Ein von Schatten begrenzter Raum – Emine Sevgi Özdamar

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Ein von Schatten begrenzter Raum – Emine Sevgi Özdamar

Ein von Schatten begrenzter Raumvon Emine Sevgi Özdamar, Suhrkamp Verlag, ist in der Kategorie Belletristik für den Bayerischen Buchpreis 2021 nominiert. Die Rezension ist Teil meiner Auseinandersetzung mit allen zur Wahl stehenden Büchern, da ich die Preisverleihung auch in diesem Jahr als Literaturblogger offiziell begleiten darf. Auf meiner Projektseite findet man alle relevanten Hintergründe zum #baybuch, die nominierten Werke und die Rezensionen der drei Buchpreisblogger:innen. Voller Spannung fiebern wir dem Ergebnis der Jury-Debatte entgegen, die am 11. November über die Preisträger:innen entscheiden wird.

Update 11. November 2021: So sieht eine Siegerin aus!

Emine Sevgi Özdamar - Gewinnerin des Bayerischen Buchpreises - Ein von Schatten begrenzter Raum

Emine Sevgi Özdamar – Gewinnerin des Bayerischen Buchpreises – Ein von Schatten begrenzter Raum

Da liest man die Romane, die für den Bayerischen Buchpreis 2021 nominiert sind und stellt fest, dass zumindest die Autorinnen Jovana Reisinger und Jenny Erpenbeck in ihren Werken schnell zum Kern ihrer Geschichte vordringen. Sie entwickeln, jede für sich, einen Sog, der die geneigte Leserschaft schon von Beginn an zu fesseln weiß. Es wundert daher nicht, dass sowohl die „Spitzenreiterinnen“ als auch „Kairos“ von einer Dynamik getragen werden, die den jeweiligen Erzählgegenständen Rechnung trägt. Als ich mich nun der dritten Nominierten im Bunde näherte, ahnte ich schon, dass aufgrund des Volumens von mehr als 750 Seiten absolut kein Grund zur Eile vorliegen würde. Ich irrte mich nicht. „Ein von Schatten begrenzter Raum“ von Emine Sevgi Özdamar ist das Schwergewicht unter den nominierten Werken und lässt die Konkurrenz recht dünn aussehen. Die „Spitzenreiterinnen“ begnügen sich mit 257 Seiten, „Kairos“ endet auf Seite 379. Hat Emine Sevgi Özdamar so viel zu erzählen? Wie erzählt sie es und kann ich der in Berlin lebenden Schriftstellerin und Schauspielerin mit türkischen Wurzeln in ihre Geschichte folgen? Ich war gespannt…

Es wird schnell klar, dass Emine Sevgi Özdamar aus dem Vollen schöpft. Aus dem vollen Fundus ihres eigenen Lebens, aus dem vollen Schatz ihrer Erfahrungen und aus den prachtvollen Requisiten, die sie in den vergangenen Jahrzehnten angehäuft hat. In Wahrheit wird es jedoch nicht schnell klar, was sie uns erzählen will, weil sie sich jedem Tempo in ihrem Roman verweigert. Es fühlt sich an, wie eine orientalische Geschichte, in der wir gebeten werden, Platz zu nehmen, einen Tee zu trinken, zuzuhören, den Tee zu genießen und immer wieder Pausen zuzulassen, um dem eben Gehörten Raum zu geben. Es ist poetisch und traumwandlerisch sicher, wie uns die Autorin auf jene Inseln entführt, die den Startpunkt ihrer Suche nach sich selbst, ihrer Identität und den Rollen darstellen, die sie künftig spielen wird. Es ist der erste Aufzug eines Lebenstheaters, in dem sie die Hauptrolle spielt, ohne es jemals wahrhaben zu wollen. Es ist der erste Akt einer Vorstellung, die mit einer alternativlosen Flucht beginnt.

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Ein von Schatten begrenzter Raum – Emine Sevgi Özdamar

Es ist die Dynamik der erzeugten Sprachbilder, die das Lesen beflügelt. Ich fühle:

„Das Morgenlicht draußen, das mit einem Bein noch in der Nacht stand…“

Ich höre die Geräusche der Nacht, den rastlos rebellierenden Esel, die Motoren aller Boote auf dem Meer und die Orthodoxkirche, die plötzlich zu sprechen beginnt. Ich bin Gefangener einer Szenerie, die keine Kulisse ist. Ich folge Emine Sevgi Özdamar auf ihrer Flucht. Nichts wie weg aus der Heimat. Raus aus der Türkei, die in sich kollabiert. Eine Heimat, die alle vereinen sollte, die doch so unvereinbar sind. Griechische Türken und türkische Griechen. Armenier, Aleviten, Kurden. Zu viel für eine Heimat. Im Putsch entlädt sich die geballte Gewalt. Das Militär regiert, Hubschrauber dominieren das Bild und der Kultur werden die Riegel vorgeschoben. Es eng für die namenlose Erzählerin. Was bleibt ist die Flucht. Träume und Hoffnungen im Gepäck. Und nicht nur das. Man geht niemals ohne die eigene Geschichte aus der Heimat fort und so will auch sie den Reichtum ihrer kulturellen Identität retten. Schweres Gepäck auf zarten Schultern. Und das in einer Zeit, in der dem türkischen Leben in Europa ein Makel anhaftet. Gast darf man sein. Gastarbeiter gerne. Zuhause? Bitte nicht.

