Khomeini – Der Revolutionär des Islams – Katajun Amirpur

Khomeini - Der Revolutionär des Islam - Katajun Amirpur - Astrolibrium

Khomeini – Der Revolutionär des Islams – Katajun Amirpur

Khomeini – Der Revolutionär des Islams. Eine Biographie von Katajun Amirpur, erschienen im C.H. Beck Verlag, ist in der Kategorie Sachbuch für den Bayerischen Buchpreis 2021 nominiert. Die Rezension ist Teil meiner Auseinandersetzung mit allen zur Wahl stehenden Büchern, da ich die Preisverleihung auch in diesem Jahr als einer der drei Literaturblogger offiziell begleiten darf. Auf meiner Projektseite findet man die Hintergründe zum #baybuch, die nominierten Bücher in den Kategorien Belletristik und Sachbuch, den Bayern 2-Publikumspreis und unsere Rezensionen. Voller Spannung fiebern wir dem Ergebnis der öffentlichen Jury-Debatte entgegen, die am 11. November über die Preisträger:innen entscheiden wird.

Khomeini – Der Revolutionär des Islam von Katajun Amirpur - Astrolibrium

Khomeini – Der Revolutionär des Islams von Katajun Amirpur

Es war keine Überraschung für mich, dass unter den diesjährigen nominierten Titeln für den Bayerischen Buchpreis auch ein Buch zu finden sein würde, das ich mir selbst niemals gekauft hätte. Meine Interessen sind weit gefächert, aber bei einigen Themen bin ich doch eher zurückhaltend, weil ich mich zu intensiv einlesen müsste, um meiner Meinung zum Buch mit Nachdruck Gehör zu verschaffen. Insofern ist „Khomeini“ aus der Feder von Katajun Amirpur ein echtes literarisches Brett, das als letztes Buch der Kategorie Sachbuch noch von mir gelesen werden wollte. Der Revolutionär des Islams ist mir natürlich aus den Nachrichten des Jahres 1979 bekannt. Ich war Schüler in der Oberstufe eines Gymnasiums in der Eifel und stand drei Jahre vor dem Abitur. Und ja, der schwarz gekleidete Führer der islamischen Revolution hatte Eindruck hinterlassen, war nur in Verbindung mit seinem Titel Ajatollah im Westen bekannt und errichtete im Iran die Islamische Republik. Für einen siebzehnjährigen Eifelaner war das weit weg. Und zumindest die Persönlichkeit und die Geschichte Khomeinis sollten dies für mich noch lange bleiben. Fern…

Und nun liegt eine Biographie vor mir, die sich in aller Ausschließlichkeit mit diesem charismatischen Religionsführer beschäftigt, der mir immer noch so fremd ist. Da mein Weg allerdings zu allen nominierten Werken für den Bayerischen Buchpreis führt, führt auch kein Weg an Katajun Amirpur vorbei. Ich hätte nicht gedacht, dass mir der Auftritt unseres GlockenbachWelle-Teams auf der Frankfurter Buchmesse 2021 den Weg zu diesem religionswissenschaftlichen Buch ebnen würde. Neben unserem Stand, zu dem wir vom Börsenverein des Buchhandels und der Bayerischen Staatskanzlei eingeladen wurden, war natürlich bei XPLR-Media in Bavaria auch der Bayerische Buchpreis ein  sehr relevantes Thema. Und wir erhielten als Buchpreisblogger für den Buchpreis vom Börsenverein Prokura, auch diesen Themenbereich am Stand zu vertreten, Interviews zu führen und die Bücher vorzustellen. Und so entdeckte ich am Messe-Freitag einen Leser, der in der BayBuch-Ecke Platz nahm und in „Khomeini“ versank. Und wer sich während einer Buchmesse mehr als eine Stunde nicht mehr von einem Buch trennen kann, der ist DER perfekte Ansprechpartner für einen Rat suchenden Blogger.

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Khomeini – Der Revolutionär des Islams – Katajun Amirpur

„Sie sind Islam-Spezialist, kennen sich bestimmt mit Khomeini aus und ich darf Sie etwas fragen.“ So begann der hoffnungsvolle Versuch, mit dem Leser in Kontakt zu kommen. Was dann geschah, hat mich nachhaltig beeindruckt. Nein, er sei sicher alles andere als ein Spezialist. Er habe das Buch nur in die Hand genommen, weil er Khomeini als Schüler in den Nachrichten gesehen habe und die düstere Gestalt nicht mehr so richtig vergessen konnte. Und dann. Ja, dann habe er angefangen zu lesen und nicht mehr gemerkt, wie die Zeit vergangen sei. Das Buch habe einen zu großen Sog entwickelt, um es beiseite zu legen. Jetzt müsse er aber wirklich mal weiter. Man könne ja nicht den ganzen Tag an einem einzigen Messestand verbringen. Das Buch werde er sich allerdings kaufen. Sprach es und verschwand. Was für eine Erlösung in seinen Worten zu finden war, kann man sich kaum vorstellen. Ich verlor jede Scheu, in diese Khomeini-Biographie einzusteigen und wurde unmittelbar nach der Buchmesse belohnt. Sollte der mir unbekannte Leser diese Zeilen finden, ich danke herzlichst für diesen Schlüssel zu einem besonderen Buch.

Katajun Amirpur hat wohl geahnt, dass ich dieses Buch eines Tages lesen würde. In der Struktur und in der inhaltlichen Vorgehensweise erkennt man sofort, dass sie nicht voraussetzt, dass man sich vorher intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hat, In ihrer Herangehensweise liegt das sympathische Wissen, dass der Lesende nicht alles wissen kann und letztlich nur deshalb zu diesem Buch greift. Ihre Ausflüge in die Tiefe der islamischen Religionswissenschaft gelingen so leichtfüßig, dass man jederzeit gut folgen kann. Dass Katajun Amirpur weit ausholen muss, um die Bedeutung Khomeinis für den Islam und die restliche Welt hervorzuheben wird schnell klar. Der Revolutionär hatte nicht nur das Land, in dem er die Macht übernahm revolutioniert, er hatte es mit seiner eigenen Religion nicht anders gehandhabt. Hier liegen extrem spannende und erhellende Momente des Lesens vor der interessierten Leserschaft. Die Unterschiede zwischen schiitischer und sunnitischer Perspektive auf die Nachfolgefrage religiöser Führer, die dabei zur Anwendung kommenden Rechtsgrundlagen und Interpretationen sind so greifbar beschrieben, dass man sich als Zuhörender in einer Koranschule fühlt, der unbefangen und frei lauschen darf.

