Mein Lesen ohne Florian Illies? Vorstellbar vielleicht, sinnvoll allerdings nicht. Zu sehr hat sein Schreiben mein Lesen beeinflusst, zu intensiv bin ich den Episoden seiner biografisch geprägten Mosaiksteine gefolgt, die am Ende immer wieder ein großes Bild ergeben. Geschichte kann man als Geschichtsschreibung verstehen, oder man nähert sich ihr auf einem anderen Wege an. Es sind die Menschen ihrer Zeit, die Florian Illies Revue passieren lässt. Es sind jene Menschen einer Epoche, eines Jahres, eines ganz besonderen Augenblicks, die bei ihm zu Wort kommen und sich über den tiefen Graben der Vergangenheit an uns wenden, um uns von ihrer Zeit zu erzählen. Es ist bewegend, die von Florian Illies konstruierten Zeitbrücken zu betreten, nach Gemeinsamkeiten zu suchen und nach prominenten und einfachen Menschen Ausschau zu halten, denen wir wohl ohne diesen brillanten Collage-Künstler und Erzähler nie zugehört hätten.
Vor drei Jahren schrieb ich voller Vorfreude auf das neue Buch von Florian Illies „1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte“ und im emotionalen Rückblick auf seine vorausgegangene Hommage an das letzte Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges: „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“:
Vielleicht versteht man jetzt, worauf ich mich wirklich freue. Es sind die Seiten des Lesens neben diesem Buch, von denen ich jetzt noch keinen Schimmer habe, die mich aber vielleicht erneut verändern und prägen werden. Es sind Geschichten, auf die mich Florian Illies direkt stößt, während er mir indirekt ganz andere Wege weist. Ich möchte euch schon heute einladen, zurückzublicken, die Artikel von damals zu lesen und mich zu begleiten, wenn der Autor weitererzählt. Ich kann es kaum erwarten, mich wieder in das Jahr 1913 fallenzulassen. Ich kann es kaum erwarten, neue rote Fäden zu finden und sie zu einem Lesemuster zu vereinen. Ich werde das neue Buch lesen und hören. Ich werde wie von einem Wahn besessen sein und mich außerhalb der Geschichte auf Geschichten zubewegen, die ich jetzt noch nicht kenne. Wird das ein goldener Herbst.
Es wurde ein goldener Herbst und jetzt bescherte mir Florian Illies einen wahrlich goldenen Lesewinter mit der neuen Collage „Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls. 1929 – 1939„. Mehr als nur ein Jahr, mehr als nur ein Buch…
Jetzt, kaum drei Jahre nach meinen Lese-Erlebnissen im Jahr 1913, spannt Illies den Bogen weiter. Elf Jahre statt einem einzigen liegen seinem Buch zugrunde. Elf Jahre, die sich vielleicht auch zum Begriff eines letzten Sommers vereinen lassen, weil nach ihm ein umso längerer Winter folgte, als noch Jahre zuvor. Beide Epochen haben meine Großeltern am eigenen Leib erlebt, aktiv, ungeschützt. Es wäre ein Genuss, sie heute mit den Büchern von Florian Illies zu beschenken und sie zu fragen, ob sie ihre Geschichten dort wiederfinden. Aber vielleicht gehören diese Werke ja in die Bibliothek jenseits des Wahrnehmbaren und werden auch mit Interesse im Himmel gelesen. Nicht nur daran musste ich oft denken, als ich dem Verleger Florian Illies beim Legen seines Mosaikmusters folgte. Es gelingt ihm erneut, mich einerseits in seinem Buch zu fesseln, mir andererseits jedoch auch wieder Flausen in den Kopf zu setzen denen ich dann im Internet und in Sekundärliteratur recherchierend nachgehen muss. Illies fordert viel und gibt alles. Sein Name wird erneut zum Prädikat einer erlebnisreichen Zeitreise.
Er lässt die Wilden Zwanziger Jahre enden, wie sie begannen. Mit Kopfschmerzen und Besuchen in Krankenhäusern. Wir schreiben das Jahr 1933. Kein Wunder, dass in diesem Buch drei zentrale Kapitel den elf Jahren von 1929 bis 1939 Struktur verleihen. DAVOR / 1933 / DANACH. Es klingt wie eine Ouvertüre auf den finalen Abgesang, die Menschen zu beobachten, die den sterbenden Roaring Twenties Spalier stehen. Von F. Scott Fitzgerald und seiner glamourösen Frau Zelda, bis zu Jean Paul Sartre und seiner großen Liebe Simone de Beauvoir, über jene fast unbekannte Aktrice Marlene Dietrich, bis hin zum Skandal mit Bananenschurz Josephine Baker und meiner lange vermissten literarischen Bekannten Mopsa Sternheim. Florian Illies blättert in seinem Album der verbrieften Erinnerungen, nicht immer lustigen Anekdoten, realen Gerüchte und kuriosen Episoden und erstellt eine Collage der Jahre, in denen sich der Glanz der Epoche verliert. Es ist ein Gefühl, das alles dominiert. Es ist die Liebe, der er Raum im immer größer werdenden Vakuum gibt. Leidenschaften und Affären, Beziehungen aller nur denkbaren Konstellationen verleihen diesen Jahren bis 1933 eine ekstatische und doch gleichzeitig so apokalyptische Endgültigkeit. Besonders, wenn Pablo Picasso der Frau seines Lebens mit einem Gemälde zu verstehen gibt, was für ein Monster sie ist!