Ja, die Autorin hat viel zu erzählen. Schlichtweg ihr ganzes Leben liegt hier in der autobiografischen Waagschale. Ebenso, wie die Geschichte des vorliegenden Buches. Wir folgen ihr nach Berlin, erleben die Wanderin zwischen zwei Welten, weil sie Ost und West mit ihrem Ausweis wechseln darf, wie abgelegte Klamotten. Wir erleben ihre Sicht auf ein vergiftetes Deutschland, in dem man seine Toten nicht mehr findet. Sieht sie an Gedenkstätten ohne Opfer und fürchtet sich mit ihr vor den Schatten…

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Ein von Schatten begrenzter Raum – Emine Sevgi Özdamar

„Sie wachsen ineinander bis zu einem großen Schattenklumpen, der sich vom Tisch bis zu ihren Füßen verlängert und um ihre Füße herum sich mit dem Schatten der Stuhlbeine verbindet. Der Rest des Raumes ist ohne Schatten. Deswegen sieht es nur dort, wo der Schatten gewachsen ist, wie ein Raum aus, ein von Schatten begrenzter Raum.“

Sie setzt den Schatten das Licht der Theater entgegen, lebt in der Gesellschaft der großen Regisseure und Akteure auf, geht nach Paris, befreit sich von toxischen Bildern eines Deutschlands, das sie als „Draculas Grabmal“ empfindet. Die Autorin erzählt von einigen Suchen zugleich. Liebe, Heimat, Anerkennung. Sie berichtet nicht nur von der Flucht aus ihrem Land, sondern von den Fluchten vor der eigenen Bestimmung. Es sind Prophezeiungen, die der Erzählerin folgen. Es ist ihre Vorstellung, dass Vorstellungen in den großen Theatern in Berlin und Paris nur Raum für ihre Rolle als Putzfrau lassen. Es sind Überlebensängste, die sie auf Schritt und Tritt begleiten und es ist der verzweifelte Versuch, nach Hause zurückzukehren. Den Eltern zu begegnen und festzustellen, dass auch hier kein Platz mehr ist. Außer im Schuhkarton mit den Namen der Getöteten. Es schmerzt sehr, der Erzählerin auf ihrem Weg zu folgen und dabei zu erleben, dass sie sich selbst immer weiter von ihren Wurzeln entfernt. Und ganz nebenbei gelingt in aller Wehmut ein groß angelegter Theaterroman der vergangenen Jahrzehnte, in dem man großen Namen, kleinen Rollen, grandiosen Inszenierungen und Kulissen begegnet, die den Brettern, die die Welt bedeuten, Kontur verleihen.

Emine Sevgi Özdamar schreibt in ihrem groß angelegten Werk dagegen an, in die türkische Schublade einsortiert zu werden. Sie kämpft wortreich dagegen an, sie auf eine Herkunft und eine Nationalität zu reduzieren, ihr Gedächtnis auszulöschen und in einer anderen Kultur zu vereinnahmen. Sie schreibt uns ins Herz, dass es uns niemals egal sein darf, welche Geschichten unsere Mitmenschen erzählen. Sie hat sich selbst aus diesen Klischees befreit, indem sie ihnen Raum im Schattenraum gegeben hat. In dieser Begrenzung wirken diese Schatten bedrohlich, doch ein einziges helles Licht ist in der Lage, die Grenzen gänzlich neu zu ziehen. In gewagten Zeitsprüngen wagt sich unsere namenlose Erzählerin mehr als 30 Jahre in die Zukunft und beschreibt aus der Perspektive der Vergangenheit das Grauen der einstürzenden Türme des World Trade Centers, den Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo oder den ISIS-Anschlag auf den Flughafen von Istanbul. Vielleicht ist es so, dass wir in weiteren 30 Jahren alle Schubladen geschlossen haben, die zur Ausgrenzung von Menschen geeignet sind. Es wäre auch ein Verdienst dieses Romans. Hier lohnt die Ausdauer im Lesen, auch wenn ich mir einen ähnlich lesenswerten Roman mit maximal 500 Seiten sehr gut vorstellen kann. An einigen Stellen des Opus Magnus von Emine Sevgi Özdamar hatte ich schon ein wenig mit meiner inneren Unruhe zu kämpfen, die mich nach vorne treiben wollte.

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und ihren Werken in den Kategorien Belletristik und Sachbuch.

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Bayerischer Buchpreis 2021 – Meine Partnerbuchhandlung

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1977 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart – Philipp Sarasin

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1977 – Philipp Sarasin

1977 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ von Philipp Sarasin, erschienen im Suhrkamp Verlag, ist in der Kategorie bestes Sachbuch für den Bayerischen Buchpreis 2021 nominiert. Diese Rezension ist Teil meiner Auseinandersetzung mit allen zur Wahl stehenden Büchern, da ich die Preisverleihung auch in diesem Jahr als Literaturblogger offiziell begleiten darf. Auf meiner Projektseite findet man #baybuch-Hintergründe, die nominierten Werke und Rezensionen der drei Buchpreisblogger:innen. Wir erwarten gespannt das Ergebnis der öffentlichen Jury-Debatte, in der am 11. November über die Preisträger:innen entschieden wird.

1977 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart - Philipp Sarasin - nominiert - Sachbuch

1977 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart – Philipp Sarasin – nominiert – Sachbuch

Das ist ein spannender Sprung von einem Buch zum anderen. Während ich gerade noch Die Welt neu beginnen durfte und an der Seite von Helge Hesse ein Zeitfenster von genau fünfundzwanzig Jahren erlebte, ist es nun Philipp Sarasin, der sich nur ein einziges Jahr ausgesucht hat, um einen Zeitenwandel zu beschreiben. Hier sind es die Ereignisse und ihre Verzahnung, die sich auf die Gesellschaft auswirken, wie die große Französische Revolution. Hier prallen alte und neue Werte aufeinander. Verknappt auf ein einziges Jahr der unumkehrbaren Umwälzungen, in dem zumindest in Deutschland kein Stein auf dem anderen blieb. Und noch dazu handelt es sich um ein Jahr, das ich selbst als fünfzehnjähriger Gymnasialschüler erlebte. Im Gegensatz zu Helge Hesses Zeitscheibe von 1775 bis 1977 begebe ich mich nun als Zeitzeuge mit Philipp Sarasin zurück in ein Jahr, das ich selbst nie vergessen habe.

