[Graphic Novel] Der Traum von Olympia – Reinhard Kleist

Der Traum von Olympia von Reinhard Kleist

Der Traum von Olympia von Reinhard Kleist

Wie anfangen? Wie aufhören? Nicht einfach gerade. Auf der Leipziger Buchmesse war ich mehr als erstaunt darüber, wie viele Romane das Licht der Bücherwelt erblickt hatten, in denen es in fiktionalisierter Form um das Schicksal von Flüchtlingen geht. Ich habe für mich entschieden, dass dies viel zu früh ist, um sich dem sensiblen Thema mit frei erfundenen Protagonisten zu nähern. Allzu gegenwärtig ist das Schicksal der realen Menschen. Allzu weit würde ich in meiner persönlichen Auseinandersetzung mit diesen Romanen den Stimmen die Tür öffnen, die sagen könnten „Alles erfunden!“

Ich habe in der kleinen literarischen Sternwarte unter dem Titel Ich hatte einen Blog in Afrika eine Artikelreihe ins Leben gerufen, die mich aus der Kolonialzeit einer Tania Blixen ganz bewusst bis hin zum Schicksal von Flüchtlingen führen sollte. Ich habe verdeutlicht, mit welchen alltagsrassistisch geprägten Bildern wir diesen Kontinent noch heute sehen. Ich habe versucht klar zu verdeutlichen, dass Europa tiefe Mitschuld daran trägt, dass die von uns erschaffene Dritte Welt sich auf den Weg in ein sicheres Leben macht.

Am Ende der Serie bin ich bei Samia Yusuf Omar angelangt. Die Reportage Sag nicht, dass du Angst hast von Giuseppe Catozzella berichtet in eindringlicher Form vom Schicksal einer jungen somalischen Frau, die nur ein Ziel hat. Die Olympischen Spiele. Als Frau möchte sie für alle Frauen von Somalia laufen. Als Frau möchte sie voller Stolz die Fahne ihres Landes tragen. Aber die radikalislamistische Miliz Miliz Al Shabaab macht alle Hoffnungen zunichte. Muslimische Frauen haben nicht zu laufen. Sportkleidung ist nicht angemessen und wer sich dem widersetzt, wird bedroht. Samia bleibt nur die Flucht, um dieser Bedrohung zu entgehen und ihre Träume zu realisieren.

Der Traum von Olympia von Reinhard Kleist - AstroLibrium

Der Traum von Olympia von Reinhard Kleist

Der Fluchtweg von Samia verläuft dramatisch. Schlepperbanden, Erpressung und die entwürdigende Behandlung durch diejenigen, die mit Flüchtlingen Geld verdienen sind die wesentlichen Eckpunkte ihres Leidensweges. Offene Jeeps in der Sahara, die grausame Hilflosigkeit angesichts der absolut ausweglosen Situation und die Hoffnung, am Ende doch im Ziel anzukommen sind nur einige Facetten dieser Erlebniswelt von Samia, die uns sprachlos machen. Giuseppe Catozella hat hervorragend recherchiert und alle Quellen zurate gezogen, die das Schicksal von Samia belegen.

Sie blieb mit ihren Eltern und ihrer Schwester in Kontakt. Facebook, Skype und wenige Telefonate machten das möglich. Sie war auf das Internet angewiesen, da die Schlepper immer neue Forderungen stellten, um die jeweils nächste Etappe der Flucht bezahlen zu können. Erpressung und Todesangst gingen ständig Hand in Hand. Zuletzt bleibt Samias Bahn bei den Olympischen Spielen in London 2012 leer. Sie hat es nicht geschafft. Ihre Spur endet vor der Küste von Lampedusa. Samia Yusuf Omar ertrank bei dem Versuch, ein Schiff der Küstenwache Italiens zu erreichen.

Kein Wirtschaftsflüchtling. Keine leichtfertige Flucht. Verfolgt, bedroht und in ihrer Rolle als Frau gedemütigt blieb ihr keine andere Wahl. Repressalien gegen ihre Familie wollte sie nicht riskieren. Nur ihren Weg wollte sie gehen. Mit gerade einmal 21 Jahren bezahlte sie mit ihrem jungen Leben. Eine Geschichte, die mich sehr bewegt hat. Eine Geschichte, die wahr ist. Eine Geschichte, die keiner Fiktionalisierung oder Erhöhung bedarf.

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Der Traum von Olympia von Reinhard Kleist

Eine Geschichte, die uns nur ein Schicksal von Tausenden vor Augen führt und dabei helfen kann, unseren Blickwinkel zu verändern. In diesen Schlauchbooten sitzen zahllose Samias, die an unsere Küsten gelangen wollen. Tausende von Gründen treiben sie an. Jeder so schwerwiegend wie die Lebensgefahr, in die sie sich begeben. Samia. Mein Artikel zur Reportage „Sag nicht, dass du Angst hast“ zeigt viele Hintergründe und Fotos zu dieser Geschichte und auch ein Video von Samia habe ich eingefügt. Ich wollte so gerne, dass dieses Buch möglichst viele Menschen erreicht. Erinnern und das Vergessen verhindern. Das wollte ich.

