Liebe in Zeiten des Hasses von Florian Illies

Liebe in Zeiten des Hasses von Florian Illies - Astrolibrium

Liebe in Zeiten des Hasses von Florian Illies

Mein Lesen ohne Florian Illies? Vorstellbar vielleicht, sinnvoll allerdings nicht. Zu sehr hat sein Schreiben mein Lesen beeinflusst, zu intensiv bin ich den Episoden seiner biografisch geprägten Mosaiksteine gefolgt, die am Ende immer wieder ein großes Bild ergeben. Geschichte kann man als Geschichtsschreibung verstehen, oder man nähert sich ihr auf einem anderen Wege an. Es sind die Menschen ihrer Zeit, die Florian Illies Revue passieren lässt. Es sind jene Menschen einer Epoche, eines Jahres, eines ganz besonderen Augenblicks, die bei ihm zu Wort kommen und sich über den tiefen Graben der Vergangenheit an uns wenden, um uns von ihrer Zeit zu erzählen. Es ist bewegend, die von Florian Illies konstruierten Zeitbrücken zu betreten, nach Gemeinsamkeiten zu suchen und nach prominenten und einfachen Menschen Ausschau zu halten, denen wir wohl ohne diesen brillanten Collage-Künstler und Erzähler nie zugehört hätten.

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Liebe in Zeiten des Hasses von Florian Illies

Vor drei Jahren schrieb ich voller Vorfreude auf das neue Buch von Florian Illies „1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte“ und im emotionalen Rückblick auf seine vorausgegangene Hommage an das letzte Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges: „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“:

Vielleicht versteht man jetzt, worauf ich mich wirklich freue. Es sind die Seiten des Lesens neben diesem Buch, von denen ich jetzt noch keinen Schimmer habe, die mich aber vielleicht erneut verändern und prägen werden. Es sind Geschichten, auf die mich Florian Illies direkt stößt, während er mir indirekt ganz andere Wege weist. Ich möchte euch schon heute einladen, zurückzublicken, die Artikel von damals zu lesen und mich zu begleiten, wenn der Autor weitererzählt. Ich kann es kaum erwarten, mich wieder in das Jahr 1913 fallenzulassen. Ich kann es kaum erwarten, neue rote Fäden zu finden und sie zu einem Lesemuster zu vereinen. Ich werde das neue Buch lesen und hören. Ich werde wie von einem Wahn besessen sein und mich außerhalb der Geschichte auf Geschichten zubewegen, die ich jetzt noch nicht kenne. Wird das ein goldener Herbst.

Es wurde ein goldener Herbst und jetzt bescherte mir Florian Illies einen wahrlich goldenen Lesewinter mit der neuen Collage „Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls. 1929 – 1939„. Mehr als nur ein Jahr, mehr als nur ein Buch…

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Liebe in Zeiten des Hasses von Florian Illies

Jetzt, kaum drei Jahre nach meinen Lese-Erlebnissen im Jahr 1913, spannt Illies den Bogen weiter. Elf Jahre statt einem einzigen liegen seinem Buch zugrunde. Elf Jahre, die sich vielleicht auch zum Begriff eines letzten Sommers vereinen lassen, weil nach ihm ein umso längerer Winter folgte, als noch Jahre zuvor. Beide Epochen haben meine Großeltern am eigenen Leib erlebt, aktiv, ungeschützt. Es wäre ein Genuss, sie heute mit den Büchern von Florian Illies zu beschenken und sie zu fragen, ob sie ihre Geschichten dort wiederfinden. Aber vielleicht gehören diese Werke ja in die Bibliothek jenseits des Wahrnehmbaren und werden auch mit Interesse im Himmel gelesen. Nicht nur daran musste ich oft denken, als ich dem Verleger Florian Illies beim Legen seines Mosaikmusters folgte. Es gelingt ihm erneut, mich einerseits in seinem Buch zu fesseln, mir andererseits jedoch auch wieder Flausen in den Kopf zu setzen denen ich dann im Internet und in Sekundärliteratur recherchierend nachgehen muss. Illies fordert viel und gibt alles. Sein Name wird erneut zum Prädikat einer erlebnisreichen Zeitreise.

Er lässt die Wilden Zwanziger Jahre enden, wie sie begannen. Mit Kopfschmerzen und Besuchen in Krankenhäusern. Wir schreiben das Jahr 1933. Kein Wunder, dass in diesem Buch drei zentrale Kapitel den elf Jahren von 1929 bis 1939 Struktur verleihen.  DAVOR / 1933 / DANACH. Es klingt wie eine Ouvertüre auf den finalen Abgesang, die  Menschen zu beobachten, die den sterbenden Roaring Twenties Spalier stehen. Von F. Scott Fitzgerald und seiner glamourösen Frau Zelda, bis zu Jean Paul Sartre und seiner großen Liebe Simone de Beauvoir, über jene fast unbekannte Aktrice Marlene Dietrich, bis hin zum Skandal mit Bananenschurz Josephine Baker und meiner lange vermissten literarischen Bekannten Mopsa Sternheim. Florian Illies blättert in seinem Album der verbrieften Erinnerungen, nicht immer lustigen Anekdoten, realen Gerüchte und kuriosen Episoden und erstellt eine Collage der Jahre, in denen sich der Glanz der Epoche verliert. Es ist ein Gefühl, das alles dominiert. Es ist die Liebe, der er Raum im immer größer werdenden Vakuum gibt. Leidenschaften und Affären, Beziehungen aller nur denkbaren Konstellationen verleihen diesen Jahren bis 1933 eine ekstatische und doch gleichzeitig so apokalyptische Endgültigkeit. Besonders, wenn Pablo Picasso der Frau seines Lebens mit einem Gemälde zu verstehen gibt, was für ein Monster sie ist!