Es ist eine kurze Geschichte der Gegenwart, die Philipp Sarasin in 1977 skizziert. Er versucht Muster, Verbindungslinien und Ähnlichkeiten aufzuspüren, die Ereignisse in diesem Jahr miteinander verbinden. Er analysiert, seziert und rekonstruiert. Er scheint, selbst in diesem Buch, lange mit sich zu hadern, ob ein einziges Jahr repräsentativ für seine Methodik sein kann. Dann kommt er in Schwung, dann gelingt ihm eine Struktur, in der man sich zurechtfindet. Ob als Zeitzeuge oder als Spätgeborener. Mir wird sehr klar, dass ich hier Ereignissen und Menschen begegnen werde, die einst meinen Alltag bestimmt haben. Ich werde mit Begriffen konfrontiert, die einen Fünfzehnjährigen sehr bedrückten, beeinflussten und prägten. RAF, Mogadischu, Landshut, GSG-9, Hanns Martin Schleyer, Roter Herbst, Arbeitgeberpräsident. Es waren Wochen intensivster Diskussionen mit Freunden und Eltern. Es waren Monate im Gefühl einer Unsicherheit, wohin das Land driften würde. Terrorismus oder Staatsgewalt? Die Schere öffnete sich gewaltig.

1977 - Philipp Sarasin - Astrolibrium

1977 – Philipp Sarasin

Und genau hier prallen Autor und Leser (also ich) aufeinander. Ich erlebte (wie er) dieses Jahr als Zeitzeuge. Er jedoch schreibt nicht als solcher darüber, sondern begibt sich in die Rolle des Historikers, distanziert sich von Emotionen und Ängsten und lässt dabei doch tiefe Einblicke in sein Seelenleben zu, weil auch er sich nicht ganz von den Erinnerungen dieser Tage befreien kann. Es ist ein facettenreiches Buch, das uns der Professor für neue allgemeine Geschichte in die Hände legt. Ihm gelingt einerseits, in seinem Schreiben keine professorale Distanz aufkommen zu lassen. Ich fühle mich in keiner Weise als Gasthörer seiner Vorlesungen. Leichte Kost jedoch darf man von der Auseinandersetzung Sarasins mit dem Jahr 1977 nicht erwarten. Es ist nicht die reine Atmosphäre, die er zu erklären versucht, es ist nicht der Blick in die Seelenlandschaft der Menschen. No. Sarasin zeigt mir, dass ich als Fünfzehnjähriger die Symptome der Zeit erlebt habe. Von den Ursachen oder dem Verstehen der Zusammenhänge war ich meilenweit entfernt. Andererseits ist es genau das, was mir seither fehlte. Dieser klare Blick auf die Ereignisse hinter den Kulissen, die Zusammenhänge und mehr.

Wie bei Helge Hesse ist es auch hier die Theorie der eher zufälligen Parallelitäten von Ereignissen, die aus ihnen wahre Geschichtsbündel machen, die erst später zu erkennen und zu analysieren sind. Philipp Sarasin hält dagegen:

„Jede Gegenwart ist ein Geflecht solcher Gleichzeitigkeiten und unzähliger, disperater Ereignisse. Dieses Buch widmet sich der Frage, welche
Verbindungen es zwischen ihnen gab, welche Muster und Ähnlichkeiten… sichtbar werden, wenn man den Blick auf (fast) ein Jahr konzentriert.“

Und so erschließt sich schnell, dass es sich hier nicht um einen willkürlichen Mix aus Geschichte und Geschichten handelt. Schon in der reinen Identifizierung als relevantes Ereignis liegt hier der Schlüssel zur Decodierung der im Hintergrund verlaufenden Kette aus Parallelereignissen. Das liest sich zuweilen spannend, zuweilen ist es jedoch auch sehr anstrengend, der Argumentationskette zu folgen, bis man an ihr offensichtlich nicht offensichtliches Ende gelangt. Der neutrale Ausgangspunkt der Betrachtung, sich quasi im Leerlauf in ein bedeutungsschweres Jahr zu begeben, eint den Verfasser mit seinen Lesern. Sarasins Hintergrund jedoch untermauert und verfestigt seine Abschweifungen in Soziologie, Philosophie und Geschichte, nur um die Verbindungen später sichtbar zu machen. Ein gewagtes Unterfangen, das in den fünf groß angelegten Kapiteln recht gut gelingt. Zumal er jedem der Kapitel einen großen Geist der Geschichte voranstellt, an dem sich die anderen großen Geister geschieden hatten, und der genau im Jahr 1977 sein Leben ausgehaucht hat. Ironie der Geschichte, könnte man sagen.

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1977 – Philipp Sarasin

So begeben wir uns jeweils postmortem nach dem Tod von Ernst Bloch, Fannie Lou Hamer, Anaïs Nin, Jacques Prévert und Ludwig Erhard ins Herz des Buches. Philipp Sarasin hat in mir besonders die „Offensive 77“ der RAF in Erinnerung gerufen und in einer bestechend vorgebrachten Argumentation die Entstehungsgeschichte des linken Terrors als logische Reaktion auf eher rechtskonservativ orientierte Leitlinien der politischen Grundordnung in der BRD aufgezeigt. Es gab Vorverurteilungen, es gab nie „mutmaßliche Terroristen“, es existierte keine Unschuldsvermutung, es wurde offen die Todesstrafe für die RAF-Mitglieder gefordert und in der öffentlichen Diskussion war das freie Deutschland auf dem Weg, in eine gefährliche Richtung abzudriften. Dies alles im Zusammenhang logisch verknüpft erlesen zu können, ist erhellend und wichtig zugleich, stehen wir doch immer wieder an den Wendepunkten der Geschichte und urteilen eher voreilig als überlegt. Hinter Mauern verschanzt lässt es sich gut mit Steinen werfen.