Verstörende Botschaften breiten sich aus. Die einen voller Hoffnung für die Frauen in Europa: „Die Frauen brauchten die Männer nicht mehr.“ Sie finanzieren ihr Leben selbst, machen unabhängig vom ehemals starken Geschlecht Karriere, sie arbeiten und bereisen die Welt. Wenn das mal nicht nach Aufbruch klingt. In wildem Taumel lässt der Autor und Sammler großer Persönlichkeiten tiefe Einblicke zu und Muster entstehen. In jeder tiefen Leidenschaft wächst ein zweifelnder Same. Die Endlichkeit scheint um sich zu greifen und die hellwachen Intellektuellen von den Gebrüdern Mann über Bertold Brecht bis hin zu Victor Klemperer verlieren Überblick und Mut. 1933 naht. Unheilvoll und voller böser Vorzeichen ergießt sich dieses Jahr über Berlin. Beziehungen brechen zusammen, Gräben brechen auf, die Intellektuellen verlassen ihre Stadt fluchtartig vor dem aufziehenden brauen Sturm und bringen sich in Südfrankreich in Sicherheit. Oder was man in diesen Tagen so als Sicherheit bezeichnet. Illies macht den Wandel an den Menschen fest. Ihre Zerwürfnisse stehen stellvertretend für dieses Annus horribilis, in dessen Gefolge der Untergang einer ganzen Welt den Abgesang probt.
Was dann DANACH geschieht, also von 1934 bis 1939, klingt wie eine Flucht vor der Realität. Augen zu und durch, könnte man meinen. Der Reigen der Beziehungen nimmt Fahrt auf, es wird mehrfach und verzweifelt geheiratet, es wird gesündigt und genossen bis es kein Ende mehr zu geben scheint. Es ist die Zeit der exzessiven Spiele zwischen Hannah Arendt und Walter Benjamin. Als könne Schach die Welt retten und ihr Paris auf ewig konservieren. Und während wir schon wissen, wo diese Jahre enden, streben Autoren, Musen, Malerinnen und Schauspieler mit einem Tempo in den Untergang, an das man sich auch lesend kaum gewöhnen kann. Florian Illies erzählt brillant. Es sind die neuen Namen ihrer Zeit, die uns ans Licht bringen und hellhörig werden lassen. Es sind Sophie Scholl, Claus Graf von Stauffenberg mit seiner Frau, Ernst Jünger und Else Lasker Schüler, die von sich Reden machen. Uns stockt beim Lesen der Atem. Was Florian Illies hier nacherzählt, klingt wie komponiert. Was er uns ans Herz legt, ist der wache Blick auf das Jetzt. Und ja, es gibt Muster, die man zu erkennen glaubt. Hier liegt die wahre Wucht seiner Bücher. Vor dem fertigen Mosaik stehen wir selbst rastlos, weil wir spüren, dass wir auch heute noch im Besitz einiger Mosaiksteine sind. Legen wir sie mit Bedacht an die Geschichte vor unserer Geschichte an. Sonst schreibt Florian Illies über uns…
Einer Spur bin ich dem Schreiben von Florian Illies intensiv gefolgt. Es war kein leichter Weg, der großen deutschen Dichterin und Autorin Else Lasker-Schüler durch diese aberwitzigen Jahre auf der literarischen Fährte zu bleiben. Sie, die Brieffreundin und heimliche Liebe von Franz Marc, blieb 1913 im ersten Buch zurück und doch war ihr Anteil an diesem Jahr so außerordentlich, dass ich ihn nie vergaß. Erst später traf ich erneut auf sie und ihren Brieffreund mit dem Blauen Pferd. Es ist diese Chronik eines Gefühls, die mich auch im neuen Werk von Florian Illies wieder zu ihr bringt. Es macht mich betroffen, sie nun 1933 blutend in den Straßen von Berlin zu sehen. Opfer der SA, weil die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung sehr früh beginnt. Es ist nicht das letzte Mal, dass wir uns begegnen. Ich muss dem Blauen Pferd im Lenbachhaus davon berichten. Vielleicht können wir zusammen ein Tränchen vergießen. Für Else.
Von Florian Illies inspirierte Artikel in der kleinen literarischen Sternwarte:
„1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – Die Reise in ein besonderes Jahr
„1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte“ – Das Sequel
„Das Blaue Pferd“ von Franz Marc… mit anderen Augen…
„1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – Verwunschene Bilder
„1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ – In memoriam Else Lasker-Schüler
„1913- Der Sommer des Jahrhunderts geht weiter“ – Eine Hommage
Unter dem Schlagwort 1913 findet man weitere Einflüsse auf mein heutiges Lesen…

1913 – Der Sommer des Jahrhunderts von Florian Illies