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Liebe in Zeiten des Hasses von Florian Illies

Verstörende Botschaften breiten sich aus. Die einen voller Hoffnung für die Frauen in Europa: „Die Frauen brauchten die Männer nicht mehr.“ Sie finanzieren ihr Leben selbst, machen unabhängig vom ehemals starken Geschlecht Karriere, sie arbeiten und bereisen die Welt. Wenn das mal nicht nach Aufbruch klingt. In wildem Taumel lässt der Autor und Sammler großer Persönlichkeiten tiefe Einblicke zu und Muster entstehen. In jeder tiefen Leidenschaft wächst ein zweifelnder Same. Die Endlichkeit scheint um sich zu greifen und die hellwachen Intellektuellen von den Gebrüdern Mann über Bertold Brecht bis hin zu Victor Klemperer verlieren Überblick und Mut. 1933 naht. Unheilvoll und voller böser Vorzeichen ergießt sich dieses Jahr über Berlin. Beziehungen brechen zusammen, Gräben brechen auf, die Intellektuellen verlassen ihre Stadt fluchtartig vor dem aufziehenden brauen Sturm und bringen sich in Südfrankreich in Sicherheit. Oder was man in diesen Tagen so als Sicherheit bezeichnet. Illies macht den Wandel an den Menschen fest. Ihre Zerwürfnisse stehen stellvertretend für dieses Annus horribilis, in dessen Gefolge der Untergang einer ganzen Welt den Abgesang probt.

Was dann DANACH geschieht, also von 1934 bis 1939, klingt wie eine Flucht vor der Realität. Augen zu und durch, könnte man meinen. Der Reigen der Beziehungen nimmt Fahrt auf, es wird mehrfach und verzweifelt geheiratet, es wird gesündigt und genossen bis es kein Ende mehr zu geben scheint. Es ist die Zeit der exzessiven Spiele zwischen Hannah Arendt und Walter Benjamin.  Als könne Schach die Welt retten und ihr Paris auf ewig konservieren. Und während wir schon wissen, wo diese Jahre enden, streben Autoren, Musen, Malerinnen und Schauspieler mit einem Tempo in den Untergang, an das man sich auch lesend kaum gewöhnen kann. Florian Illies erzählt brillant. Es sind die neuen Namen ihrer Zeit, die uns ans Licht bringen und hellhörig werden lassen. Es sind Sophie Scholl, Claus Graf von Stauffenberg mit seiner Frau, Ernst Jünger und Else Lasker Schüler, die von sich Reden machen. Uns stockt beim Lesen der Atem. Was Florian Illies hier nacherzählt, klingt wie komponiert. Was er uns ans Herz legt, ist der wache Blick auf das Jetzt. Und ja, es gibt Muster, die man zu erkennen glaubt. Hier liegt die wahre Wucht seiner Bücher. Vor dem fertigen Mosaik stehen wir selbst rastlos, weil wir spüren, dass wir auch heute noch im Besitz einiger Mosaiksteine sind. Legen wir sie mit Bedacht an die Geschichte vor unserer Geschichte an. Sonst schreibt Florian Illies über uns…

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Liebe in Zeiten des Hasses von Florian Illies

Einer Spur bin ich dem Schreiben von Florian Illies intensiv gefolgt. Es war kein leichter Weg, der großen deutschen Dichterin und Autorin Else Lasker-Schüler durch diese aberwitzigen Jahre auf der literarischen Fährte zu bleiben. Sie, die Brieffreundin und heimliche Liebe von Franz Marc, blieb 1913 im ersten Buch zurück und doch war ihr Anteil an diesem Jahr so außerordentlich, dass ich ihn nie vergaß. Erst später traf ich erneut auf sie und ihren Brieffreund mit dem Blauen Pferd. Es ist diese Chronik eines Gefühls, die mich auch im neuen Werk von Florian Illies wieder zu ihr bringt. Es macht mich betroffen, sie nun 1933 blutend in den Straßen von Berlin zu sehen. Opfer der SA, weil die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung sehr früh beginnt. Es ist nicht das letzte Mal, dass wir uns begegnen. Ich muss dem Blauen Pferd im Lenbachhaus davon berichten. Vielleicht können wir zusammen ein Tränchen vergießen. Für Else. 

1913 – Der Sommer des Jahrhunderts von Florian Illies

Von Florian Illies inspirierte Artikel in der kleinen literarischen Sternwarte:

1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – Die Reise in ein besonderes Jahr
1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte“ – Das Sequel

Das Blaue Pferd“ von Franz Marc… mit anderen Augen…
1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – Verwunschene Bilder
1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – In memoriam Else Lasker-Schüler
1913- Der Sommer des Jahrhunderts geht weiter“ – Eine Hommage

Unter dem Schlagwort 1913 findet man weitere Einflüsse auf mein heutiges Lesen…

1913 – Der Sommer des Jahrhunderts von Florian Illies

Das Jahr des Dugong von John Ironmonger

Das Jahr des Dugong von John Ironmonger - Astrolibrium

Das Jahr des Dugong von John Ironmonger

Es gibt Bücher, die das Leben verändern können. Es gibt Bücher, die geeignet sind, die eigenen Wahrnehmungen zu verändern und aufmerksamer durchs Leben zu gehen. Ich stoße recht häufig auf Geschichten, die mich aufrütteln und bewegen. Sie bleiben in Erinnerung. Es passiert jedoch relativ selten, dass ich schon während des Lesens eine veränderte Umwelt registriere. Als würde sich die Realität krümmen und sich den Inhalt eines Romans zum Vorbild nehmen. Nichts ist ab diesem Moment mehr so, wie es mal war. Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger tauchte überraschend am Horizont auf, bestach durch ein sehr ansprechendes Cover und vermittelte mir den Eindruck, ein weiteres Mal in meinem Lesen einem Wal zu begegnen, der mein Leben bereichern könnte. Das Ausmaß dieser Bereicherung war dann sehr überraschend, da ich plötzlich begann, Nachrichten und Schlagzeilen anders zu interpretieren.