Wie Philipp Sarasin seinen „interkontinentalen Bogen“ vom deutschen Terrorismus bis zum Durchbruch der Theorie der allgemeinen Menschenrechte, dem Kampf gegen letzte Bastionen der Sklaverei in den USA, bis hin zum Selbstbild einer Generation im Verbund mit der Entwicklung des ersten Personal-Computers spannt, ist brillant und in jeder Hinsicht erhellend. Ja, dieses Jahr hat Maßstäbe gesetzt. Die Menschen haben demonstriert, terrorisiert, polarisiert. Die Gleichzeitigkeit von gesellschaftlichen Strömen ist kein Zufall. Das sieht nur so aus. Sarasin ist in der Lage das zu belegen und weist in diesem Zusammenhang auch klar darauf hin, wie wir unserer heutigen Zeit kritisch und beobachtend, handelnd und wahrheitssuchend gegenüberstehen können. Viele Bilder sind im Jahr 1977 vom Sockel gestoßen worden. Frauenbilder wurden neu geboren, in Stein gemeißelt wurden sie noch nicht. Emanzipation wurzelt in diesem Jahr. Vielleicht eine der weniger schönen Erkenntnisse des Buches, dass die feministische Wende in vielen Teilen der Gesellschaft noch nicht angekommen ist.

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1977 – Philipp Sarasin

Ich wäre 1977 gerne so weit gewesen, alles zu verstehen, was Philipp Sarasin mir in seinem wegweisenden Buch erläutert. Es war nur schlichtweg nicht möglich, wie es auch nicht möglich ist, das Jahr 2021 schon heute einer solchen vergleichenden und bewertenden Analyse zu unterziehen. Der Autor macht keinen Hehl aus seiner eigenen Subjektivität in der Herangehensweise an dieses Jahr und lässt natürlich auch Kritik an seiner grundlegenden Methodik zu. Er regt dazu an, einen breiten Diskurs zu führen, in Ursachen und Wirkungen zu unterscheiden, der Parallelität der Ereignisse Beachtung zu schenken und sich vor jenen zu hüten, die mit einfachen Wahrheiten polarisieren. In dieser Hinsicht hat 1977 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart sicher den Preis als klares Frühwarnsystem gegen die Vereinfachung von Perspektiven und Meinungen verdient.

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1977 – Philipp Sarasin

Hier geht´s weiter mit den nominierten Autoren und Autorinnen
und ihren Werken in den Kategorien Belletristik und Sachbuch.

Bayerischer Buchpreis 2021 – Meine Partnerbuchhandlung

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Der Platz von Annie Ernaux [Das Hörspiel]

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Der Platz von Annie Ernaux [Das Hörspiel]

Update 06. Oktober 2022 – Literaturnobelpreis für Annie Ernaux

Die Begründung des Nobelpreiskomitees: Sie bekomme den Preis für „ihren Mut und ihre klinische Scharfsinnigkeit, mit der sie die Wurzeln, Entfremdung und die kollektiven Zwänge persönlicher Erinnerungen aufdeckt.“

***

Man kommt an den Werken von Annie Ernaux nicht vorbei. Man kann es drehen und wenden, wie man will, es gibt für mich nur eine Autorin, die in der Rückschau auf ihr eigenes Leben so schonungslos ehrlich mit sich selbst, ihren Träumen und Lieben, ihren Vorurteilen, ihrer Scham, ihrem Selbstmitleid, mit Missbrauch und Enttäuschung umgeht und sich dabei einer literarischen Reflexion unterzieht, die beispiellos ist. Annie Ernaux scheint sich durch ihr Schreiben zu befreien, von den Fesseln ihrer Geschichte zu lösen, um letztlich im endlosen Meer ihrer Kreativität so schwimmen zu können, wie es ihr ohne die Analyse ihrer Vergangenheit nicht möglich wäre. Sie scheut vor nichts zurück. Sie wagt jeden Blick hinter die Kulissen, lässt keinen Stein auf dem Anderen.

Ich folgte Annie Ernaux hörend durch die „Erinnnerung eines Mädchens“ und war an ihrer Seite, als Die Jahre vergingen. Ich beschloss diesmal, nicht die Bücher zu lesen, sondern ausschließlich den Lesungen und Hörspielen von Der Audio Verlag die volle Aufmerksamkeit zu schenken. Ich wurde belohnt mit intensiver Nähe, aufrichtigen Gefühlen und einer unfassbaren Stimmgewalt, die mich auf dieser Reise fesselten. Ich weiß nicht genau, ob die Bücher eine vergleichbare Wirkung in mir erzielt hätten. Hier jedoch hatte ich das unmittelbare Gefühl, Annie Ernaux zuhören zu dürfen, mit ihr im gleichen Raum zu sein und quasi aus erster Hand in ihr Leben entführt zu werden. Es ist zutiefst intim, was sie erzählt. Es ist nur für meine Ohren bestimmt. Ein exklusiveres Hörerlebnis kann man sich kaum vorstellen. Es sind Kindheitserlebnisse, Erinnerungen an das problematische Elternhaus und Emotionsmuster ihres späteren Weges, die sie mir in diesen Stunden anvertraut hat, die ich wie einen ganz persönlichen Schatz hüte. Jede Rezension fühlt sich an, wie eine Indiskretion. So tief hörte ich nie zuvor.