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Khomeini – Der Revolutionär des Islams – Katajun Amirpur

Untermauert werden diese religionstheoretischen Betrachtungen mit der Vita des Gelehrten und späteren Revolutionsführers. Katajun Amirpur kommt dem in schwarz gekleideten Mann und dem, bezogen auf seine Persönlichkeit unbeschriebenen, Blatt in vielerlei Hinsicht nah. Sie beschreibt nicht nur die familiären Wurzeln, jene Ausrichtung der Lehre die ihn prägte und die Geschichte seiner Exile im Ausland. Nein, es sind die tragischen Jahre der Herrschaft eines Schahs, die verdeutlichen, warum Khomeini sich seiner Heimat zuwenden musste, um die Islamische Republik ins Leben zu rufen. Hier muss man der Autorin aufmerksam in ihre intensiven Beschreibungen folgen, wenn sie der Armut des Landes die Verschwendungssucht des Herrschers gegenüberstellt. Was Khomeini allerdings selbst verursachte, nachdem der Despot vertrieben war, gehört in vollem Umfang zur Geschichte dieses Buches. Dass ausgerechnet eine Frau sich dem Mann so intensiv nähert, der jegliche Beteiligung von Frauen am islamischen öffentlich sichtbaren Leben unterdrückte, verdient Bewunderung. Sie beschreibt Automatismen und Auswüchse patriarchalischer Systeme im Gegenwind moderner Zeiten und im Unterschied zur Entwicklung westlich geprägter Frauenbilder. Das ist kraftvoll und hat Wucht.

Katajun Amirpur gelingt mit ihrem Buch, den Schleier des Islams zu lüften, den viele Frauen innerhalb dieser Religion niemals lüften dürfen. Sie nähert sich diesem heiklen Thema deutlich an und schließt Kreise des Verständnisses zu ihrer Sichtweise. Es ist auch die verborgene Welt der schönen Künste, die sie für uns eröffnet. Khomeini als Dichter und Poet, als modebewusster Träger eines schwarzen Kaftans. Grotesk mag das klingen, als grotesk beschreibt die Autorin dies jedoch nicht. Man mag den Islam besser verstehen, nachdem man dieses Buch gelesen hat. Man mag besser mitreden und diskutieren können, wenn es hier um religiöse und patriarchalische Stereotype geht, die Katajun Amirpur klar aufbricht und erläutert. Das bessere Verständnis führt auf jeden Fall dazu, dass der Dämonisierung des Anderen Grenzen gesetzt werden. Für mich bleibt jedoch der Eindruck jener Islamischen Republik, den ich im Roman von Amir Hassan Cheheltan gewonnen habe. „Der Zirkel der Literaturliebhaber“ gehört zu den lesenswertesten Büchern im Niemandsland zwischen Schah und Khomeini. Es beschreibt das Ende des freien Lesens im Islam. Unvorstellbar für mich. Diese beiden Bücher gehen sicherlich in gewisser Weise Hand in Hand. Mutige Bücher. Beide. 

Khomeini - Der Revolutionär des Islam - Katajun Amirpur - Astrolibrium

Khomeini – Der Revolutionär des Islams – Katajun Amirpur

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und ihren Werken in den Kategorien Belletristik und Sachbuch.

Ein Nachtrag: Bleibt zuletzt die Verwirrung, wie das Buch eigentlich richtig heißt. Hier findet man auf der Verlagsseite unterschiedliche Angaben auf dem Cover und im Textteil. „Islam“ oder „Islams“. Ich habe mich damit auf Instagram beschäftigt.

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Bayerischer Buchpreis 2021 – Meine Partnerbuchhandlung

Bayerischer Buchpreis 2021 – Meine Partnerbuchhandlung

1977 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart – Philipp Sarasin

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1977 – Philipp Sarasin

1977 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ von Philipp Sarasin, erschienen im Suhrkamp Verlag, ist in der Kategorie bestes Sachbuch für den Bayerischen Buchpreis 2021 nominiert. Diese Rezension ist Teil meiner Auseinandersetzung mit allen zur Wahl stehenden Büchern, da ich die Preisverleihung auch in diesem Jahr als Literaturblogger offiziell begleiten darf. Auf meiner Projektseite findet man #baybuch-Hintergründe, die nominierten Werke und Rezensionen der drei Buchpreisblogger:innen. Wir erwarten gespannt das Ergebnis der öffentlichen Jury-Debatte, in der am 11. November über die Preisträger:innen entschieden wird.

1977 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart - Philipp Sarasin - nominiert - Sachbuch

1977 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart – Philipp Sarasin – nominiert – Sachbuch

Das ist ein spannender Sprung von einem Buch zum anderen. Während ich gerade noch Die Welt neu beginnen durfte und an der Seite von Helge Hesse ein Zeitfenster von genau fünfundzwanzig Jahren erlebte, ist es nun Philipp Sarasin, der sich nur ein einziges Jahr ausgesucht hat, um einen Zeitenwandel zu beschreiben. Hier sind es die Ereignisse und ihre Verzahnung, die sich auf die Gesellschaft auswirken, wie die große Französische Revolution. Hier prallen alte und neue Werte aufeinander. Verknappt auf ein einziges Jahr der unumkehrbaren Umwälzungen, in dem zumindest in Deutschland kein Stein auf dem anderen blieb. Und noch dazu handelt es sich um ein Jahr, das ich selbst als fünfzehnjähriger Gymnasialschüler erlebte. Im Gegensatz zu Helge Hesses Zeitscheibe von 1775 bis 1977 begebe ich mich nun als Zeitzeuge mit Philipp Sarasin zurück in ein Jahr, das ich selbst nie vergessen habe.

Es ist eine kurze Geschichte der Gegenwart, die Philipp Sarasin in 1977 skizziert. Er versucht Muster, Verbindungslinien und Ähnlichkeiten aufzuspüren, die Ereignisse in diesem Jahr miteinander verbinden. Er analysiert, seziert und rekonstruiert. Er scheint, selbst in diesem Buch, lange mit sich zu hadern, ob ein einziges Jahr repräsentativ für seine Methodik sein kann. Dann kommt er in Schwung, dann gelingt ihm eine Struktur, in der man sich zurechtfindet. Ob als Zeitzeuge oder als Spätgeborener. Mir wird sehr klar, dass ich hier Ereignissen und Menschen begegnen werde, die einst meinen Alltag bestimmt haben. Ich werde mit Begriffen konfrontiert, die einen Fünfzehnjährigen sehr bedrückten, beeinflussten und prägten. RAF, Mogadischu, Landshut, GSG-9, Hanns Martin Schleyer, Roter Herbst, Arbeitgeberpräsident. Es waren Wochen intensivster Diskussionen mit Freunden und Eltern. Es waren Monate im Gefühl einer Unsicherheit, wohin das Land driften würde. Terrorismus oder Staatsgewalt? Die Schere öffnete sich gewaltig.

