radio Bayern. Folgen Sie meinen Zeilen oder meiner Stimme in dieses einzigartige Buch und lassen sich dabei von den Bildern begleiten.

Judas von Amos Oz - Mit einem Klick zur Audio-Fassung der Rezension

Judas von Amos Oz – Mit einem Klick zur Audio-Fassung der Rezension

Es hat schon etwas von „Ziemlich beste Freunde“ auf israelisch, wenn man heute versucht, dem gerade bei Suhrkamp erschienenen Roman „Judas“ von Amos Oz auf die literarische Spur zu kommen. Ein Unterstützungsloser und beziehungsgescheiterter Israeli findet nach dem unfreiwilligen Abbruch seines Studiums  Kost und Logis bei einem schrulligen alten Mann, der physisch und psychisch gebrochen zu sein scheint. Ein kleines Taschengeld soll Schmuel dafür entschädigen, wenn er seiner einzigen und wichtigen Aufgabe in der Betreuung des Greises nachkommt: Reden. Diskutieren über Gott und die Welt. Mehr verlangt die geheimnisvolle Frau nicht, die ihn engagiert.

Die Regeln sind eindeutig und klar umrissen. Ein Gesprächspartner wird gesucht für jenen Gerschom Wald, kein Pfleger. Streit und Disput sind erwünscht, das hält ihn wach und aktiv. Über nächtliche Schreie und lautes Jammern sollte er sich nicht wundern. Es ist verboten, selbst besucht zu werden und über Details der Tätigkeit im Hause Wald sei kein Sterbenswörtchen zu erwähnen. Nirgendwo. Darüber hinaus sei es ihm strikt untersagt, im Haus nach ihr zu suchen. Jener Frau, die zwar vom Alter her fast schon seine Mutter sein könnte, in ihrer zurückweisenden und doch herausfordernden Art wie ein romantisch erotischer Angelhaken in Schmuels Fleisch zu schmerzen beginnt.

Was der 25jährige Student mitbringt? Jesus. Seine unvollendete Abhandlung über den Sohn Gottes aus der Sicht des Judentums. Und warum nicht mit Gerschom Wald genau da einsteigen, wo ihn die brutale Welt einfach herausgerissen hat? Über Gott und die Welt soll er sich mit ihm unterhalten. Nichts leichter als das, denkt sich Schmuel und erhofft sich dabei mehr über den alten Mann und die Frau herauszufinden, die hier zusammen leben, ohne liiert oder miteinander verwandt zu sein. Zwei nicht sonderlich religiöse Juden gehen den großen Geheimnissen von Glauben und Politik in Jerusalem auf die Spur.

Judas von Amos Oz - Nominiert fürd en Preis der Leipziger Buchmesse - Übersetzung

Judas von Amos Oz – Nominiert – Preis der Leipziger Buchmesse – Übersetzung

Jesus also. Der Messias des Christentums aus der Perspektive des Judentums. So beginnen die Gespräche mit dem alten Mann und was mit Gott beginnt, ufert schnell aus und endet in der Welt. Gerschom und Schmuel beginnen zaghaft und steigern sich in eine tiefe theosophische Diskussion, die so nachvollziehbar, brillant und greifbar ist, dass man als außenstehender Betrachter in die Quellen der Religionen und ihrer Gemeinsamkeiten und Differenzen blicken kann.

Bis dann schließlich Gerschom Wald einen Mann ins Spiel bringt, ohne den es das Christentum mit Sicherheit nicht gäbe. Jenen Apostel Jesu`, der allein schon durch seinen Verrat zum Synonym für diesen Begriff wurde und zum „Tschernobyl“ für die Juden schlechthin mutierte. JUDAS. Ohne seinen Bruderkuss keine Kreuzigung, ohne seinen Verrat keine Auferstehung und ohne dreißig Silberlinge keine Stigmatisierung. Das gesamte Judentum wurde durch Judas Ischariot zum Gottesmörder. Ohne ihn kein Hass, keine Verfolgung, ohne ihn kein Holocaust und ohne ihn kein Staat Israel. Ein Staat, der bis an die Zähne bewaffnet gegen eine antijüdische Welt kämpft.

Das ist im Winter 1959 / 1960 nicht anders, als in den Jahren zuvor und nicht anders als in unserer heutigen Zeit. Schmuel Asch und Gerschom Wald entwickeln dabei ihr eigenes religiöses Weltbild und gelangen durch ihre geistigen Höhenflüge zu neuen Sichtweisen und tiefen Einsichten. Der Verrat als Stigma erhält ein völlig neues Antlitz und der Begriff Opfer beginnt die Gespräche zu dominieren. Bis Schmuel schmerzhaft erkennen muss, wie Gerschom und die wundervolle Frau miteinander verbunden sind.