Seit diesem Buch aus dem Jahr 2019 bezeichne ich Ironmonger als literarischen Nostradamus, weil er einen Pandemieroman schrieb, als von einer Pandemie weltweit noch nichts zu spüren war. Weil er über die globalen Automatismen schrieb, die im Fall einer Pandemie die Menschheit zusätzlich heimsuchen würden. Seit dem Lesen dieses Romans versuche ich, Nachrichten nicht mehr isoliert zu betrachten, sondern immer in großen Zusammenhängen zu denken. Der Roman setzte einen Hoffnungsschimmer in die Welt, weil er uns glauben lässt, dass, wenn wir die Variable Mensch empathischer gestalten, wir solche Krisen wirklich meistern können. Ein relevantes Buch, das man in seinem Bücherregal der Lesensretter beheimaten sollte. Warum ich das hervorhebe? Nun, er hat es wieder getan. Er hat erneut geschrieben und alle Frühwarnsysteme in der kleinen literarischen Sternwarte beginnen zu schrillen. Was kommt auf uns zu?

Das Jahr des Dugong von John Ironmonger - Astrolibrium

Das Jahr des Dugong von John Ironmonger

Wer also denken sollte, sein neuestes Werk „Das Jahr das Dugong“ sei hier nur der marktübliche Versuch, den überraschenden Erfolg des Vorgängers zu vertiefen, der sollte lieber zweimal hinschauen, und erst dann die Indizien bewerten, die für eine Kampagne sprechen. Das Buch erscheint vorerst ausschließlich in Deutschland und ist vom reinen Umfang her nicht mit dem „Wal“ aus seiner Feder zu vergleichen. Hatte er uns im Jahr 2019 noch mit 476 Seiten begeistert, bescheidet er sich im „Dugong“ mit 137 Seiten bei gleichzeitig etwas kleinerem Buchformat. Warum das alles? Traut man dem Buch keinen weltweiten Erfolg zu, oder ist es dem Fischer Verlag hier gelungen, einen Coup zu landen, der uns aufhorchen lässt? Es gibt klare Indizien, die schon vor dem Lesen darauf hindeuten. Der Untertitel „Eine Geschichte für unsere Zeit„, seine Widmung:

„Diese Geschichte widme ich den Tausenden Delegierten der UN-Klimakonferenz COP26 und all jenen, die sich dafür einsetzen, den Planeten vor einer Katastrophe zu bewahren. Bitte enttäuschen Sie uns nicht.“

und ein Zitat aus der Feder von Greta Thunberg noch vor dem ersten Kapitel lassen darauf schließen, dass John Ironmonger diesmal mehr plant, als uns überraschend in Erstaunen zu versetzen. Wer dann noch seinen Appell auf der Umschlagrückseite nicht reflexartig zu einem stereotypen Twitter-Shitstorm verwurstet, der ist hier richtig. „Weil es jetzt auf uns ankommt, auf uns alle zusammen.“ Ja, wir halten einen literarischen „Klimaaktivisten“ in Händen. Wir lesen einen Roman, der in seiner Botschaft nicht nur an uns adressiert ist. Er sollte Pflichtlektüre der UN-Klimakonferenz COP26“ werden, die schon vom 31. Oktober bis zum 12. November in Glasgow stattfindet. Also kommt diese Streitschrift gerade noch rechtzeitig auf den Markt. Angesichts der Sprachvielfalt auf diesem Kongress liegt es nun scheinbar an uns und den deutschen Delegierten für einen Appell zu sorgen, zuerst diese Geschichte zu lesen und sich dann wieder um die Tagesordnung zu kümmern. Der droht, wie zuletzt Ergebnislosigkeit. Flankiert von den aufmunternden Appellen der Delegierten wird erneut nichts passieren und Fridays for Future bleiben die Speerspitze der Jugend gegen die Passivität der Alten.

Das Jahr des Dugong von John Ironmonger - Astrolibrium

Das Jahr des Dugong von John Ironmonger

Doch ist „Das Jahr des Dugong“ eigentlich als Wachmacher geeignet? Hat dieser Roman das Potenzial, uns vor Augen zu führen, was wir gerade tun? Davon darf man getrost ausgehen. Ich kann hier nur mein Empfinden schildern, aber es ist undenkbar für mich, dass irgendjemand behaupten wird, dieses Buch nicht in einem Zug gelesen zu haben. Wir lernen einen Menschen in einer extrem verzweifelten Situation kennen. Toby Markham, sechzig Jahre alt, Hedgefond-Broker, stand eben noch mitten in dem Leben, das er so sehr liebte. Skipisten, Reichtum und hübsche Frauen. Und jetzt wird er in einer Umgebung wach, die ihm total fremd ist. Fixiert auf einem Bett, Stromstöße jagen durch seinen Körper und Menschen, die er kaum versteht umringen ihn. Wohin hat es ihn verschlagen? Ein Traum kann es nicht sein, zu real ist der Schmerz. Als er erfährt, dass man ihm den Prozess macht, weil er als Angeklagter gilt, beginnt er eine Ahnung zu bekommen, wo er ist… und wann…