1977 - Philipp Sarasin - Astrolibrium

1977 – Philipp Sarasin

Und genau hier prallen Autor und Leser (also ich) aufeinander. Ich erlebte (wie er) dieses Jahr als Zeitzeuge. Er jedoch schreibt nicht als solcher darüber, sondern begibt sich in die Rolle des Historikers, distanziert sich von Emotionen und Ängsten und lässt dabei doch tiefe Einblicke in sein Seelenleben zu, weil auch er sich nicht ganz von den Erinnerungen dieser Tage befreien kann. Es ist ein facettenreiches Buch, das uns der Professor für neue allgemeine Geschichte in die Hände legt. Ihm gelingt einerseits, in seinem Schreiben keine professorale Distanz aufkommen zu lassen. Ich fühle mich in keiner Weise als Gasthörer seiner Vorlesungen. Leichte Kost jedoch darf man von der Auseinandersetzung Sarasins mit dem Jahr 1977 nicht erwarten. Es ist nicht die reine Atmosphäre, die er zu erklären versucht, es ist nicht der Blick in die Seelenlandschaft der Menschen. No. Sarasin zeigt mir, dass ich als Fünfzehnjähriger die Symptome der Zeit erlebt habe. Von den Ursachen oder dem Verstehen der Zusammenhänge war ich meilenweit entfernt. Andererseits ist es genau das, was mir seither fehlte. Dieser klare Blick auf die Ereignisse hinter den Kulissen, die Zusammenhänge und mehr.

Wie bei Helge Hesse ist es auch hier die Theorie der eher zufälligen Parallelitäten von Ereignissen, die aus ihnen wahre Geschichtsbündel machen, die erst später zu erkennen und zu analysieren sind. Philipp Sarasin hält dagegen:

„Jede Gegenwart ist ein Geflecht solcher Gleichzeitigkeiten und unzähliger, disperater Ereignisse. Dieses Buch widmet sich der Frage, welche
Verbindungen es zwischen ihnen gab, welche Muster und Ähnlichkeiten… sichtbar werden, wenn man den Blick auf (fast) ein Jahr konzentriert.“

Und so erschließt sich schnell, dass es sich hier nicht um einen willkürlichen Mix aus Geschichte und Geschichten handelt. Schon in der reinen Identifizierung als relevantes Ereignis liegt hier der Schlüssel zur Decodierung der im Hintergrund verlaufenden Kette aus Parallelereignissen. Das liest sich zuweilen spannend, zuweilen ist es jedoch auch sehr anstrengend, der Argumentationskette zu folgen, bis man an ihr offensichtlich nicht offensichtliches Ende gelangt. Der neutrale Ausgangspunkt der Betrachtung, sich quasi im Leerlauf in ein bedeutungsschweres Jahr zu begeben, eint den Verfasser mit seinen Lesern. Sarasins Hintergrund jedoch untermauert und verfestigt seine Abschweifungen in Soziologie, Philosophie und Geschichte, nur um die Verbindungen später sichtbar zu machen. Ein gewagtes Unterfangen, das in den fünf groß angelegten Kapiteln recht gut gelingt. Zumal er jedem der Kapitel einen großen Geist der Geschichte voranstellt, an dem sich die anderen großen Geister geschieden hatten, und der genau im Jahr 1977 sein Leben ausgehaucht hat. Ironie der Geschichte, könnte man sagen.

1977 - Philipp Sarasin - Astrolibrium

1977 – Philipp Sarasin

So begeben wir uns jeweils postmortem nach dem Tod von Ernst Bloch, Fannie Lou Hamer, Anaïs Nin, Jacques Prévert und Ludwig Erhard ins Herz des Buches. Philipp Sarasin hat in mir besonders die „Offensive 77“ der RAF in Erinnerung gerufen und in einer bestechend vorgebrachten Argumentation die Entstehungsgeschichte des linken Terrors als logische Reaktion auf eher rechtskonservativ orientierte Leitlinien der politischen Grundordnung in der BRD aufgezeigt. Es gab Vorverurteilungen, es gab nie „mutmaßliche Terroristen“, es existierte keine Unschuldsvermutung, es wurde offen die Todesstrafe für die RAF-Mitglieder gefordert und in der öffentlichen Diskussion war das freie Deutschland auf dem Weg, in eine gefährliche Richtung abzudriften. Dies alles im Zusammenhang logisch verknüpft erlesen zu können, ist erhellend und wichtig zugleich, stehen wir doch immer wieder an den Wendepunkten der Geschichte und urteilen eher voreilig als überlegt. Hinter Mauern verschanzt lässt es sich gut mit Steinen werfen.

Wie Philipp Sarasin seinen „interkontinentalen Bogen“ vom deutschen Terrorismus bis zum Durchbruch der Theorie der allgemeinen Menschenrechte, dem Kampf gegen letzte Bastionen der Sklaverei in den USA, bis hin zum Selbstbild einer Generation im Verbund mit der Entwicklung des ersten Personal-Computers spannt, ist brillant und in jeder Hinsicht erhellend. Ja, dieses Jahr hat Maßstäbe gesetzt. Die Menschen haben demonstriert, terrorisiert, polarisiert. Die Gleichzeitigkeit von gesellschaftlichen Strömen ist kein Zufall. Das sieht nur so aus. Sarasin ist in der Lage das zu belegen und weist in diesem Zusammenhang auch klar darauf hin, wie wir unserer heutigen Zeit kritisch und beobachtend, handelnd und wahrheitssuchend gegenüberstehen können. Viele Bilder sind im Jahr 1977 vom Sockel gestoßen worden. Frauenbilder wurden neu geboren, in Stein gemeißelt wurden sie noch nicht. Emanzipation wurzelt in diesem Jahr. Vielleicht eine der weniger schönen Erkenntnisse des Buches, dass die feministische Wende in vielen Teilen der Gesellschaft noch nicht angekommen ist.

1977 - Philipp Sarasin - Astrolibrium

1977 – Philipp Sarasin

Ich wäre 1977 gerne so weit gewesen, alles zu verstehen, was Philipp Sarasin mir in seinem wegweisenden Buch erläutert. Es war nur schlichtweg nicht möglich, wie es auch nicht möglich ist, das Jahr 2021 schon heute einer solchen vergleichenden und bewertenden Analyse zu unterziehen. Der Autor macht keinen Hehl aus seiner eigenen Subjektivität in der Herangehensweise an dieses Jahr und lässt natürlich auch Kritik an seiner grundlegenden Methodik zu. Er regt dazu an, einen breiten Diskurs zu führen, in Ursachen und Wirkungen zu unterscheiden, der Parallelität der Ereignisse Beachtung zu schenken und sich vor jenen zu hüten, die mit einfachen Wahrheiten polarisieren. In dieser Hinsicht hat 1977 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart sicher den Preis als klares Frühwarnsystem gegen die Vereinfachung von Perspektiven und Meinungen verdient.

1977 - Philipp Sarasin - Astrolibrium

1977 – Philipp Sarasin

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und ihren Werken in den Kategorien Belletristik und Sachbuch.