Als ich dann auf der Leipziger Buchmesse in einem Pressegespräch bei Carlsen erneut mit Samias Geschichte konfrontiert wurde, war ich zunächst mehr als skeptisch. Eine Graphic Novel unter dem Titel Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar“. Ich wurde neugierig, ob es Reinhard Kleist gelungen ist, sich diesem sensiblen Thema in dieser literarischen Form zu nähern und gleichzeitig stellten sich mir die ersten Fragen, ob man das darf, ob man es kann, und letztlich auch, ob es Samia gerecht würde, in einem landläufig als „Comic“ bezeichneten Buch einem eher jugendlichen Publikum präsentiert zu werden. 

Skepsis ist eine sehr gesunde Ausgangshaltung, sich einem Buch zu nähern. Sie schärft die Sinne, macht vorsichtig und verleitet zu sehr aktivem Lesen und Betrachten. Allein das Cover hat diese erste Skepsis schon beseitigt. Nicht reißerisch und mehr als authentisch zeigt es die Läuferin Samia Yusuf Omar, so wie ich sie aus ihren Videos kenne. Die Tartanbahn ist ihr Weg, das Stirnband das letzte Geschenk ihres Vaters, ihr Sportdress sitzt zu labberig und ihr Blick erzählt ihre ganze Geschichte. Und erst der zweite Blick, hier der entscheidende, zeigt die schemenhaft waffenstarrenden Gestalten der Milizionäre, vor denen sie flieht. Gelungen. Mein erster Gedanke.

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Der Traum von Olympia von Reinhard Kleist

Tja, und was soll ich sagen? Erst auf Seite 59 dieser Graphic Novel gelingt es mir eine erste Pause einzulegen. Bildgewaltig und extrem überzeugend, authentisch und nah gelingt es dem zeichnenden Autor oder dem schreibenden Zeichner, Bilder in mir zu erzeugen, die ich gut zu kennen glaube. Bilder einer jungen Frau, die in Somalia versucht, ihren Weg zu gehen. Ihren Weg zu laufen – wegzulaufen. Farblos sind die Illustrationen. Voller Respekt und Einfühlungsvermögen zeigen sie, was Worte oft nicht ausdrücken können. Reinhard Kleist erzeugt ein geschlossenes Bild von Samia, indem er tausend Bilder von ihr zeichnet.

Nicht nur Jugendliche fühlen sich hier angesprochen, auch mich selbst packt diese Version des Herangehens an diesen schweren Stoff. Dabei beschränkt sich Reinhard Kleist auf das Wesentliche. Seine Illustrationen ufern nicht aus, sie verlieren Samia nie aus dem Blick und ihre Mimik greift nach der Seele ihres Betrachters. Ehrgeiz, Angst, Hoffnung und pure Verzweiflung angesichts des Unrechts in Somalia werden in Samias Augen greifbar. Die Geschichte ist komplett erzählt, nichts wirkt verkürzt. Die Schlinge der Ereignisse zieht sich spürbar um jedes einzelne Bild.

Und dann greift Reinhard Kleist zu einem literarisch gezeichneten Kunstgriff, den ich persönlich in dieser Form noch nicht erlesen habe. Er integriert das Internet in seine Illustrationen. Jenes Internet, auf das Samia so sehr angewiesen war. Wir sehen ihre Facebook-Timeline mit Einträgen, die es in dieser Form tatsächlich gab, die aber heute gelöscht sind. Kleist rekonstruiert plausibel und lebendig. Es ist als wären wir mit Samia befreundet und würden ihren Posts folgen. Und beim Lesen merken wir, wie sich das junge Mädchen verändert. Sie schreibt über ihr Training, vertraut uns ihre Gefühle an und beginnt von ihrer Flucht zu erzählen. YouTube-Videos sind gezeichneter Teil der Geschichte. Die sozialen Netzwerke hinterlassen einzigartige Bildspuren in der einzigartigen Graphic Novel.

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Meine Fragen zur Graphic Novel als literarisches Format sind jetzt beantwortet. Zumindest was Reinhard Kleist betrifft. Ja, er darf das. Ja, er kann das und ja, er muss das tun. Mit seinen kombinierten Stilmitteln erreicht er junge Menschen, denen diese Geschichte ansonsten wohl verborgen bliebe. Er animiert zur eigenen Recherche, lädt ein, seinen gezeichneten Youtube-Videos auf die Spur zu gehen und Samia zu finden. Er gibt vielen Schicksalen ein Gesicht, da es ihm in besonderer Weise gelingt, hier eine Geschichte stellvertretend für die gesichtslosen Opfer zu erzählen.