Der Platz von Annie Ernaux [Das Hörspiel] - Astrolibrium

Der Platz von Annie Ernaux [Das Hörspiel]

Auch diese Worte kommen mir wie ein Verrat an einer Schriftstellerin vor, die mir in in den letzten Stunden von ihrem Vater erzählte. Von dem Menschen, der sie prägte und zu dem sie ein so ambivalentes Verhältnis hatte, dass sie es nach seinem Tod nur kaum für sich behalten konnte. Doch wie schreibt man über seinen Vater? Wie nähert man sich einem Menschen an, den man bisher nur aus einer sehr emotionalen Distanz mit dem eigenen Leben verbunden sehen wollte? Wie schreibt man über eine Figur im eigenen Leben, von der man sich immer befreien wollte, ohne sie jetzt zu verraten? Ein Roman war ungeeignet. Das stand schnell fest für Annie Ernaux. So entstand eine sehr kritische und doch emotionale Auseinandersetzung mit ihrem Vater, die jetzt unter dem Titel „Der Platz“ als Hörspiel ihren Weg in die kleine literarische Sternwarte fand.

Annie Ernaux war 27 Jahre alt, als ihr Vater 1967 starb, wartete auf ihre erste Stelle als Lehrerin und fühlte sich an einem Wendepunkt ihres Lebens angelangt, an dem sie über ihr Verhältnis zum eigenen Vater und nicht zuletzt auch über sich selbst schreiben wollte. Schnell spürt man die distanzierte Liebe und die zärtliche Distanz, die sie für ihn empfand. Aber da ist viel mehr. Eine schier unüberbrückbare Klassendistanz, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, lässt aufhorchen und mich als Zuhörer, gerade weil ich selbst Vater bin, deutlich zurückschrecken. Will man als Vater nicht unbedingt, dass es der eigenen Tochter später einmal besser geht? Will man nicht alles geben, um seinen Kindern einen Aufstieg zu ermöglichen, den man selbst nicht geschafft hatte? Es packt mich in den tiefsten Gefühlsebenen, bei Annie Ernaux eine intensive Scham zu fühlen, die mit der Existenz des Vaters verbunden ist.

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Der Platz von Annie Ernaux [Das Hörspiel]

Er, der kleine Krämer, dem es mit dem kleinen Laden gerade mal eben gelang, seine Familie zu ernähren, findet im späteren Leben der eigenen Tochter keinen Platz. Ihre Bildung, die er ihr ermöglicht, entfernt sie immer weiter vom proletarischen Elternhaus. Die gemeinsame Sprache geht verloren. Ihre theoretisch ausgerichtete Welt geht auf Kollision zum Lebensentwurf der Eltern. Sie beginnt, sich für die komplexe Schlichtheit des Vaters zu schämen. Besuche mit Kommilitonen geraten für sie zum Fiasko. Sie ist kaum in der Lage, ihren Freundinnen zu vermitteln, dass dies das Elternhaus ist, aus dem sie stammt und dessen Werte sie eigentlich schätzen sollte. Ihr Vater entspricht seiner Tochter nicht mehr. Ein Riss geht durch das Verhältnis, das schon zuvor nicht gerade durch innige Liebe gekennzeichnet war.

Ist es Verrat am eigenen Vater, so zu schreiben? Ist es das Bildungsbürgertum, das sich hier an seinen Wurzeln vergeht oder ist es eher eine Abrechnung mit den eigenen Gefühlen, die wir hier erleben? Ich war sehr verunsichert, bis ich in den Untertönen des Erzählten deutliche Spuren von schlechtem Gewissen erkannte. Nein, Annie Ernaux ist weit davon entfernt, ihrem Vater dessen Herkunft und die fehlende Bildung zur Last zu legen. Sie zeigt nur beeindruckend auf, wo es hinführen kann, wenn man sich aus der heimischen Schlichtheit erhebt und zum Freiflug ansetzt. Wenn das eigene Elternhaus zur Last wird, ist es kaum möglich, das eigene Leben als Höhenflug zu erleben. Dieses Dilemma tobt in Annie und so verstehe ich diese Aufarbeitung als den Versuch, ihrem Vater wieder einen Platz im Leben einzuräumen. „Der Platz“, den sie ihm genommen hatte.

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Der Platz von Annie Ernaux [Das Hörspiel] 

Ich musste das Hörspiel oft unterbrechen, weil immer wieder Fragen auftauchten, die mich intensiv beschäftigten. Was, wenn meine eigene Tochter in einigen Jahren so über mich schreiben würde? Was, wenn sie sich später einmal von mir distanziert, weil ich nicht dem Bild entspreche, das sie gerne vom eigenen Vater hätte? Was, wenn ich mir vorstelle, sie würde sich für das hier Erlebte schämen? Und was, wenn ich nur eine Sekunde daran denke, dass all dies schon jetzt unausgesprochen zwischen uns stehen würde? Dieses Hörspiel kann verstören. Es kann aber auch dazu führen, dass man im Hier und Jetzt gemeinsame Worte findet, die diese Schranken einreißen, bevor sie uns um die Ohren fliegen. Nie zuvor empfand ich ein Hörspiel als größere Chance, sich in seiner paradoxen Vatersicht „sie soll es ja mal besser haben“ zu hinterfragen.

Annie Ernaux lebte im Gefühl, ihr Erbe auf dem steinigen Weg in ein bürgerliches Leben zurücklassen zu müssen. Der Bourgeoisie war ihre Herkunft zu schlicht. Vater Ernaux war zu schlicht. Scham begleitete sie in ihr Leben als Lehrerin und Intellektuelle. „Der Platz“ ihres Vaters ging verloren. Damit auch ihr eigener. Mit dieser Aufarbeitung hat sie beides zurückerobert und ihrem Vater auf dem schlichten Grab ein Denkmal in aller Würde und Zerrissenheit errichtet. Das Hörspiel bietet einen emotionalen Zugang zu dieser facettenreichen Denk- und Sichtweise. Es wird jener Intention der Autorin in besonderer Weise gerecht, ihre eigenen Gefühle auf den Prüfstand zu stellen. Es ist atmosphärisch, was uns im Hörspiel erwartet. Es sind rhythmische Klangmuster, die in den Vordergrund treten, wenn das Denken Luft holt. Es sind Echo-Effekte, wenn das Leben von einst sich Raum verschafft und den „Platz“ zurückgewinnt, den es verloren hat.