Das Jahr des Dugongkann man mit den „Gerichtsexperimenten“ von Ferdinand von Schirach vergleichen. Hypothetisch und gewagt wirkt auch die Ausgangssituation aus der Feder von John Ironmonger. Er legt den Finger in jene größte Wunde, die man sich aus aktueller Sicht nur vorstellen kann. Wie sähe es aus, wenn wir ganz persönlich für unser aktuelles Versagen im Bereich des Klimaschutzes haften müssten? Wie sähe es aus, mit einer Verantwortung konfrontiert zu werden, die im Moment so fern scheint. Was kann uns schon passieren? Bis das Klima endgültig versagt, sind wir schon längst nicht mehr am Leben. Nach uns die Sintflut. Was heißt schon Generationenvertrag und sinnvoller Umgang mit begrenzten Ressourcen? Uns kann doch keiner was anhaben? Oder? Das war auch die Sicht von Toby Markham. Jetzt, im Jahr des Dugong ändert sich diese Haltung schlagartig. Stromschlagartig…

Das Jahr des Dugong von John Ironmonger - Astrolibrium

Das Jahr des Dugong von John Ironmonger – Astrolibrium

John Ironmonger schreibt tatsächlich eine Geschichte unserer Zeit. Und doch ist es gerade die Zeitverschiebung, die uns klar macht, was passiert. Es gibt heute noch eine Handvoll Dugongs. Seekühe, die wir gejagt und dann mit der Verschmutzung der Umwelt dezimiert haben. Ihre Zeit läuft ab, so wie unsere. Eine Umkehr ist kaum mehr zu erkennen. Eine Klimakonferenz oder eine teilweise grüne Regierung können nicht lösen, was vor uns liegt. Hilft doch eigentlich nur, sich den Shitstorms anzuschließen, nach einfachen Fake-News zu suchen, sich zu verstecken, Greta Thunberg als Göre zu beschimpfen, Expeditionen in die Arktis als „linksgrün versiffte Propaganda“ zu diskreditieren, Klima-Aktivisten und Aktivistinnen wie Säue durchs Dorf zu treiben und der Jugend der Welt an den Fridays for Future zuzurufen: Früher hätte es das nicht gegeben…

Oder? Ja, oder wir lesen solche Bücher. Appellieren zuerst an uns und dann an die Menschen in unserem Umfeld. Vielleicht erzählen wir von diesem Buch. Vielleicht von anderen. Vielleicht schöpfen wir Hoffnung aus einer Geschichte, in der uns der Autor John Ironmonger mit seinen Mitteln die literarische Pistole auf die Brust setzt. Eines kann ich nach dem Lesen versprechen. Dieses Buch lässt nicht kalt. Ironmonger hebt seinen Zeigefinger nicht, um ihn uns ins Hirn zu bohren. Er versöhnt uns mit Zweifeln und Ängsten. Aber er lässt nie locker in dieser Geschichte für unsere Zeit. Warum?

„Weil es jetzt auf uns ankommt, auf uns alle zusammen.“

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Das Jahr des Dugong von John Ironmonger

Danach, das Leben von Antoine Leiris

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Danach, das Leben von Antoine Leiris

Am 13. November jährten sich die Anschläge auf Paris zum fünften Mal. Das Jahr 2015 war das Annus horribilis für die französische Metropole. Im Januar begann es mit dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitung „Charlie Hebdo“ und zum Ende des Jahres gipfelte der Terror in Paris in einer nie zuvor dagewesenen Anschlagsserie. Am 13. November schlugen islamistische Terroristen an einigen Orten zugleich zu, töteten 130 Menschen und verletzten mehr als 350 weitere schwer. Wer an diesem Abend das Fußball-Länderspiel im Fernsehen verfolgte, die beiden Explosionen vor den Toren des Stadions hörte, und die weiteren Nachrichten aus Paris verfolgte, der wird diese Nacht ebenso wenig vergessen, wie den 11. September 2001 in New York. Auch hier wurde die ganze Welt Zeuge der verheerenden Anschläge.

Was mir auch in Erinnerung blieb, war ein Satz des französischen Schriftstellers Antoine Leiris, der an diesem Abend im Bataclan seine Ehefrau Hélène verlor und als Witwer mit seinem erst siebzehn Monate alten Sohn Melvil zurückblieb. Er schrieb nur: „Meinen Hass bekommt ihr nicht. Diese Botschaft an die Terroristen äußerte er drei Tage nach dem Massaker in Paris. Worte, die um die ganze Welt gingen. Tiefe Worte, die keinen Vater und keine Mutter unbewegt ließen. Worte der Liebe, Trauer und Klage. Verzweifelte Worte der Verantwortung für den gemeinsamen Sohn Melvil. Gleichzeitig auch eine Kampfansage an die Verantwortlichen für solche Anschläge. Antoine Leiris verweigerte den Terroristen den Sieg über die eigene Familie. Dieses Geschenk macht er ihnen nicht. Dies war seine Rache und ein Wegweiser in die ungewisse Zukunft für Vater und Sohn.

Danach, das Leben von Antoine Leiris - AstroLibrium

Danach, das Leben von Antoine Leiris

Und nun? Fünf Jahre danach? Was ist aus dem Mann geworden, der so gerne ein normales Buch geschrieben hätte? Der Mann, der gerne Romane in die Welt entlassen hätte, um zu unterhalten oder Spannung zu erzeugen? Der Mann, dessen Schreiben in der größten Krise seines Lebens ein Buch hervorgebracht hatte, von dem er sich nicht mehr trennen konnte? Stigmatisiert als traurige und kämpferische Stimme Frankreichs sollte es ihm nicht gelingen, einen fiktionalen Stoff zur Entfaltung zu bringen. Ihm blieb nur die Beobachterrolle, während sich Schriftsteller, die selbst keine Opfer zu beklagen hatten, das Fanal von Paris in Romanen aneigneten. Er verschwand von der Bildfläche. Bis jetzt. „Danach, das Leben“ ist mehr als ein Lebenszeichen von ihm. Allerdings ist es auch ein deutliches Zeichen seines Scheiterns als Romanautor. Seine Worte sind begrenzt auf die Folgen des Terrors. Sein inneres Gefängnis ist hermetisch verriegelt und lässt ein befreites und neutrales Schreiben nicht zu.

