Es gibt Bücher, die das Leben verändern können. Es gibt Bücher, die geeignet sind, die eigenen Wahrnehmungen zu verändern und aufmerksamer durchs Leben zu gehen. Ich stoße recht häufig auf Geschichten, die mich aufrütteln und bewegen. Sie bleiben in Erinnerung. Es passiert jedoch relativ selten, dass ich schon während des Lesens eine veränderte Umwelt registriere. Als würde sich die Realität krümmen und sich den Inhalt eines Romans zum Vorbild nehmen. Nichts ist ab diesem Moment mehr so, wie es mal war. „Der Wal und das Ende der Welt“ von John Ironmonger tauchte überraschend am Horizont auf, bestach durch ein sehr ansprechendes Cover und vermittelte mir den Eindruck, ein weiteres Mal in meinem Lesen einem Wal zu begegnen, der mein Leben bereichern könnte. Das Ausmaß dieser Bereicherung war dann sehr überraschend, da ich plötzlich begann, Nachrichten und Schlagzeilen anders zu interpretieren.
Seit diesem Buch aus dem Jahr 2019 bezeichne ich Ironmonger als literarischen Nostradamus, weil er einen Pandemieroman schrieb, als von einer Pandemie weltweit noch nichts zu spüren war. Weil er über die globalen Automatismen schrieb, die im Fall einer Pandemie die Menschheit zusätzlich heimsuchen würden. Seit dem Lesen dieses Romans versuche ich, Nachrichten nicht mehr isoliert zu betrachten, sondern immer in großen Zusammenhängen zu denken. Der Roman setzte einen Hoffnungsschimmer in die Welt, weil er uns glauben lässt, dass, wenn wir die Variable Mensch empathischer gestalten, wir solche Krisen wirklich meistern können. Ein relevantes Buch, das man in seinem Bücherregal der Lesensretter beheimaten sollte. Warum ich das hervorhebe? Nun, er hat es wieder getan. Er hat erneut geschrieben und alle Frühwarnsysteme in der kleinen literarischen Sternwarte beginnen zu schrillen. Was kommt auf uns zu?
Wer also denken sollte, sein neuestes Werk „Das Jahr das Dugong“ sei hier nur der marktübliche Versuch, den überraschenden Erfolg des Vorgängers zu vertiefen, der sollte lieber zweimal hinschauen, und erst dann die Indizien bewerten, die für eine Kampagne sprechen. Das Buch erscheint vorerst ausschließlich in Deutschland und ist vom reinen Umfang her nicht mit dem „Wal“ aus seiner Feder zu vergleichen. Hatte er uns im Jahr 2019 noch mit 476 Seiten begeistert, bescheidet er sich im „Dugong“ mit 137 Seiten bei gleichzeitig etwas kleinerem Buchformat. Warum das alles? Traut man dem Buch keinen weltweiten Erfolg zu, oder ist es dem Fischer Verlag hier gelungen, einen Coup zu landen, der uns aufhorchen lässt? Es gibt klare Indizien, die schon vor dem Lesen darauf hindeuten. Der Untertitel „Eine Geschichte für unsere Zeit„, seine Widmung:
„Diese Geschichte widme ich den Tausenden Delegierten der UN-Klimakonferenz COP26 und all jenen, die sich dafür einsetzen, den Planeten vor einer Katastrophe zu bewahren. Bitte enttäuschen Sie uns nicht.“
und ein Zitat aus der Feder von Greta Thunberg noch vor dem ersten Kapitel lassen darauf schließen, dass John Ironmonger diesmal mehr plant, als uns überraschend in Erstaunen zu versetzen. Wer dann noch seinen Appell auf der Umschlagrückseite nicht reflexartig zu einem stereotypen Twitter-Shitstorm verwurstet, der ist hier richtig. „Weil es jetzt auf uns ankommt, auf uns alle zusammen.“ Ja, wir halten einen literarischen „Klimaaktivisten“ in Händen. Wir lesen einen Roman, der in seiner Botschaft nicht nur an uns adressiert ist. Er sollte Pflichtlektüre der UN-Klimakonferenz „COP26“ werden, die schon vom 31. Oktober bis zum 12. November in Glasgow stattfindet. Also kommt diese Streitschrift gerade noch rechtzeitig auf den Markt. Angesichts der Sprachvielfalt auf diesem Kongress liegt es nun scheinbar an uns und den deutschen Delegierten für einen Appell zu sorgen, zuerst diese Geschichte zu lesen und sich dann wieder um die Tagesordnung zu kümmern. Der droht, wie zuletzt Ergebnislosigkeit. Flankiert von den aufmunternden Appellen der Delegierten wird erneut nichts passieren und Fridays for Future bleiben die Speerspitze der Jugend gegen die Passivität der Alten.