Der Platz von Annie Ernaux [Das Hörspiel] - Astrolibrium

Der Platz von Annie Ernaux [Das Hörspiel]

Und es ist die Stimme von Stephanie Eidt, die so sehr Annie Ernaux ist, wie man nur Ernaux sein kann. Sie liest nicht. Sie lebt. Sie zaudert, zweifelt, hinterfragt, erlebt und durchlebt. Sie wird emotional, wenn die Erinnerung zu schmerzhaft wird und erlöst sich selbst, wenn die Befreiung von alten Fesseln spürbar wird. Nicht sie hat den Kloß im Hals, wenn es schwer wird. Ihre Zuhörer spüren ihn mit zunehmender Dauer. Wenn dann noch gefühlvolles Gitarrenzupfen das hier Erzählte untermalt, treten Tränen in die Augen. Wenn sie im Namen von Annie Ernaux über die Rolle eines Vaters spricht, ist Ende mit Vernunft und Zurückhaltung. Dann verliert man die Distanz. Der Erzählraum weitet sich und „Der Platz“ wird zur Vision dessen, was man selbst vererben möchte.

Dem Platzverweis im Leben folgt der Freispruch am grünen Tisch der Literatur.

„Er fuhr mich auf dem Fahrrad zur Schule. Ein Fährmann zwischen zwei Ufern. Bei Sonne und Regen. Vielleicht sein großer Stolz, sogar sein Lebenszweck, dass ich eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn nur herabgeblickt hatte.“

Was, frage ich mich, kann eine Tochter schöneres über ihren Vater sagen? Dank an Annie Ernaux, danke, Stephanie Eidt. (Ein Vater) Jetzt werde ich Ernaux lesen. Es geht weiter mit „Die Scham„. Ich komme nicht los.

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Der Platz und Die Scham von Annie Ernaux

„Mittelreich“ von Josef Bierbichler (Buch und Hörbuch)

Mittelreich von Josef Bierbichler

Neureich, steinreich, stinkreich, mittelreich. Lasst mich bei der Buchvorstellung zum Roman „Mittelreich“ von Josef Bierbichler einfach mal mit diesen Statusbegriffen des persönlichen Wohlstands beginnen, sonst könnte man den Titel vielleicht falsch deuten und der Meinung sein, er hätte etwas mit einem Reich im Sinne von Territorium zu tun. Mittelreich bezeichnet hier eher die monetäre Grauzone zwischen Armut und Reichtum, in der man sich relativ gelassen einen Blick auf die Welt gönnen kann. Ein Zustand, der durch weitgehende Unabhängigkeit in Verbindung mit Bodenständigkeit charakterisiert werden kann. Mittelstand. Mittelreich. Aber kein Mittelmaß. Alles nur das nicht…

Und doch hat diese große deutsche Erzählung so einiges mit den Reichen zu tun, die sie umfasst. Diesmal meine ich nicht finanziell gutgestellte Menschen, sondern im historischen Kontext der Geschichte dieses Landes das Deutsche Kaiserreich und das fast unmittelbar darauffolgende Dritte Reich, das gottlob nicht die befürchteten tausend Jahre währte. Dieser Roman ist eine generationsübergreifende Familiengeschichte, die kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges so richtig Fahrt aufnimmt. Bierbichler wagt das Ungewöhnliche. Er legt einen Heimatroman voller Klischees vor, die gar keine sind, und bedient sich dabei einer pfundig urtümlichen, deftigen und bildreichen Sprache. In unseren hochliterarisch vergeistigten Zeiten der auf Hochglanz gestylten Fabulierkunst ein gewagtes Unterfangen, möchte man vielleicht auch Leser und Hörer gewinnen, die nicht unbedingt auf eine lange bayerische Familientradition zurückblicken. 

Mittelreich von Josef Bierbichler

Denn genau hierhin entführt uns Josef Bierbichler. Bayern. Eine Seewirtschaft, drei Generationen von Wirten und deren Familien, Bedienstete unterschiedlicher Schichten und Nationalitäten, bizarre Gäste und die Geschichte eines Landes als offene Klammer, die alle Handlungsstränge magisch miteinander verbindet. Wo Sprache unsichtbar und sehr zurückgezogen bleiben sollte, um nicht vom Erzählten abzulenken, da kultiviert er seine Erzählsprache zum Alleinstellungsmerkmal einer ungewohnten Authentizität, und verleiht seinen oftmals skurrilen aber doch greifbaren Charakteren unverwechselbares Leben und eine ureigene Identität.

Es fällt nicht leicht, sich auf Josef Bierbichler einzulassen. Besonders das von ihm selbst gelesene ungekürzte Hörbuch stellt mit seinen zwölf Stunden Laufzeit eine echte Herausforderung dar. Man kommt nicht leicht hinein in seine Seewirtschaft. Man muss sich an den Jargon, die Sprachfärbung und die Menschen gewöhnen, die plötzlich auf uns einreden. Dabei sind es nicht die Intellektuellen und Gestelzten, mit denen wir hier am See unsere Zeit verbringen. Es sind Menschen voller Bauernschläue, Weisheit und mit heimatverbundener Traditionsliebe. Es dauert jedoch nicht lange, bis man im Buch Fuß fasst und dahingetrieben wird. Es dauert nicht lange, bis man im Hörbuch denkt, in der Seewirtschaft am Stammtisch aufgenommen worden zu sein und alle Geschichten quasi aus erster Hand hören zu dürfen. Es dauert nicht lange und man wird Stammgast in der Wirtschaft am See.