„Danach, das Leben“ beschreibt schon im Titel den großen Widerspruch, in dem der Autor und Vater heute lebt. Man fragt sich sofort, was für ein Leben das denn sein kann. Ob es lebenswert, von Trauer dominiert oder vom kleinen Melvil bestimmt ist. Man fragt sich, wie es dem Menschen Leiris hinter dem Vorhang geht und ob er es zulässt, einen Blick hinter seine Kulissen und Fassaden zu werfen. Man fragt sich auch, ob das neue Buch Teil einer Therapie ist, die immer noch nicht abgeschlossen ist. Auf all diese Fragen gibt Antoine Leiris Antworten. Er lässt nichts aus. Er zieht blank, nicht nur, was seine Gefühle und Perspektiven betrifft. Er schreibt von den kleinen Erfolgen, von dem Rückschlag, der ihn jedes Mal trifft, wenn er einen Schritt nach vorne wagt. Er schreibt über seine Frau, ihr Fehlen und seine Rolle als alleinerziehender Vater. Von Umzügen und Neuanfängen, vom Loslassen und Festhalten, von dunklen und hellen Nächten. Es ist ein Buch, das uns vielleicht Mut macht. Ob es ihm gelungen ist, sich zu ermutigen? Das steht auf einem anderen Blatt Papier.

Danach, das Leben von Antoine Leiris - AstroLibrium

Danach, das Leben von Antoine Leiris

Man möchte ihn in den Arm nehmen, wenn er sich dem Selbstvorwurf hingibt, im Versuch den Schmerz zu bewältigen, seine Frau „dargeboten zu haben, ohne dass sie ein Wort hätte mitreden können.“ Man trifft auf einen Mann, der schwer darunter leidet, seine Frau zu einer öffentlichen Person gemacht zu haben, die ihm nicht mehr gehört. Es ist nicht nur dieser Verlust, den er zutiefst beklagt. Es ist ein Zugeständnis, das ihn heute einholt, als er zum ersten Mal ein Theater besucht, in dem seine Geschichte auf der Bühne aufgeführt wird. Dieses Erlebnis mit ihm teilen zu können, gehört eindeutig zu den großen Momenten dieses Buches. Seltsam von sich selbst entrückt, folgt er im Theater dem Monolog des Schauspielers, der sich seine Geschichte nun aneignet. Es ist das Spiegelkabinett der Trauer, das wir mit Antoine Leiris betreten.

Was er uns als Vater eines kleinen Wirbelwinds erzählt, rührt und bewegt. Er gibt sich alle Mühe, der Normalität Raum zu geben und Melvil behütet großzuziehen. Er wird beim Vorlesen von Kinderbüchern zu Vater und Mutter für seinen kleinen Jungen. Eine Passage im Buch beschäftigt mich sehr. Es ist Pinocchio, dem Vater und Sohn hier gemeinsam begegnen. Es ist die innige Nähe, die spürbar wird und doch fühlt sich die Geschichte für Antoine Leiris an, wie ein Feld voller Tretminen. Keinen Fehler machen und die Fragen des kleinen Melvil ernst nehmen – das sind die Herausforderungen, die er hier zu meistern hat. Es gibt sehr viele dieser großen Momente in diesem schmalen Buch. Leiris gelingt es erneut, uns mit kaum 200 Seiten nachhaltig und bewegend mit seiner Welt zu konfrontieren. Er bietet uns keine Bewältigungsstrategien, er beschreibt keinen Trauer-Musterweg. Er schreibt aus meiner Sicht für sich selbst, um einen Weg zu einem neuen Schreiben zu finden.

Danach, das Leben von Antoine Leiris - AstroLibrium

Danach, das Leben von Antoine Leiris

Antoine Leiris beschreibt, dass eine private Geschichte niemals Geschichte wird. Er schreibt ein intimes Buch, das ihn sicherlich irgendwann wieder einholen wird, weil er nun im Gefühl lebt, seinen Sohn „dargeboten“ zu haben. Ich denke nicht, dass es so ist. Er überschreitet keine Grenzen, die seinem Sohn nicht gerecht werden. Leiris geht nur mit sich extrem hart ins Gericht. Man sollte dieses Buch lesen, wenn man Antoine Leiris zuvor begegnet ist. Aus der Distanz heraus gelingt ihm nun, was vor fünf Jahren kaum möglich war. Die echte Liebeserklärung an seine Frau. Allein das ist lesenswert:

„Hélène ist der Stift, den ich halte, die Tinte, die darin fließt, die Tasten meines Computers, die Wörter, die auf dem Bildschirm erscheinen. Die Buchstaben haben ihre sanften Linien, die Wörter ihr Zartgefühl, die Assoziationen schwingen durch ihre Musikalität.“

In letzter Konsequenz jedoch sind es diese tiefen Worte, die aus seinem Herzen einen diebstahlsicheren Tresor machen. Jeder Versuch, den Schlüssel einer neuen Frau in seinem Leben in die Hand zu drücken, scheitert kläglich. Bisher. Vielleicht wird dieses neue Buch von ihm ein hilfreicher Panzerknacker für Menschen, die ihm in der Zukunft begegnen. Ich hoffe es für ihn…

Danach, das Leben von Antoine Leiris - AstroLibrium

Danach, das Leben von Antoine Leiris

Ein Beispiel für einen Roman, der im November vor fünf Jahren gipfelt:

Hilmar Klute legt einen bipolaren Roman vor, in dem es gelingt, die Menschen in den Vordergrund zu stellen und gleichzeitig die Situation in Paris nicht zur Kulisse zu degradieren. Ein Ausnahmebuch zu einer Stadt im Ausnahmezustand. Oberkampf

Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger

Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger - AstroLibrium

Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger

Es gibt Bücher, die das Leben verändern können. Es gibt Bücher, die geeignet sind, die eigenen Wahrnehmungen zu verändern und aufmerksamer durchs Leben zu gehen. Ich stoße recht häufig auf Geschichten, die mich aufrütteln und bewegen. Sie bleiben in Erinnerung. Es passiert jedoch relativ selten, dass ich schon während des Lesens eine veränderte Umwelt registriere. Als würde sich die Realität krümmen und sich den Inhalt eines Romans zum Vorbild nehmen. Nichts ist ab diesem Moment mehr so, wie es mal war. Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger tauchte überraschend am Horizont auf, bestach durch ein sehr ansprechendes Cover und vermittelte mir den Eindruck, ein weiteres Mal in meinem Lesen einem Wal zu begegnen, der mein Leben bereichern könnte. Das Ausmaß dieser Bereicherung war dann sehr überraschend, da ich plötzlich begann, Nachrichten und Schlagzeilen anders zu interpretieren.

Ironmonger macht aus seinen Lesern Analysten des aktuellen Weltgeschehens. Er spielt mit der Welt der Großbanken auf der einen Seite und der Abgeschiedenheit einer ländlichen Region auf der anderen. Wo steckt das wahre Leben? Was ist eigentlich von Bedeutung und wie verändert sich das Leben, wenn in der Welt etwas aus der Balance gerät. Fragen, denen sein utopisch anmutender Roman auf den Grund geht. Der Autor weckt Leser aus einer immer weiter um sich greifenden Lethargie auf und schärft unser Wahrnehmungsvermögen für die wirklich relevanten Veränderungen, die zumeist ganz harmlos und im Verborgenen beginnen. Seine erzählerischen Mittel sind wie Weckrufe eines fabulierenden Fantasten, dessen Visionen real werden könnten.

Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger - AstroLibrium

Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger

Wie man sich dieses Aufwecken vorstellen darf? Ganz einfach. John Ironmonger schreibt uns Bilder in die Seele, die uns daran zweifeln lassen, dass unsere Zukunft so aussieht, wie wir sie uns in unseren bunten Träumen vorstellen:

„Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Truthahn… Das Leben scheint es gut mit Ihnen zu meinen. Der Bauer gibt Ihnen mehr Futter, als Sie essen können. Er kümmert sich um Sie, hält Sie warm, schützt Sie vor Raubtieren… Und jeder Tag ist genau wie der Tag zuvor. Wenn Sie, als Truthahn eine Vorhersage für den nächsten Tag machen müssten, wie sähe sie aus? Wir werden nicht hungern. Denn Sie wissen nicht, dass morgen der Tag vor Weihnachten ist.“

Das hat gesessen. Zumindest bei mir. Der Truthahn in mir ist erwacht und beginnt mit dem täglichen Jogging und beobachtet seine Umgebung genauer. Die Story, in die der britische Schriftsteller seine Hallo-Wach-Effekte einbaut ist bestens geeignet, lange im Gedächtnis zu bleiben. Sie hebt sich deutlich von vergleichbaren Geschichten ab, wird niemals kitschig oder belanglos. Ihre Relevanz trägt uns durch eine Erzählung, die sich in metaphorischer Hinsicht mit den großen Walgesängen der Literatur vergleichen lässt.

Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger - AstroLibrium

Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger

Wale ziehen mich magisch an. Spätestens seit Moby Dick ist mir ihre metaphorische Dimension in der Literatur bewusst, stehen sie doch einerseits für die Meer-Ungeheuer, die das Leben der einfachen Seeleute bedrohen und andererseits für Herausforderung und Abenteuerlust. Die urwüchsige Konfrontation des Menschen mit der Natur wird oft auf ihrem Rücken (oder Buckel) ausgetragen. Welche Geschichte mir John Ironmonger jedoch wirklich erzählen wollte, erschloss sich mir erst, als es zu spät war umzukehren. Oh nein. Keine Sorge, wir begeben uns nicht an Bord eines Walfangschiffes und jagen auch nicht mit Harpunen. Der Wal in diesem Roman spielt eine völlig andere Rolle, als wir sie bisher in der Literatur wahrgenommen haben. Er mutiert zu einer Metapher, die dem größten Säugetier dieser Erde eine neue Bedeutung verleiht: Lebensretter.

„Der Wal und das Ende der Welt“ verbindet zwei Erzählräume miteinander, die so unterschiedlich sind, wie die interagierenden Protagonisten. Die Welt des Kommerzes, der Großbanken, Spekulanten und Hochfinanz-Heuschrecken mit der heilen Welt des kleinen Fischerdorfes St. Piran in Cornwall. Hierhin verschlägt es das wohl begabteste Analysten-Talent einer britischen Großbank. Joe Haak taucht wie aus dem Nichts auf. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Nackt am Strand liegend, wird er von einigen Bewohnern von St. Piran gefunden und gerettet. Seine Geschichte klingt sehr abstrus. Ein Finnwal habe ihn gerettet, nachdem er zu weit rausgeschwommen war. Ein Banker im Meer. Ein Wal viel zu nah an der Küste und eine Geschichte, die sich entwickelt, wie das Horrorszenario vom Weltuntergang. Bestandteile einer Erzählung, die hier beginnt.

Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger - AstroLibrium

Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger

Dabei schließen sich in St. Piran die Kreise der groß angelegten Geschichte. Was in einer Großbank mit einer Analyse globaler Zusammenhänge begann, sich zu einem elektronischen Vorhersagesystem des genialen Analytikers Joe Haak entwickelte und plötzlich begann, Szenarien über den totalen Kollaps der Erde zu prognostizieren, führt zur Spiegelung eines zutiefst egoistischen Menschenbildes in einem Computersystem. Als Joe Haak plötzlich in St. Piran auftaucht, hat er diese Welt hinter sich gelassen. Er hat die ganze Welt hinter sich gelassen und spürt bei den 307 Bewohnern des kleinen Fischerdorfes erstmals ein Gefühl von Heimat und Zugehörigkeit. Hier beginnt er, sich neu zu erfinden. Was kann er tun, um dieses kleine Nest vor dem totalen Untergang zu bewahren? Er hat einen Plan. Diesmal einen nicht egoistischen.