Bayerischer Buchpreis 2021 – Meine Partnerbuchhandlung

Bayerischer Buchpreis 2021 – Meine Partnerbuchhandlung

Die Welt neu beginnen von Helge Hesse

Die Welt neu beginnen - Helge Hesse - AstroLibrium

Die Welt neu beginnen – Helge Hesse

Die Welt neu beginnen – Leben in Zeiten des Aufbruchs 1775 – 1799“ von Helge Hesse – Reclam Verlag, ist in der Kategorie Sachbuch für den Bayerischen Buchpreis 2021 nominiert. Diese Rezension ist Teil meiner Auseinandersetzung mit allen zur Wahl stehenden Büchern, da ich die Preisverleihung auch in diesem Jahr als Literaturblogger offiziell begleiten darf. Auf meiner Projektseite findet man #baybuch-Hintergründe, die nominierten Werke und Rezensionen der drei Buchpreisblogger:innen. Wir erwarten gespannt das Ergebnis der öffentlichen Jury-Debatte, in der am 11. November über die Preisträger:innen entschieden wird.

Update 11. November 2021: So sieht ein Sieger aus!

Die Welt neu beginnen - Die Welt neu beginnen - Gewinner - Sachbuch

Die Welt neu beginnen – Die Welt neu beginnen – Gewinner – Sachbuch

Wie gerne würden wir in jedem Moment der aktuellen Weltgeschichte erleben, ob wir an einem der magischen Wendepunkte angelangt sind, die die Welt verändern. Wie gerne wären wir als Zeitzeugen ebenso schlau, wie all die Geschichtsschreiber, die ein paar hundert Jahre später nach intensivem Quellenstudium die Vergangenheit sortieren und gewichten. Nur ganz wenige Ereignisse in unserem Leben lassen darauf schließen, einen solchen Wendepunkt selbst erlebt zu haben. Ich selbst habe den 11. September 2001, den sogenannten „Nine Eleven„, so empfunden. Andere Ereignisse jedoch muss auch ich Historikern und Philosophen (und natürlich auch den jeweiligen -Innen ihrer Zünfte) überlassen. Sie haben es gelernt, die epochalen Strömungen der Geschichte in die Waagschalen ihres Wissens zu werfen, zu wiegen und in den plausiblen Kontext der wissenschaftlichen Aufarbeitung zu stellen.

Die hohe Kunst dabei ist es, diese großen Wendepunkte und Wegmarkierungen nicht schulmeisterlich, sondern perfekt recherchiert, nachweislich verbrieft, sehr versiert und unterhaltsam zugleich an die geneigte Leserschaft zu bringen. Nur dann durchbrechen solche Publikationen die Schallmauern der breiten und öffentlichen Wahrnehmung und gelangen in Reichweite von Auszeichnungen und höheren Weihen. Nur dann wird aus einem Sachbuch etwas Lebendiges. Geschichte ist keine Sache. Sie lebt in uns. Das ist dem nominierten Buch aus der Feder von Helge Hesse anzumerken. Es pulsiert in dem Moment, in dem man es öffnet… „Die Welt neu beginnen„. Ein verheißungsvoller Titel.

Die Welt neu beginnen - Helge Hesse - AstroLibrium

Die Welt neu beginnen – Helge Hesse

Warum jedoch sollten wir uns ausgerechnet heute mit den Jahren 1775 bis 1799 auseinandersetzen? Warum einem Philosophen in seine These folgen, dass genau in diesen Jahren einer der Momente aufzuspüren ist, der unsere Geschichte in ein Davor und ein Danach aufteilt? Den meisten Lesenden klingelt diese Epoche intensiv im Ohr, kann man doch den Zeitpunkt der „Französischen Revolution“ und den Sturm auf die Bastille im Jahr 1789 aus der eigenen Schulzeit rekonstruieren. Dabei ist es doch ganz leicht, eine Vielzahl von Gründen zu finden, die dieses Buch lesenswert machen. Nein, Helge Hesse legt kein trockenes Schulbuch mit Zeitschienen, Orten, Daten und Fakten vor, die sich zum Auswendiglernen so gut eignen. Wir erleben nicht schon beim ersten Blättern in „Die Welt neu beginnen“ einen anaphylaktischen literarischen Schock, der uns an unsere Schulzeit erinnert. Nein, dieses Buch kommt im modernen Gewand und in ebenso unterhaltsamem Ton daher. Eine Versuchung von der ersten Seite an…

Lassen Sie mich hier zu einem etwas ungewöhnlichen Vergleich greifen, der sich mir jedoch schnell aufgedrängt hat, als ich mich in die Zeilen stürzte. Ich empfand das Buch als „literarisch-historischen Thermomix„, dem es gelingt aus den Ingredienzien der Geschichte in Verbindung mit einer minimalistisch anmutenden 25-jährigen Garzeit ein Menü auf den Tisch zu zaubern, das neben bekannten Geschmacksmustern einige echte Überraschungen zu bieten hat. Schon die ersten kleinen Happen machen schnell klar, dass wir uns nicht auf dem Boden bekannter Kochbuchmuster bewegen, sondern in eine auf diese Art und Weise bisher unerzählte Welt abtauchen, in die sich der Autor intensiv eingearbeitet hatte… Seine Rezeptur besticht durch interkontinentale Zutaten, die in der richtigen Menge kombiniert eine Menge Schärfe in die Gedanken ihrer Zeit bringen. Es sind erste Schüsse in den noch gar nicht vereinigten Staaten von Amerika, die man im alten Europa vernimmt. Es ist ein George Washington, der über Freiheit sinniert, während er noch selbst Sklaven hält. Es ist ein Benjamin Franklin, der sich mit der Kunde vom Unabhängigkeitskampf gegen die britische Monarchie ins komplett abhängige Europa begibt. Es ist eine noch alles andere als kopflos agierende Königin Marie-Antoinette, die in Saus und Braus lebt und es sind nicht nur die Anekdoten am Rande der großen Geschichten, die uns zu neugierigen Lesenden werden lassen.

Die Welt neu beginnen - Helge Hesse - AstroLibrium

Die Welt neu beginnen – Helge Hesse

Helge Hesse präsentiert uns keine Hausmannskost, nichts leicht Vorhersehbares und schon gar kein kalorienarmes Geschichtsstudium ToGo. Die Rezeptur ist nicht leicht zu durchblicken, ergibt aber immer mehr Sinn, je weiter man sich in die Jahre der Zubereitung arbeitet. Es sind neue Menschenbilder, die überall entstehen. Es sind zarte Pflanzen der Individualisierung und Loslösung vom Herrschaftsglauben, die langsam zu wachsen beginnen. Es ist die Literatur, die den Geist befreit. Es sind die Prisen Goethe und Schiller, die das Denken erobern. Es ist der Domino-Effekt der Freiheit, der selbst festeste Steine ins Kippen bringt. Es sind die Entdecker, die der Welt ihre Geheimnisse entlocken, es ist eine Meuterei, die aus der „Bounty“ ein Abbild der Gesellschaft macht und es ist ein Wunderkind namens Mozart, das allem seine Melodie unterlegt. Es liegt an der eigentlich unsichtbaren Parallelität der Ereignisse, die Helge Hesse transparent macht, dass wir die Zusammenhänge sehen. Es sind seine Cliffhanger, die uns weiter und immer weiter voranschreiten lassen. Es sind die kleinen Narrative, die zur großen Erzählung werden. Es ist wie einer neu beginnenden Welt zuzuschauen…