Judas von Amos Oz - Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse - Übersetzung

Judas von Amos Oz – Nominiert – Preis der Leipziger Buchmesse – Übersetzung

Während die beiden Männer einander näher kommen, scheint es für Schmuel keinen Weg zu geben, sich der faszinierenden Atalja zu nähern. Seine Träume von ihr werden zur wilden Obsession und ihre Unnahbarkeit zum magischen Anziehungspunkt. Erst als Schmuel einen Unfall erleidet und ans Bett gefesselt ist, kommt der Moment auf den er so lange gewartet hat. Und doch merkt er sofort, dass dieser Moment mehr zerstört, als er zu vereinen in der Lage wäre.

Der israelische Opfergang ist die große Gemeinsamkeit im Leben von Gerschom und Atalja. Es ist ein gemeinsames Opfer, das sie betrauern. Ein großer Verrat, den sie nie verwinden werden. Ein Verrat an sich selbst, verursacht durch ein zerrissenes Land, eine Politik und einen Glauben, der zu all dem führt, was vielleicht niemals so war, wie es überliefert wurde. Judas.

Ein eloquenter Taumel aus Zionismus, religiösem Eifer und sexueller Obsession beginnt die Handlungsfäden in einen unaufhaltsamen Strudel zu ziehen, an dessen Ende der Leser atemlos vor geteilten Leben in einer geteilten Stadt und vor geteilten Herzen steht. Und doch hätte es ganz anders kommen können, wenn man nur die Geschichte von Judas Ischariot richtig erzählt hätte.

Judas von Amos Oz - Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse - Übersetzung

Judas von Amos Oz – Nominiert – Preis der Leipziger Buchmesse – Übersetzung

Amos Oz erzählt sie richtig. Das habe ich sofort gefühlt. Er schreibt nicht über die jüdische oder die christliche Religion. Er schreibt über Glaubensfragen, philosophiert über den gemeinsamen Ursprung und den einen Tag, an dem sich die Geschicke der Welt für immer änderten. Amos Oz bringt uns Verräter nah und erklärt ihre große Gemeinsamkeit. Die Liebe zum Verratenen. Für ihn war Judas der erste, einzige und vielleicht letzte Christ. Mit seinem Selbstmord endete alles. Niemand hatte mehr an Jesus geglaubt und niemand hatte weniger Grund ihn zu verraten.

Dass Amos Oz seine Leser am Ende dieses Romans nach Golgatha führt, ist und bleibt eins der größten Leseerlebnisse meines Lebens. Am Ende aller Diskussion und am Scheideweg der Religionen selbst in einer Menschenmenge zu stehen, die sich wegen einer Kreuzigung versammelt hat, und dabei am Rande jemanden zu erkennen, der seit diesem Tag als der größte Verräter der Menschheitsgeschichte gilt, macht diesen Roman über Gott, die Welt und die Liebe zu einem der großen Romane unserer Zeit.

„Judas“ ist ein zutiefst politischer Roman. Er ist dabei religiös, ohne zu eifern. Zeitlos und epochal. Zionistisch und doch weltoffen. Kritisch differenziert und lasziv. Und unter der Oberfläche allen Lesens ist dieser Roman so verliebt, wie ein Roman nur verliebt sein kann. Leidenschaft und obsessives Verlangen sind Triebfedern des Seins. Der Rest ist nur Geschichte, und die ist manchmal einfach nur verfälscht überliefert und macht uns zu Verrätern an der eigenen Sache.

Judas von Amos Oz - Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse - Übersetzung

Judas von Amos Oz – Nominiert – Preis der Leipziger Buchmesse – Übersetzung

Ich spreche nun wirklich kein einziges Wort Hebräisch, und trotzdem wage ich einen kleinen Exkurs, der aus meiner Sicht erklären kann, warum Mirjam Pressler zu Recht als Übersetzerin von „Judas“ für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 nominiert ist. Sie begleitet mein Lesen schon seit vielen Jahren und hat dabei unzählige Werke aus dem Zyklus Gegen das Vergessen für mich erlesbar gemacht. Sie hat mich fühlen und denken lassen, was ich niemals ohne ihre Hilfe verstanden hätte.