Sein Rettungsplan stellt das Gefüge des kleinen Dörfchens auf eine Zerreißprobe. Ein ganz eigener Menschenschlag trifft auf einen Sonderling. Der Außenseiter mit dem Glauben an den Weltuntergang passt kaum in diese Gemeinschaft. Wäre da nicht der Wal, der Joe Haak nicht nur einmal zur Hilfe eilt. Menschliche Beziehungen stehen auf dem Prüfstand, eine zart aufflammende Leidenschaft für die junge Ehefrau des älteren Pfarrers vereinfacht Joe Haaks Situation nicht wirklich. Als die ersten Nachrichten einer weltumspannenden Krise das Dorf erreichen, wendet sich das Blatt erneut. Ironmonger konfrontiert uns mit einer Utopie in der Utopie. Sein Roman ist das Frühwarnsystem im literarischen Sinne. Auch, wenn man nicht an die theoretischen Grundlagen der Utopie glauben mag, ein Blick in die Nachrichten und die Beobachtung der Weltbörsen lassen diesen Roman wie eine Alarmglocke wirken, die schon längst in größter Lautstärke zu schlagen begonnen hat.

Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger - AstroLibrium

Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger

Nein, das ist nicht real. Nein, die Menschen des Dorfes mit ihren aberwitzigen Namen kann es so nicht geben. Der Plan von Joe Haak ist nicht realisierbar. Gemeinschaften funktionieren nicht so. Das Menschenbild John Ironmongers ist zu romantisch. Nein. Es entbehrt alles sicher jeder Grundlage. Man kann sich zurücklehnen und sich einfach so berieseln lassen. Passiert schon nichts. Und doch. Denken wir an den Truthahn. Was wäre, wenn? Die zentrale Frage aller Utopien. Sie darf gestellt werden. Und mit einem wachen Blick auf die Großbanken erkennen wir täglich, dass ihr Profit auf den Dramen fußt, die sich stündlich mit zahllosen Verknüpfungen weltweit abspielen. 

Ich lese Nachrichten anders. Plötzlich. Ich suche Verbindungen, die unsichtbar sind. Wenn in Neuseeland ein Sturm aufzieht, in Saudi-Arabien das Öl teurer wird, ein Krieg im Sudan ausufert und eine Epidemie in Äthiopien grassiert, dann denke ich an diesen Roman und weiß, dass irgendwo im Verborgenen Banker analysieren, wie man davon profitieren kann. Die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner ist Teil des ganz großen Wirtschaftsplans. Das Ausschlachten ist Programm. Hier tut ein Roman gut, der eine Variable dieser Kalkulation verändert. Den Menschen. Genauer gesagt, Menschen aus einem kleinen Fischerdorf in Cornwall. Wer jemals daran zweifelt, sollte keinesfalls einen Wal vergessen. John Ironmogers Roman heißt nicht ohne Grund im Original „Not Forgetting the Whale“.

Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger - AstroLibrium

Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger

Der Wal und das Ende der Welt“ / John Ironmonger / S. Fischer Verlag / Hardcover / Übersetzung: Maria Poets, Tobias Schnettler / 480 Seiten / 22 Euro

Utopien in der kleinen literarischen Sternwarte: „Was wäre wenn„.

Das Jahr des Dugong von John Ironmonger - Astrolibrium

Das Jahr des Dugong von John Ironmonger

John Ironmonger hat es wieder getan:

Wer also denken sollte, sein neuestes Werk „Das Jahr das Dugong“ sei hier nur der marktübliche Versuch, den überraschenden Erfolg des Vorgängers zu vertiefen, der sollte lieber zweimal hinschauen, und erst dann die Indizien bewerten, die für eine Kampagne sprechen. Hier weiterlesen

Das Jahr des Dugong von John Ironmonger - Astrolibrium

Das Jahr des Dugong von John Ironmonger

„Junge ohne Namen“ von Steve Tasane

Junge ohne Namen von Steve Tasane - Astrolibrium

Junge ohne Namen von Steve Tasane

Ich muss nicht weit ausholen, um einen Zugang zu einem Jugendbuch zu finden, das in diesen Tagen im S. Fischer Verlag erschienen ist. Junge ohne Namen“ von Steve Tasane besticht schon im Buchdesign, weil die eigentliche Geschichte schon auf dem Cover beginnt. Kein Autorenname. Kein Verlag. Nichts. Nur der Titel des Romans und schon geht es rein in die Handlung. Goldgeprägt und damit sehr auffällig. Ein Titel, der uns nachdenklich macht. In schlichtem Beige gehalten das ganze Buch. Ohne Effekte. Ohne Abbildung oder verlockendes Cover. Einzig ein kleiner, ebenso goldgeprägter und an eine Spielzeugfigur erinnernder Junge ziert das Cover der Steifbroschur. Unauffällig macht es gerade in seiner Schlichtheit viel her. Der Inhalt ist alles andere als schlicht.