Helge Hesse steigert die Temperatur von Jahr zu Jahr. Es gibt kaum ein Ventil, um den Druck entweichen zu lassen, bis sich alles in der französischen Implosion befreit. Spätestens hier sagt man sich… „Man hätte es kommen sehen müssen“. Spätestens hier erkennt man, dass schon 1789 eine Nachrichtenflut voller Fakenews über Leben und Tod bestimmt hat. Man fragt sich, wie die Revolution wohl mit Facebook verlaufen wäre. Man fragt sich immer mehr und erkennt das Unausweichliche. Die Kleinen sind plötzlich groß. Unwichtige Faktoren erlangen gigantisches Gewicht. Es sind die Kunst, der Krieg, die Dichtung, die Musik, die Diplomatie, der Adel, die Verschwendung und das immer heller leuchtende Licht aller wissenschaftlichen Disziplinen, die Europa in neuer Euphorie erscheinen lassen. Und es nicht damit getan. Die Welle geht weiter, wie die Fesselballons der Flugpioniere, die nicht nur den europäischen Himmel bevölkern.

Die Welt neu beginnen - Helge Hesse - AstroLibrium

Die Welt neu beginnen – Helge Hesse

Großartig zu lesen. Unterhaltsam erzählt. Perfekt recherchiert und pointiert. Und doch kein Buch für den Unterricht oder das Studium. Es ist ein universelles und extrem erhellendes Beispiel für eine wissenschaftliche Publikation, die Wissen schafft, sich im tiefsten Inneren allerdings nicht aufs hohe Ross setzt. Das macht Helge Hesse mehr als sympathisch. Bleibt zu hoffen, dass er weitere neuralgische Punkte identifiziert, um uns mehr zu erzählen. Sein abschließendes „Was aus ihnen wurde“ liefert so manche Steilvorlage für die Fortsetzung dieses leckeren „Geschichtshappens“. Fünf Sterne von mir und sicherlich nicht nur für den Guide Michelin eine Auszeichnung wert. Bayern hat ja einen eigenen Preis. Die Daumen sind ganz neutral gedrückt…

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hier finden Sie französisch-revolutionäre Literatur auf AstroLibrium.

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Die Welt neu beginnen – Helge Hesse

Bayerischer Buchpreis 2021 – Meine Partnerbuchhandlung

Bayerischer Buchpreis 2021 – Meine Partnerbuchhandlung

„Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ [Neil MacGregor]

Deutschland - Erinnerungen einer Nation

Deutschland – Erinnerungen einer Nation

Ich bin zugegebenermaßen ziemlich unbedeutend. Zumindest bin ich ganz bestimmt nicht vergleichbar mit einem ganzen Land oder sogar einer Nation. Auch, wenn meine eigene Familiengeschichte untrennbar mit der Geschichte meines Vaterlandes (ja, das darf man so sagen) verknüpft ist, so bin ich doch nur ein kleines Rädchen mit eigener Wahrnehmung, persönlichen und  familiären Erinnerungen, Traditionen, Anschauungen und einer ziemlich individuellen Lebensweise.

Ich überlege mir nun, was ich davon halten würde, wenn jemand – sagen wir mal, ein britischer Museumsdirektor – mir eine Ausstellung widmen, und seinen Landsleuten anhand einiger ausgewählter Exponate aus meiner Familienhistorie versuchen würde zu erklären, was es bedeutet, ein Deutscher zu sein. Hm. Amüsanter Gedanke und mit an großer Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Fehlschlag, da man von mir sicher nicht auf ein ganzes Land schließen kann.

Aber reizvoll ist es schon, denn allein die Vorstellung, dass ein neutraler Außenseiter versuchen würde, meine Erinnerungen in einer Kollektion zugänglich zu machen und daraus abzuleiten, wie ich so denke, lässt mich zu der Überzeugung kommen, dass ich mich in dieser Ausstellung meines Lebens selbst völlig neu entdecken würde. Vielleicht würde ich über Klischees lachen, denen ich begegne. Vielleicht würde ich mich darüber wundern, was aus anderer Perspektive so interessant und charakteristisch für mich sein könnte. Vielleicht würden die Besucher und ich selbst auf diese Weise viel voneinander lernen. Aber das ist natürlich nur ein Hirngespinst im Kleinen.

Deutschland - Erinnerungen einer Nation - Astrolibrium - Meine Exponate

Deutschland – Erinnerungen einer Nation – Meine Exponate

Was aber, wenn der schottische Direktor des „British Museum“ versuchen würde, den Deutschen eine solche Ausstellung zu widmen, um seinen britischen Landsleuten sowohl unsere Lebensweise, Wertvorstellungen und Erinnerungen näher zu bringen? Was nun? Würde es ihm gelingen, mit dieser bahnbrechenden Ausstellung Klischees zu überwinden, in seiner Heimat Großbritannien mehr Verständnis für unsere historisch gewachsene sozio-politische Gesellschaft im Spiegel der Geschichte zu wecken?

Und wie würden wir uns letztlich selbst sehen, wenn wir die Museumspforten hinter uns ließen, um einen Blick auf unser kollektives Gedächtnis zu werfen? Wohl gemerkt, aus der Perspektive eines Nicht-Deutschen konzipiert für Nicht-Deutsche. Würden wir uns erkennen? Würden wir uns anders wahrnehmen oder käme uns die gesamte Idee absurd und typisch britisch vor? Könnten wir über uns selbst lachen und auch besser verstehen, warum man wegen uns geweint hat?

Wären wir hart genug im Nehmen, oder sind wir inzwischen einen Schritt weiter und könnten sogar neutral zuschauen, wie wir im Schaukasten der Geschichte als Exponat zu sehen wären? Ein immer noch abstruser Gedanke? Nein, weit gefehlt, denn diese Ausstellung hat es tatsächlich gegeben und unter dem Namen Germany – Memories of a Nation für erhebliches Aufsehen gesorgt.

Deutschland - Erinnerungen einer Nation

Deutschland – Erinnerungen einer Nation

Zeit und Raum sind bei Ausstellungen limitierende Faktoren, um ihnen selbst einen Besuch abstatten zu können. Schade? In diesem ganz speziellen Fall eigentlich nicht, denn genau diese Ausstellung kommt zu uns! Als Buch und in einer brillant adaptierten Hörbuchfassung. Verfasst von jenem Museumsdirektor, der diese großartige Idee hatte, uns allen unsere Geschichte so aufzubereiten und zur Schau zu stellen, dass wir fast selbsterklärend Auskunft über den Mythos Deutschland geben können.