Der Traum von Olympia – Die Geschichte von Samia Yusuf Omar hat als Graphic Novel eine Wucht, die ich dieser Stilrichtung der Literatur so nicht zugetraut hätte. Ich habe die Geschichte von Samia gekannt und trotzdem war ich völlig emotionalisiert von der Art und Weise, in der Reinhard Kleist sie beendet. Das muss man gesehen, muss man selbst gelesen haben. Dieses Ende wird Samia gerecht. So, wie auch die gesamte Graphic Novel ihr gerecht wird.

Reinhard Kleist lässt einen der größten Sportler Somalias zu Wort kommen und entführt uns zum letzten Mal in ein YouTube-Video. Es zeigt Abdi Bile, der eine Rede über sein Land, seinen Sport und eine junge Frau hält, die für diesen Sport und ihre Überzeugung gestorben ist. Wir verstehen kein Wort von dem, was er sagt. Reinhard Kleist ist es zu verdanken, dass wir trotzdem alles verstehen. Jede Träne. Lest dieses Buch mit euren Kindern und werft dann einen Blick in die Schlauchboote dieser Welt. Ihr werdet einzelne Menschen darin sehen. Keine Masse. Keine Flüchtlinge.

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Miriams Geschichtenwolke hat nicht nur eine Rezension zum Buch für euch.Es ist viel mehr als das… Hier geht´s lang Und auch Anja hat in Zwiebelchens Plauderecke besondere Worte gefunden. Das Buch zieht wie auf Bestellung seine Kreise duch den Campus Libris.

Mit einem Klick zur Artikelserie „Ich hatte einen Blog in Afrika“

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Ich hatte einen Blog in Afrika – Eine Artikelserie

Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose

Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose

Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose

Eigentlich hatte ich vor, eine Rezension zum Roman Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose, erschienen bei C. Bertelsmann, zu verfassen. Eigentlich sollten 542 Seiten EINES Buches im Mittelpunkt dieses Artikels stehen und letztlich sollten diese Zeilen dazu verführen, mir nach Paris zu folgen. Das war der Plan. Eine bildgewaltige, spannungsgeladene und emotional geprägte Entführung in ein Paris, das sich dem Leser im Jahr 1924 voller Leidenschaft öffnet und ihn erst in unseren Tagen wieder am Stadtrand absetzt und ins normale Leben entlässt.

Soweit der Plan. Francine Prose hat mir jedoch einen gewaltigen Strich durch die Rechnung gemacht und so sitze ich nun hier vor ihrem Werk und habe nicht weniger als sieben Bücher zu besprechen. Ja. Sehr richtig gelesen. Genau sieben Bücher, die untrennbar miteinander verbunden sind, einen literarischen Dialog miteinander führen und in ihrer Essenz das eigentliche Kaleidoskop unter dem Titel „Die Liebenden im Chamäleon Club“ ergeben. Ein guter Einkauf. Wohl wahr. Denn mit nur einem einzigen Buch erhält man eine gebundene Matrjoschka Buch-Puppe, die in ihrem Inneren viele kleine Buch-Püppchen verbirgt.

Ich liste hier nur kurz auf, welche Bücher ich nun eigentlich rezensiere (und damit keine Missverständnisse aufkommen: Sie sind alle Bestandteil des Erstgenannten)

„Die Liebenden im Chamäleon Club“ von Francine Prose

  • „Der Teufel am Steuer – Das Leben der Lou Villars“ von Nathalie Dunois
  • „Erschaffen Sie sich neu“ von Lionel Maine
  • „Paris im Rückspiegel“ von Lionel Maine
  • „Die Memoiren der Suzanna Dunois Tsenyi“ von S. Dunois Tsenyi
  • „Die Baronin bei Nacht“ von Lily de Rossignol
  • „Der Briefwechsel des Fotografen Gabor Tsenyi“ – Gabor-Tsenyi-Archiv
Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose

Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose

Und ganz nebenbei, aber nicht nur am Rande, stelle ich einen Bildband vor, der nicht in den 542 Seiten dieses Romans beinhaltet ist, aber aus, in und zwischen den Zeilen herausstrahlt, als wäre er das eigentliche Lesezeichen dieses unvergleichlichen Buches. Brassaï – Flaneur durch Paris von Sylvie Aubenas. Ein Bildband, den ich mir unbedingt kaufen musste, um… Aber das verrate ich später… Jedenfalls stellt dieser Bildband für mich den Missing Link auf der gelungenen Gratwanderung zwischen Fiktion und Realität dar, die Francine Prose mit ihren Lesern unternimmt.