Junge ohne Namen - Die Rezension fürs Ohr - AstroLibrium

Junge ohne Namen – Die Rezension fürs Ohr – Ein Klick genügt

Mein Zugang zu diesem schmalen Buch liegt in meinem Lesen der letzten Tage. Ohne Familien gibt es keine Geschichten“. Dies las ich, als ich dem „Mädchen mit dem Poesiealbum“ begegnete. Ich las es aufmerksam, weil die kleine Jüdin Lientje die Verfolgung in den von Nazis besetzten Niederlanden und ihr späteres Leben wohl nicht erzählt hätte, weil sie ihre Familie verloren hatte und damit auch ihre eigene Geschichte und ihre Identität. Ein verstörendes Buch, bei dem man sich trotzdem auch immer noch fragen lassen muss: „Ist es nicht langsam genug? Das Thema ist doch längst abgehakt und sollte jetzt endlich ad acta gelegt werden!“ Ist es das? Haben wir gelernt? Passiert es heute nicht mehr, dass Kinder ihrer Identität beraubt werden und ohne Geschichte in ein neues Leben gehen müssen? (Sie können die Rezension auch hören. Hier)

Junge ohne Namen von Steve Tasane - Astrolibrium

Junge ohne Namen von Steve Tasane

Beide Bücher haben sich in meinem Bücherregal vereint. Sie scheinen einander zu verstehen und zu mögen. Sie sind in unterschiedlichen Epochen angesiedelt und doch scheinen sie Geschichten zu erzählen, die viel gemeinsam haben. Nur dass der „Junge ohne Namen“ in unserer alltäglichen Gegenwart spielt. Flüchtlingsschicksale stehen im Mittelpunkt beider Bücher. Verfolgung vereint und Krieg verbindet sie. Der Verlust ihrer Eltern steht als Ausrufezeichen über der Zukunft. Nur darf Lientje ihren Namen und das Poesiealbum mit den Fotos ihrer Familie behalten. Wenigstens dies. Der „Junge ohne Namen“ hat nichts, außer einem Buchstaben, der ihm geblieben ist.

Meine Familie ist weg. Meine Papiere auch. Ich habe nur noch einen Buchstaben. I – so werde ich hier genannt. Ich bin ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling.“

Wo wir uns befinden, ist egal. Es ist eines jener Flüchtlingslager, die wir aus den Nachrichten so gut kennen. Kriegsgebiet. Menschen ohne Habseligkeiten. Ein Leben im Provisorium. Wer es gemeinsam geschafft hat, gehört zu den Glücklichen im Drama. Kinder ohne Begleitung, ohne Pässe oder sonstige Dokumente, zu jung, um überhaupt ernstgenommen zu werden, verlieren alles. Hier bleibt ihnen nur ein einziger Buchstabe und eine schlammbespritze Hütte. I ist gerade einmal zehn Jahre alt. Denkt er. Belegen kann er es nicht. Sein „Lebensbuch“ ist verloren. Kein Ausweis, keine Vergangenheit in Reichweite und keine Zukunft greifbar. Wären nicht andere Kinder, wie L, E und V, man wäre ganz alleine und rettungslos verloren. Man spricht nicht die Sprache der Wachen im Lager. Es gibt keinen Ausweg. Nur zurück in die zerbombte Heimat darf man. Sehr gerne sogar.

Junge ohne Namen von Steve Tasane - Astrolibrium

Junge ohne Namen von Steve Tasane

Den Rest des Buches sollte man auf seinen 138 Seiten auf sich wirken lassen. Es entspricht im Schreibstil, der Sprache und im gesamten Inhalt der Altersempfehlung ab dem 12. Lebensjahr. Aus der Sicht von I erlebt man den Alltag im Flüchtlingslager, lernt seine Freunde, Feinde und Helfer kennen. Steve Tasane treibt den Schlamm bildlich in unser Leben. Schlammverkrustet würden wir längst untergehen, während die Kinder in bewundernswerter Art und Weise um eine kleine Insel der Normalität bemüht sind. Was ihnen fehlt ist die Perspektive. Was fehlt ist die Zukunft. Was fehlt ist alles, was wir uns nur vorstellen können. I kämpft gegen sein Schicksal an, doch als die Planierraupen im Lager auftauchen, droht selbst dieser letzte Rest von eigener Welt unterzugehen. 

Steve Tasane ist der Sohn von Flüchtlingen. Er betont, dass dies nicht seine eigene Geschichte ist. Er schrieb sie für all die namenlosen Kinder, die in jenen Lagern darauf warten, dass man sie endlich rettet und in eine sichere Zukunft begleitet. Kinder, deren Lebensweg dieses Buch kreuzt, erkennen schnell was I und seinen Freunden fehlt. Sie entwickeln, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen, ein tiefes Verständnis für die Verluste und deren Konsequenzen. Und sie sehen, dass man manchmal gar nicht viel tun muss, um helfen zu können. Ein Buch gegen das Wegschauen. Ein Jugendbuch, in dem sich die Kinder dieser Welt solidarisieren können, weil sie immer nur eine Frage im Herzen tragen: „Wollen wir spielen?“ Steve Tasane ist eine hoffnungsvolle Stimme in der Dunkelheit der Flüchtlingslager. Wir können dafür sorgen, dass man sie weiter hört, als sie eigentlich tragen kann.

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Junge ohne Namen von Steve Tasane

Ein Gedanke, den wir beim gemeinsamen Lesen mit Kindern vielleicht wie einen Impuls in ihr Leben tragen könnten: Was ist mit diesen unbegleiteten Kindern, wenn sie es schaffen? Wie kann man sie hier in unserem Land richtig begleiten? Ihnen einen ganz neuen Weg aufzeigen, eine neue Sprache beibringen, neue Bilder vermitteln? Ein ganz neues Lebensalbum beginnen und damit alles zu vergessen, was sie waren? Hier kann man versuchen, Begriffe wie Integration anders zu denken. Assimilation vernichtet die eigene Geschichte und verdrängt die verlorene Familie ins Nichts. Und nur wer eine Familie hat, kann später Geschichten erzählen.

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Junge ohne Namen von Steve Tasane

Glaubt Lientje, Lien de Jong und helft I dabei, sich zu erinnern….

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