Der Prachtband „Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ von Neil MacGregor, erschienen bei C.H. Beck, wiegt schwer. Und dies nicht nur, weil dieses Buch mehr ist, als nur ein Ausstellungskatalog in gebundenem Format. Es ist mehr als nur der Extrakt dessen, was im British Museum zu bestaunen war. MacGregor hat hier nachhaltig festgehalten, was aus seiner Sicht in den Brennpunkt gerückt werden muss, wenn man heute an unser Deutschland denkt.

Er hat einen lebendigen Anachronismus geschaffen, der viele Fragen aufwirft, viel Spielraum für Interpretation lässt und das Bild einer Nation zeichnet, das in seiner Tiefe und Ausgewogenheit beeindruckender nicht sein kann. Frei von bekannten Klischees und Vorurteilen nähert er sich, nähert er seine Landsleute einer Nation an, mit der man in der jüngsten Vergangenheit mehr im Krieg als im gemeinsamen Brautbett lag. (Mal ganz ungeachtet der royalen Verstrickungen in den deutschen Hochadel.)

Deutschland - Erinnerungen einer Nation

Deutschland – Erinnerungen einer Nation

So finden wir uns also wieder in einem schweren aber nicht überfrachteten Buch. Kein Geschichtsunterricht wartet hier auf uns, sondern das bunte Kaleidoskop dessen, was uns alle ausmacht. Zumindest aus britischer Perspektive. Von Kunstwerken über die Musik, von ulkigen Gartenzwergen bis hin zum Mauerfall, von der Vertreibung besiegter Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Teilung des Landes, vom Mauerfall bis zum legendären VW-Käfer. Vom Land der Dichter und Denker bis zum Holocaust. Von Weimar nach Weimar, wo man auf beide Seiten der Geschichte stößt. Vom gediegenen Meißner Porzellan bis hin zu unserer Denkmalskultur.

MacGregor liefert keine einfachen Antworten. Er zeigt auf. Regt an. Er startet eine Diskussion und beschreibt Deutschland in weichen und knallharten Tönen. Er verleitet Menschen aus anderen Ländern, sich an diesen Beispielen zu reiben und sich selbst zu hinterfragen, wie sie denn selbst mit diesen facettenreichen Themen umgehen, wo ihre kollektiven Erinnerungen zu finden sind, und wie sehr man geneigt ist, sich selbst zu belügen, wenn man in die Geschichte zurückblickt.

MacGregor bleibt im gewagten Ausstellungs-Spagat, wenn er unsere Kultur auf ein Schild der Bewunderung hebt, Dichter und Denker präsentiert und dann die Welt und uns selbst damit konfrontiert, dass eine solche Nation zum Holocaust fähig war. Er löst den Gewissenskonflikt nicht auf. Er zeigt, dass dies wohl überall geschehen kann, wenn die Geschichte den Raum lässt. Wenn ein Volk Kunst als entartet bezeichnet, wenn es Bücher und Bilder verbrennt, dann ist es bereits selbst entartet. Wer Erich Kästner und Paul Klee dem lodernden Scheiterhaufen der Leitkultur übergibt, der verbrennt zuletzt auch Menschen. Jedem das Seine. Ein ganz besonderes Kapitel dieser Ausstellung, des Buches und der Audio-Fassung. Nie wieder!

Deutschland - Erinnerungen einer Nation

Deutschland – Erinnerungen einer Nation

Er wundert sich, warum es bei uns noch Hansestädte gibt, obwohl der Staatenbund längst vergangen ist. Er schaut sich das Münchner Siegestor von beiden Seiten an und schmunzelt darüber, was dort zu lesen ist. Kein Siegestor. Eher das der Besiegten und wenn mal gesiegt wurde, dann standen die bayerischen Truppen immer auf der Seite der Franzosen. Und wieso heißt es eigentlich Freistaat? Ja, MacGregor weiß genau, wo er fündig wird. Wir lernen selbst unglaublich viel über uns und wundern uns, wie es gelingen konnte, aus unzähligen Kleinstaaten mit über 200 Währungen im Lauf der Zeit zu dem zu werden, was wir heute sind.

Und dabei wird er plastisch, greifbar und anschaulich. Nicht nur wir, auch geneigte Nicht-Deutsche erkennen auf hochwertigen Fotografien, Skizzen und Karten, was diese Nation einst zerrissen und dann wieder zusammengefügt hat. Er macht den Schrecken der Deutschen Teilung am Beispiel des Bahnhofs Friedrichsstraße deutlich und wundert sich, wie es in der Nähe von Dresden gelingen konnte, aus Porzellan kleine Wunder zu schaffen, während es in China nur für Teller und Tassen taugte.

Er zeigt in diesem hochwertigen Buch auf, was uns so vielseitig macht und gibt uns unsere eigene Vergangenheit in die Hände, schmunzelnd, ohne erhobenen Zeigefinger und doch mit allem Schrecken, den unsere Vorfahren verbreitet haben. Vieles erscheint paradox. Vieles wie gewollt und nicht gekonnt und vieles unvergleichbar schön. Stolz oder Patriotismus kommen in „Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ nicht auf. Es sind gelungene AHA-EFFEKTE, es ist das Staunen über Unbekanntes und der Blick in den Spiegel der Erinnerung, der auch uns beeindruckt. Der Fachmann staunt, der Laie wundert sich. Ein Buch, das jedem privaten Bücherregal und seinem Besitzer gut zu Gesicht steht.

Deutschland - Erinnerungen einer Nation

Deutschland – Erinnerungen einer Nation

Allerdings ist es nichts für unterwegs. Es ist einfach zu schwer. Kein S-Bahn-Buch. ABER. Auch hier findet sich ein ungewöhnlicher und guter Zugang. Das gleichnamige Hörbuch mit 11 CD´s, umfangreichem Booklet und einer Laufzeit von über 14 Stunden erweitert das Gelesene um die unerhörte Dimension der dichten Atmosphäre. Dies liegt einerseits am Sprecher Burghart Klaußner, der uns Deutschland – Erinnerungen einer Nation (Der Hörverlag) mit seiner Stimme in die Seele spricht.

Darüber hinaus ist das gesamte Hörbuch mit einer besonderen Klangfarbe unterlegt. Es trommelt, es knistert. Gewehrschüsse hallen durch den Raum, alte Radioaufnahmen werden lebendig und historische O-Töne erzeugen eine geschichtsträchtige Gänsehaut. „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten.“ Hier hat das Hörbuch eine ganz eigene Daseinsberechtigung und gehört zu den Unterhaltsamsten seiner Art.

Mein Rat: Es muss beides sein. Die Kombination aus beiden Medien bringt das British Museum nach Hause. Zurücklehnen, zuhören, lesen, Bilder auf sich wirken lassen. Das ist unsere Geschichte, an der wir täglich selbst weiterschreiben. Wenn man dann Buch und Hörbuch auf den bibliophilen Gabentisch legt, kann man sich ganz sicher sein, dem geschichtsinteressierten Leser/Hörer die ganzen Erinnerungen einer Nation quasi zu Füßen gelegt zu haben.