Mittelreich von Josef Bierbichler

Es dauert nicht lange und wir fühlen, was Josef Bierbichler eigentlich erzählt. Es sind die besonderen Geschichten von den kleinen Menschen, deren Leben von Armut, Flucht, Hoffnung, unverhofftem Wohlstand und dem Verlauf der Zeitgeschichte geprägt wurde. Dabei verdeutlicht er, was es heißt, Erbe zu sein. Wenn die Seewirtschaft auch im Roman zum Erbhof für die folgenden Generationen wird, so ist dieser Roman in sich ein wahrhaftiges Erbbbuch, das aufzeigt, wie sehr unser Handeln von heute schon von unseren Vorfahren beeinflusst wurde. Dieser Roman ist Deutsche Geschichte auf eine Wirtschaft im Wandel der Zeit heruntergebrochen. Hier lernen wir am Stammtisch, was wir nicht in Geschichtsbüchern finden. Hier erleben wir Geschichte.

Wir werden Zeitzeugen der Veränderungen, als sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Freizeitbegriff zu prägen beginnt. Sommerfrischler ziehen an die Seen, bevölkern in Scharen das zuvor unbesuchte bäuerliche Land. Wo die Seewirtschaft entsteht, geht in Deutschland der Begriff vom eigentlichen Arbeiter fast gänzlich unter. Was sich nun im Geist breitmacht ist Langeweile. Ein Schlendrian, der zuvor unbekannt war. Gottlob hat der Kaiser das erkannt und veranstaltet einen kurzen knackigen Krieg. Pünktlich zu den Sommerferien geht es los und zur Ernte sind ja alle wieder da. Das ist echter Weitblick. Was auf dem bayerischen Land für Unterhaltung sorgt, verändert den Lauf der Welt. Es verändert die Seewirtschaft für alle Zeit.

Mittelreich von Josef Bierbichler

Kopfschüsse und Irrenhäuser bringen die Erbreihenfolge gehörig durcheinander. So wird aus dem jüngsten Sohn Pankratz, der eigentlich lieber Künstler geworden wäre der neue Seewirt. Wie in einer veränderten Thronfolge bringt dies auch die Familien am See durcheinander. Wir erleben, wie Pankratz an der Aufgabe wächst, sehen die Jahre ins Land ziehen, hören den Ruf nach dem starken Mann, sehen wie das Blau in Bayern dem Braun im Rest des Nazi-Reiches Platz macht und lassen uns auf der Schlachtbank des Zweiten Weltkrieges zerlegen. Pankratz überlebt ihn nur mit viel Glück und führt die Seewirtschaft in die neue Zeit. Wie Strandgut der Geschichte sammeln sich Menschen um ihn, die nach dem Krieg am See angespült wurden. Vertriebene, Geschlagene und Geflüchtete. Er integriert, stellt Knechte ein und übersteht alle Krisen. Seine Kinder und seine Frau sollen es da besser haben. Katholische Internate werden zu Lebensschulen und das Wirtschaftswunder läutet eine neue Zeit ein.

Von der Geschichte geprägte bewegende Geschichten erweitern den Erzählraum. Da ist Viktor, der desertierte Soldat, den Pankratz zuerst zum Koch und dann zu einem Teil der großen Seewirtsfamilie macht. Da ist das Fräulein Zittau, das einst Herrin eines Gutshofes im Osten war und auf der Flucht vor den Russen fast alles verloren hat. Und da ist der Flüchtling Tucek, der Jahre nach dem Krieg erst erzählen kann, warum es ihn so stört, wenn man rassistische Witze über KZs und die SS macht. Voller Geschichten ist dieser Roman. Alle sind miteinander verbunden und jede für sich ist lesenswert. Wir erleben die Verdrängung der Nazi-Zeit und den hoffnungsvollen Neubeginn. Dabei sind die Kinder der neuen Generation der gefühlte Untergang der alten Ordnung. Die ewige Sehnsucht nach einem starken Deutschland, möglichst ohne Fremde, schlägt neue und gewaltige Wellen in den See. Nur Pankratz scheint sich treu zu bleiben.

„Ich war nie ein Nazi. Doch kein Nazi war ich nicht!“

Mittelreich von Josef Bierbichler

Wir erleben Deutschland neu. Wir verstehen Generationskonflikte und denken dabei auch an die Veränderungen, die unsere Eltern in kürzester Zeit verarbeiten mussten. In der Tiefe unter all jenen kleinen großen Geschichten schwelt ein Konflikt, den Pankratz nicht kommen sah. Semi, sein eigener Sohn entfremdet sich zusehends. Wobei es fast offene Feindschaft gegenüber seinen Eltern ist, die diesem Roman inhaltlich die Krone aufsetzt. Hier explodiert eine Granate, deren Lunte seit Anbeginn der Zeit zündelt. Hier schließt sich der Kreis von „Mittelreich“. Hier nehmen wir als Leser und Hörer Beichten ab und lesen Testamente. Hier erkennen wir, wo Geschichte und Ignoranz Todesurteile gefällt haben. Ein großer Roman voller relevanter Themen. Und wenn man schön leise ist und aufmerksam zuhört, dann kann man auch heute noch an den Stammtischen der Seewirtschaften im Lande zotige Witze über Flüchtlinge hören. Verleugnendes über ein Reich, in dem ja nicht alles schlecht war. Und da sitzen sie erneut: die Mittelreichen und ebnen dem neuen Denken die altbekannten Bahnen.