Doch ist „Das Jahr des Dugong“ eigentlich als Wachmacher geeignet? Hat dieser Roman das Potenzial, uns vor Augen zu führen, was wir gerade tun? Davon darf man getrost ausgehen. Ich kann hier nur mein Empfinden schildern, aber es ist undenkbar für mich, dass irgendjemand behaupten wird, dieses Buch nicht in einem Zug gelesen zu haben. Wir lernen einen Menschen in einer extrem verzweifelten Situation kennen. Toby Markham, sechzig Jahre alt, Hedgefond-Broker, stand eben noch mitten in dem Leben, das er so sehr liebte. Skipisten, Reichtum und hübsche Frauen. Und jetzt wird er in einer Umgebung wach, die ihm total fremd ist. Fixiert auf einem Bett, Stromstöße jagen durch seinen Körper und Menschen, die er kaum versteht umringen ihn. Wohin hat es ihn verschlagen? Ein Traum kann es nicht sein, zu real ist der Schmerz. Als er erfährt, dass man ihm den Prozess macht, weil er als Angeklagter gilt, beginnt er eine Ahnung zu bekommen, wo er ist… und wann…
„Das Jahr des Dugong“ kann man mit den „Gerichtsexperimenten“ von Ferdinand von Schirach vergleichen. Hypothetisch und gewagt wirkt auch die Ausgangssituation aus der Feder von John Ironmonger. Er legt den Finger in jene größte Wunde, die man sich aus aktueller Sicht nur vorstellen kann. Wie sähe es aus, wenn wir ganz persönlich für unser aktuelles Versagen im Bereich des Klimaschutzes haften müssten? Wie sähe es aus, mit einer Verantwortung konfrontiert zu werden, die im Moment so fern scheint. Was kann uns schon passieren? Bis das Klima endgültig versagt, sind wir schon längst nicht mehr am Leben. Nach uns die Sintflut. Was heißt schon Generationenvertrag und sinnvoller Umgang mit begrenzten Ressourcen? Uns kann doch keiner was anhaben? Oder? Das war auch die Sicht von Toby Markham. Jetzt, im Jahr des Dugong ändert sich diese Haltung schlagartig. Stromschlagartig…
John Ironmonger schreibt tatsächlich eine Geschichte unserer Zeit. Und doch ist es gerade die Zeitverschiebung, die uns klar macht, was passiert. Es gibt heute noch eine Handvoll Dugongs. Seekühe, die wir gejagt und dann mit der Verschmutzung der Umwelt dezimiert haben. Ihre Zeit läuft ab, so wie unsere. Eine Umkehr ist kaum mehr zu erkennen. Eine Klimakonferenz oder eine teilweise grüne Regierung können nicht lösen, was vor uns liegt. Hilft doch eigentlich nur, sich den Shitstorms anzuschließen, nach einfachen Fake-News zu suchen, sich zu verstecken, Greta Thunberg als Göre zu beschimpfen, Expeditionen in die Arktis als „linksgrün versiffte Propaganda“ zu diskreditieren, Klima-Aktivisten und Aktivistinnen wie Säue durchs Dorf zu treiben und der Jugend der Welt an den Fridays for Future zuzurufen: Früher hätte es das nicht gegeben…
Oder? Ja, oder wir lesen solche Bücher. Appellieren zuerst an uns und dann an die Menschen in unserem Umfeld. Vielleicht erzählen wir von diesem Buch. Vielleicht von anderen. Vielleicht schöpfen wir Hoffnung aus einer Geschichte, in der uns der Autor John Ironmonger mit seinen Mitteln die literarische Pistole auf die Brust setzt. Eines kann ich nach dem Lesen versprechen. Dieses Buch lässt nicht kalt. Ironmonger hebt seinen Zeigefinger nicht, um ihn uns ins Hirn zu bohren. Er versöhnt uns mit Zweifeln und Ängsten. Aber er lässt nie locker in dieser Geschichte für unsere Zeit. Warum?
„Weil es jetzt auf uns ankommt, auf uns alle zusammen.“