Ein perfektes Geschenk „Gegen das Vergessen“ ist es noch dazu.

Deutschland - Erinnerungen einer Nation - Es geht weiter...

Deutschland – Erinnerungen einer Nation – Es geht weiter…

Dieses Projekt rund um Buch und Hörbuch hat Gedankenketten in mir ausgelöst. Meine Auseinandersetzung mit der Geschichte hat mit einem Exponat begonnen, ohne das meine ganze Familiengeschichte nicht zu erklären wäre. Weihnachten 1944 – Ein Ring, der alles veränderte. Ich schrieb ausführlich darüber. Und gibt es noch offene Fragen, die tief in mir toben, denen ich aber noch keine Zeilen gewidmet habe.

Was bedeutete die Teilung meines Landes für mich? Wie habe ich den Terror der RAF als Jugendlicher erlebt? Welche Momente der Zeitgeschichte haben mein Leben nachhaltig geprägt und nicht zuletzt, was wäre ich ohne die Wiedervereinigung dieses Landes? Wen hätte ich niemals kennengelernt, was würde mir fehlen und was geistert in mir herum, wenn ich den Fortbestand der Mauer als Gedankenspiel weitergehe?

Was wäre ich ohne die entartete Kunst von einst? Wie würde „mein“ Lenbachhaus heute aussehen, wenn das Braune gesiegt hätte? Welche Bücher hätte ich nie gelesen, wenn die Scheiterhaufen noch heute loderten? Ich werde mich diesen Fragen widmen. Sehr intensiv und in aller Offenheit. Bleibt gespannt…

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Absturz des Himmels von Reinhold Messner

Absturz des Himmels von Reinhold Messner - AstroLibrium

Absturz des Himmels von Reinhold Messner

Er trägt die Verantwortung, er darf jetzt keinen Fehler machen, seinen Gast nicht beunruhigen. Wären sie weiter zum Gipfel gestiegen, wie dieser es wollte, sie säßen jetzt auf der anderen Seite, beim Abstieg, in der Falle: irgendwo, ohne Schutz, hoch oben am Berg.

Er muss es auch dieses Mal nach unten schaffen, ins Tal mit seinem Gast, zurück in ihr Leben. Nur noch einmal. Er trägt die Verantwortung.

Es gibt Sätze, die in sich bereits ganze Geschichten erzählen. Sätze, die in sich zu toben scheinen, die alle Gefahren dieser Welt heraufbeschwören und nach Auswegen suchen, wo es scheinbar keine Rettung gibt. Es sind diese Sätze, die dazu verleiten, sich der verborgenen Geschichte noch mehr zu nähern. Auch wenn man dabei selbst in akute Lesensgefahr geraten sollte. Man kann nicht anders.

Absturz des Himmels“ von Reinhold Messner (Fischer Verlag) verdeutlicht schon mit diesen Worten im einleitenden Kapitel, dass wir es nicht nur mit einem Sachbuch über die Erstbesteigung des Matterhorns zu tun haben. Es sind diese Sätze des großen und nicht immer unumstrittenen Extrembergsteigers, die seine Leser zu einer Seilschaft formen, und sie in einer alpinen Todeszone auf Gedeih und Verderb der Intuition und dem Verantwortungsbewusstsein des Bergführers ausliefern. Und dies in der Hoffnung, zurück ins Leben zu kommen. Nur noch einmal.

Absturz des Himmels von Reinhold Messner

Absturz des Himmels von Reinhold Messner

Reinhold Messner ist wohl der berufenste Experte, der sich ein Urteil erlauben darf und kann, welche fatalen Umstände 1865 zum „Absturz des Himmels“ am Matterhorn führten. Er weiß, worüber er schreibt, wenn er seine Leser zu einer Erstbesteigung anseilt, sie die Vorbereitungen erleben lässt und ihnen den inneren Druck vermittelt, der mit einer solchen Unternehmung einhergeht. Der Erste zu sein. Das unterscheidet einen solchen Gipfelsturm von allen anderen Versuchen, einen Berg zu bezwingen.

Sein Traum gilt dem Gipfel des Matterhorns. Dafür braucht er keine Erklärung. Er will nur als Erster dort oben stehen. Mit den Leuten aus seinem Tal.

Eine Erstbesteigung ist verbunden mit Ruhm. Ein solcher Erfolg kann von keinem Zweiten auf der Welt wiederholt werden und dafür sind die Pioniere am Berg seit jeher bereit gewesen, besondere Risiken auf sich zu nehmen. Es gibt keine Routen, denen man folgen kann, keine Alternativen und Erfahrungswerte. Der Erste zu sein heißt, das Ungesehene zu sehen, das Unbetretene zu betreten und Spuren zu hinterlassen, die einzigartig sind.

Reinhold Messner weiß wovon er schreibt, wenn er den Individualisten und Egoisten am Berg beschreibt und ihn vom Bergführer unterscheidet, der für eine solche Tour engagiert wird und die volle Verantwortung trägt. Nicht nur für sich selbst, sondern eine Verantwortung, die weiter reicht. Verantwortung für die „Gäste“, die zu führen sind und die Verantwortung für eine ganze Zunft von Bergführern eines kleinen Ortes, die durch einen Misserfolg in Verruf geraten würde. Es ist eine große Last, die man zu tragen hat, wenn man keinen Alleingang wagt.

Absturz des Himmels von Reinhold Messner

Absturz des Himmels von Reinhold Messner

Diese beiden Perspektiven zeichnen „Absturz des Himmels“ aus. Messner versetzt sich selbst und seine Bergleser in zwei völlig unterschiedliche Ausgangssituationen, die historisch verbrieft sind, in dieser Kombination aber bisher nicht in einer gemeinsamen Geschichte erzählt wurden. Jedenfalls nicht in der Tiefe der Charakterzeichungen, die Messner wohl deshalb so präzise gelingt, weil er diese beiden Seelen in seiner eigenen Brust fühlt.

Beide Seiten sind ihm absolut nicht fremd, da er selbst als extremer Draufgänger alle Grenzen der bekannten Bergsteiger-Welt gesprengt hat und dabei schon fast im Vorbeigehen alle Rekorde brach, die man sich im alpinen Bereich vorstellen kann. Hierbei war er für sich selbst verantwortlich, konnte alle Risiken eingehen, die er zu tragen bereit war, da er ganz allein die Konsequenzen zu tragen hatte. Aber auch die Perspektive dessen, der rein funktionaler Teil einer Seilschaft ist, Verantwortung trägt und keinen Alleingang wagen sollte, ist tief in ihm verankert, weil er genau in diesem Bereich sein größtes alpines und menschliches Debakel erlebte. (Siehe Video)

Umso verständlicher ist es, dass er uns im „Absturz des Himmels“ beide Extreme vor Augen führt. Wir lernen den sehr von sich überzeugten jugendlichen Gipfelstürmer Edward Whymper kennen, der nur ein Ziel kennt: Rauf aufs Matterhorn. Als Erster. Koste es, was es wolle. Unzählige seiner Versuche scheiterten. Von allen Seiten hatte er sich dem Matterhorn genähert. Mit wahren Engelszungen hatte er so oft versucht, die fähigsten Bergführer zu engagieren, die ihm den Weg weisen sollten.