„Mittelreich“ ist erschienen bei Suhrkamp und „Der Audio Verlag“. Ich habe mich wechselweise in der Buch- und der Hörbuchwelt bewegt. Josef Bierbichler zuzuhören, wie er es diese Geschichte liest, ist ein absolutes Erlebnis. Und wer sich hier inspirieren ließ, der kann sich den Film Zwei Herren im Anzug anschauen. Es handelt sich hier nicht um die Verfilmung von „Mittelreich“, sondern um eine inhaltlich an die Motive des Romans angelehnte Filmfassung. Ich selbst bin schon sehr gespannt, wenn ich ihn mir nach seinem Erscheinen als DVD am 27. September anschauen werde. Bierbichler ist selbst zu sehen und nicht nur das. Er hat Regie geführt und spielt den Seewirt Pankratz in älteren Jahren. Den jungen Pankratz übernimmt Simon Donatz, der Sohn von Josef Bierbichler. Darauf darf man echt gespannt sein, wenn Familienähnlichkeit im Film als Stilmittel verwendet wird… Ich werde darüber schreiben… bald…

Mittelreich von Josef Bierbichler

Mirjam Pressler gewinnt Preis der Leipziger Buchmesse

Mirjam Pressler - Preisträgerin Preis der Leipziger Buchmesse - Übersetzung

Mirjam Pressler – Preisträgerin Preis der Leipziger Buchmesse – Übersetzung

Ihr kennt diese Situation von Fußballspielen, in denen es um die Vergabe großer und bedeutender Titel geht. Abpfiff. Ein Team jubelt und schnell sind Betreuer auf dem Platz, öffnen geheime Sporttaschen und verteilen T-Shirts und Basecaps an die Sieger des Endspiels. Der stolze Aufdruck „Pokalsieger“ prangt nur wenige Sekunden nach dem Spielende auf der Brust der siegreichen Recken.

Und die andere Mannschaft? Die Verlierer? Haben die nicht auch solche geheimen Taschen unter der Bank stehen? T-Shirts mit dem gleichen Aufdruck, doch nur in anderen Vereinsfarben? Und nun…? Ab damit in den Giftschrank der Geschichte. Bloß niemandem zeigen, dass man so optimistisch war, bereits weit im Vorfeld des Spiels solche äußeren Triumpfzeichen herstellen zu lassen.

Und so wandern die Einen reich geschmückt und verziert auf die Ehrenrunde und die Anderen gehen mehr als betreten duschen. Wobei sie vielleicht ganz nebenbei an eine unauffällige Sporttasche stoßen, deren Inhalt niemals das Licht der Welt erblickt.

Mirjam Pressler - Preisträgerin Preis der Leipziger Buchmesse - Übersetzung

Mirjam Pressler – Preisträgerin Preis der Leipziger Buchmesse – Übersetzung

Was das alles mit Literatur zu tun hat? Ganz einfach! Dieser Artikel lag bis vor wenigen Minuten in meiner geheimen Blogger-Tasche. Er hätte niemals das Licht der Welt erblickt, wenn nicht ein besonderes Ereignis eingetreten wäre. Ich hätte ihn still und heimlich in meinem Giftschrank der Geschichte verschwinden lassen.

Aber als Bloggerpate von Mirjam Pressler muss man doch optimistisch sein. Und so schreibe ich heute, was vielleicht niemals geschieht und drücke diesen Zeilen fortan die Daumen, dass ich sie an diesem 12. März 2015 von der Preisverleihung in der Glashalle der Buchmesse Leipzig heraus veröffentlichen kann. Unmittelbar nach der Bekanntgabe der Preisträger des heiß begehrten Preises der Leipziger Buchmesse.

Mirjam Pressler ist seit wenigen Minuten eine ausgezeichnete Übersetzerin. Sie wurde soeben mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für ihre Übersetzung des Romans „Judas“ von Amos Oz (Suhrkamp Verlag) aus dem hebräischen Original mit der Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse 2015 in der Kategorie Übersetzung geehrt.

Mirjam Pressler - Preisträgerin Preis der Leipziger Buchmesse - Übersetzung - Bloggerpaten - Astrolibrium

Mirjam Pressler – Preisträgerin Preis der Leipziger Buchmesse – Übersetzung

In meinem Patenschafts-Artikel habe ich vor wenigen Tagen (komisches Gefühl gerade, das jetzt zu schreiben, weil vor wenigen Tagen eigentlich ja jetzt ist) einen intensiven Blick auf den Roman und die Herausforderung seiner Übersetzung geworfen. Ich gratuliere dem Autor und seiner Übersetzerin von Herzen für diese Auszeichnung, die sie aus meiner Sicht mehr als verdient haben.

Ein schlechter Roman wird durch seine Übersetzung niemals ein guter Roman und insofern ist dieser Buchpreis eben auch eine große Auszeichnung für Amos Oz und sein Werk „Judas“. Aber ganz besonders stolz bin ich natürlich in diesen Sekunden auf mein ausgezeichnetes literarisches Patenkind Mirjam Pressler. Glücksbloggerzeit!

PS: Ich hoffe nicht, dass ich beim Duschen an diese Blogger-Tasche stoße und dann auf den „Löschen-Button“ drücken muss. Wenn ihr diese Worte lest und die Bilder seht, dann stellt euch einfach vor, wie wir gerade auf der Ehrenrunde winkend durch den Saal laufen – und dieser Artikel ist nichts weiter als eines dieser T-Shirts mit dem magischen Aufdruck (Preisträger)… Mögen diese Worte sichtbar werden

Liebevoll zugeeignet – Mirjam Pressler (16.06.1940 – 16.01.2019) Unvergessen!
Ebenso unvergessen – Amos Oz – (04.05.1939 – 28.12.2018)

LBM15 – Die Leipziger Buchmesse – Bücher – Eulen – Emotionen

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