Und das aus einer Sprache heraus, die wohl in den letzten Jahren die größte aller denkbaren Herausforderungen für Übersetzer darstellt. Selbst Amos Oz bezeichnet seine Muttersprache als einen Vulkanausbruch mit so vielen neuen und tagesaktuellen Wortschöpfungen, wie sie sonst in keiner Sprache zu finden sind. Diese Sprache kämpft darum, nicht zur toten Sprache zu verkommen und dieser Kampf ist geprägt von einer unglaublichen Dynamik, der schrittzuhalten mehr als schwierig ist.

Wenn sich dann ein Roman auch noch mit drei Themenkreisen beschäftigt, die in sich ein solch unfassbar unterschiedliches Vokabular erfordern, um ihnen gerecht zu werden, dann ist die Übersetzung eines hebräischen Werkes mit politischen, religiösen und erotisch obsessiven Handlungsfäden eine Aufgabe für eine Übersetzerin, die sich der Dynamik der Sprache anpasst, und in sich selbst über einen Sprachschatz verfügt, der diesen komplexen Roman in unserer Sprache erzählbar macht.

Judas von Amos Oz - Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse - Übersetzung

Judas von Amos Oz – Nominiert – Preis der Leipziger Buchmesse – Übersetzung

Kein Buch wird durch den Prozess des Übersetzens und der Rückübersetzung wieder zu seinem Ausgangswerk. Jede Übersetzung lässt ein eigenständiges Werk mit einem eigenen urheberrechtlichen Anspruch entstehen. Ein Autor bringt  mit seinem Werk eine Fackel zum Leuchten, die in der Übersetzung auch für andere Kulturkreise in ihrer Strahlkraft sichtbar gehalten werden muss. Das ist hier mustergültig gelungen.

Aus einem schlechten Roman wächst in seiner Übersetzung kein Meisterwerk. Doch kann eine schlechte Transkription den besten Roman in einer anderen Sprache unlesbar machen. Bei „Judas“ sieht das anders aus. Hier gehen Amos Oz und Mirjam Pressler Hand in Hand. Einer der für mich aktuell interessantesten Romane unserer Zeit wird in all seinen Facetten aus dem hebräischen Original zu einem Leckerbissen, den ich inhaltlich, rhythmisch und sprachlich in vollen Zügen genießen kann.

Auch Mirjam Pressler hat neue Worte geschöpft. Neue Worte, die zuvor Amos Oz in seiner Sprache geschöpft hat. Dieser doppelte schöpferische Akt versetzt den Leser in ein inhaltlich geschlossenes Leseparadies, aus dem ihn kein Verrat der Welt mehr vertreiben kann. Ein Meisterwerk.

„Das Morgenlicht, das die Jerusalemer Mauern traf, wurde von diesen Mauern zurückgeworfen, weich und süß, Honiglicht, ein Licht, das Jerusalem, zwischen einem Regenfall und dem nächsten, an klaren Wintertagen streichelt.“

Judas von Amos Oz - Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse - Übersetzung

Judas von Amos Oz – Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse – Übersetzung

Unter allen Kommentatoren dieses Artikels verlose ich am Freitag um 19 Uhr ein Exemplar von „Judas“, das mir freundlicherweise von der Bloggerpaten-Jury der Leipziger Buchmesse zur Verfügung gestellt wurde…!

Warum würdest Du „Judas“ gerne lesen? Warum nur…?

UPDATE: Es ist vollbracht… Mein Patenkind hat gewonnen:

Mirjam Pressler - Preisträgerin Preis der Leipziger Buchmesse - hier zum Artikel

Mirjam Pressler – Preisträgerin Preis der Leipziger Buchmesse – hier zum Artikel

Update: 29.06.2015

Amos Oz wird mit dem Internationalen Literaturpreis 2015 des Berliner Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet. Er erhält den Preis mit seiner Übersetzerin Mirjam Pressler für den Roman „Judas“. Oz gelinge es meisterhaft, in seinem Roman die großen Fragen und Konflikte der Religions- und Zeitgeschichte im Nahen Osten zu erzählen, so die Jury am Montag. Die Auszeichnung für übersetzte Gegenwartsliteratur wird am 8. Juli in Berlin verliehen. Sie ist mit 25.000 Euro für den Autor und 10.000 Euro für den Übersetzer dotiert.

Ich gratuliere Amos Oz und Mirjam Pressler von Herzen und aktualisiere diesen Artikel gerne im Falle der Verleihung des Literatur-Nobelpreises… 😉