Absturz des Himmels von Reinhold Messner

Absturz des Himmels von Reinhold Messner

Whymper selbst wollte dabei jedoch im Mittelpunkt stehen. Bergführer waren für ihn Mittel zum Zweck. Keinesfalls sollte auch nur ein kleines Quäntchen Ruhm auf sie abfärben. Whymper war ein absoluter Egozentriker, wenn es darum ging, seine Ziele zu erreichen. Nur ein einziges Ziel blieb ihm dauerhaft verwehrt. Den besten Bergführer zu engagieren. Jean-Antoine Carrel galt zur damaligen Zeit als der fähigste Führer, wenn es darum ging, das Matterhorn zu bezwingen.

Carrel war der komplette menschliche Gegenentwurf zum Edward Whymper. Er fühlte die Verantwortung. Er entschied selbständig für die ihm anvertraute Seilschaft. Er ging keine Risiken ein, die nicht zu verantworten waren. Carrel war das, was man als den echten Prototypen des verantwortungsvollen Expeditionsleiters bezeichnen kann. Lieber scheitern, als auch nur einen Mann verlieren. Das war sein Mantra. Und deshalb kamen Whymper und Carrel niemals zusammen, wenn es darum ging, den Gipfelsturm zu wagen.

Als Edward Whymper erfährt, dass Jean-Antoine Carrel im Auftrag italienischer Alpinisten eine Seilschaft aufs Matterhorn führt, wird aus der Erstbesteigung des Matterhorns ein wahres Wettrennen auf den Gipfel. Nur hat Carrel keine Ahnung, was Whymper plant. Als sich die Italiener dem höchsten Punkt des Berges langsam nähern hören sie schon die Sieger über ihnen feiern. Whymper steht auf dem Gipfel, winkt ihnen überlegen zu und krönt seinen Erfolg dadurch, dass er Steine nach unten wirft. Er hatte es tatsächlich geschafft, mit einer zufällig zusammengewürfelten Seilschaft den Berg zu besiegen. Er war der Erste!

Absturz des Himmels von Reinhold Messner

Absturz des Himmels von Reinhold Messner

Reinhold Messner holt weit aus, um diese Leistung greifbar zu machen. Er besteigt das Matterhorn mit zwei Seilschaften. Er ist bei Whymper und seiner Zufalls-Truppe und er klettert mit Carrel. Bedächtig und langsam, bestens ausgerüstet. Messner lässt die Faszination eines solchen Unternehmens spürbar werden und doch lässt er auch keinen Zweifel daran, mit wem wir lieber unterwegs wären. Und die Geschichte bestätigt die Bedenken der Leser. Whympers Seilschaft stürzt beim Abstieg ab. Das Seil reißt. Nur er selbst und zwei seiner Bergführer überleben durch einen Zufall.

Ein Desaster. Eine Katastrophe. Aus der Erstbesteigung wird eine Niederlage und die Weltpresse beginnt Whymper zu zerreißen. Aber ebenso wenig, wie er den Ruhm teilen wollte, ist er nun bereit Verantwortung zu übernehmen und scheut keine Verleumdung, die überlebenden Bergführer zu diskreditieren. Whymper bleibt der Egozentriker, den man kannte. Carrel war und blieb der heimliche Held von der anderen Seite, der jedoch in Vergessenheit geriet, weil Verantwortung vom schnellen Ruhm überflügelt wurde.

Reinhold Messner erklärt die wahren Gründe für den tragischen Absturz. Er zitiert aus Whympers Quellen und analysiert scharf, welche Fehler gemacht wurden. Und dabei beleuchtet er die menschliche Seite hinter dem Drama mehr als genau. Whymper als geschlagener Sieger und Carrel als besiegter moralischer Gewinner. Die Lehren darf man selbst ziehen. Auch dafür lässt Reinhold Messner Raum. Es ist ein schmaler Grat den er beschreibt – nicht nur für uns Leser. Auch für ihn selbst scheint dieses Buch eine Aufarbeitung zum Thema Verantwortung zu sein.

Absturz des Himmels von Reinhold Messner

Absturz des Himmels von Reinhold Messner

Denn Messner ist in völliger Empathie mit den beiden Menschen verbunden, die er beschreibt. Er selbst war David Whymper, als er bei der Erstbesteigung des Nanga Parbat einen Alleingang wagte, den man ihm bis heute vorwirft. Er selbst war Jean-Antoine Carrel, als er seinen Bruder, der ihm überraschend folgte, zu retten versuchte. Er selbst war wie David Whymper, als er nach dem Absturz seines Bruders am Nanga Parbat von der internationalen Presse wie eine Sau durch die Bergwelt getrieben wurde. Er selbst ist wie Jean-Antoine Carrel, weil er den Absturz von Günter niemals verwunden hat. Die Verantwortung wog schwer. Sie wiegt schwer.

Reinhold Messner beschreibt zwei Extreme, die in ihm selbst einen ewigen Kampf zu führen scheinen und die er vielleicht niemals in seiner aktiven Karriere miteinander in Einklang bringen konnte. Vielleicht ist „Absturz des Himmels“ viel mehr als nur ein Buch über die Erstbesteigung des Matterhorns. Vielleicht ist dieses Buch viel mehr als der Versuch, die Begriffe „Verantwortung“ und „Schuld“ am Berg neu zu definieren. Für Reinhold Messner ist es mehr als nur ein Buch. Das macht es so ergreifend greifbar.

Dies ist nicht meine erste Reise auf einen Gipfel. Die Katastrophe am Mount Everest sorgte damals für unglaubliche Schlagzeilen und der Weltbestseller von Jon Krakauer „In eisige Höhen“ galt lange als authentischer Bericht über die Abläufe des Dramas. Wir haben die Bücher all jener Menschen gelesen, die mit Krakauer am Everest waren. Auch hier geht es um Verantwortung und Schuld. Auch hier geht es um Bewältigung. Vielleicht klettern Sie auch in dieser Seilschaft mit. Buchblick und Bergblick in einer Reportage.

Klettern Sie gut.  Schauen Sie doch einfach in der Buchhandlung Calliebe vorbei, wenn sie diese alpine Gratwanderung selbst erlesen wollen. 

Tod in eisigen Höhen - Eine Reportage- AstroLibrium

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Eine weitere Expedition, die in der Fachwelt für Fürore sorgte. Schlagintweit

In Schnee und Eis von Rudi Palla - AstroLibrium

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