Was sich nun anhört, wie eine halbe Lebensbibliothek ist das Grundgerüst eines Romans, der auf wahren Begebenheiten und realen Personen beruht, sich in seiner Fiktionalität jedoch verselbständigt hat. Das entspricht ganz der Intention der Autorin und deshalb erreicht sie gerade durch diese gezielte Einbindung der oben aufgeführten frei erfundenen Bücher eine Meta-Ebene der Authentizität, die ihren „historischen“ Roman Die Liebenden im Chamäleon Club erst so richtig lesenswert macht. Diese Bücher sind das Grundgerüst der Fassade, an der wir mit Francine Prose klettern dürfen. Von einem Pariser Fenster zum nächsten.

Lou Villars ist dieses Paris. Lou Villars ist dieser Roman. Sie ist alles. Lou Villars ist die Verbindungslinie zwischen den Menschen und ihren Geschichten. Sie ist das Opfer das zum Täter wird und so das Leben jedes Menschen, der mit ihr in Verbindung steht, nachhaltig verändert. Lou Villars. Sportlerin. Keine Schönheit. Burschikos ist definitiv untertrieben. Sexuell orientierungslos. Auf der steten Suche nach sich selbst. Erst das aufgeschlossene Paris der 20er Jahre bietet ihr den Raum, in dem sie sich wohlfühlt.

Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose

Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose

Hier kann Lou sie selbst sein. In Männerkleidung Nachtclubs besuchen. Ein anderes Leben führen. Der Faszination der Clubs im nächtlichen Paris erliegen. Ihrer sexuellen Zuneigung zum gleichen Geschlecht erliegen. Hier lernt sie die Menschen kennen, die sie verstehen, ihr den Weg ebnen. Hier findet sie sich. Und hier wird sie gefunden. Der ungarische Fotograf Gabor Tsenyi macht sie auf einem seiner Nachtclub-Bilder an der Seite ihrer großen liebe Arlette unsterblich. Die Familie Rossignol engagiert sie als die erste Auto-Rennfahrerin Frankreichs und vertraut ihr einen der schnellsten Boliden der damaligen Zeit an. Und der Schriftsteller Lionel Maine bringt sie mit dem schillernden Nachtleben der Stadt in Kontakt.

Lou Villars wächst in ihr neues Leben. Sie verändert sich und sucht Wege, sich nicht nur wie ein Mann zu kleiden, sondern auch genauso zu leben. Sie unterzieht sich einer Brustamputation, um noch besser hinters Lenkrad zu passen und schneller Rennen zu fahren. Sie verliebt sich völlig verzweifelt, unglücklich und folgenschwer in eine kleine Tänzerin im Chamäleon Club. Sie erlebt den Ritt auf der Rasierklinge zwischen Gesetz und Freizügigkeit, dem man sich im Nachtleben pausenlos zu stellen hat. Paris hat seine Schattenseiten.

Alles hätte so weitergehen können, doch mit dem Aufzug der Nazis im Nachbarland verändert sich Frankreich. Lou Villars wird zur Leidtragenden. Sie verliert die Lizenz als Rennfahrerin, sie wird in den Nachtlokalen zum Fremdkörper. Mit ihr gemeinsam auf Fotos zu sein wird gefährlich für die Menschen, die ihr viel bedeuten. Paris wendet sich von ihr ab. Am Ende scheint sie zu sein. Bis ihr Ruf nach Deutschland dringt, sie vom Führer zu den Olympischen Spielen in Berlin eingeladen wird und allen Versuchungen erliegt, denen man nur erliegen kann. Liebe zu einer deutschen Rennfahrerin und der Hass auf all das, was Paris ihr genommen hat, machen aus Lou Villars eine gefährliche Waffe in braunen Händen.

Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose

Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose

Sie kehrt zurück. Nicht mehr in ihr Paris, sondern in die Idealvorstellung von einer anderen Stadt, nachdem sie gesäubert und gereinigt ist. Neu erfunden. Aus Asche neu konstruiert. Lou Villars spioniert nicht nur für die Nazis, sie wird nach der Besetzung der Stadt im Zweiten Weltkrieg zu einer monströsen Waffe der Gestapo und begegnet den Menschen wieder, die ihren Weg bestimmt, beeinflusst und gelenkt haben. Niemand ahnt, in welcher Funktion ihnen Lou Villars erneut begegnet. Ein altes Feuerzeug aus dem Chamäleon Club wird nun zum Folterinstrument – Lou Villars nimmt Rache.

So stellt Francine Prose eigentlich nur eine Lebensgeschichte in den Mittelpunkt ihres Romans und lässt dann in den eingewobenen Büchern all jene Menschen zu Wort kommen, die den Weg von Lou Villars gekreuzt haben. Jedes Steinchen passt zum sich entwickelnden Mosaik. Der Leser darf sich hier auf eine große Liebeserklärung an Paris freuen. Die 20er Jahre werden lebendig, Künstler und Laster skizzieren das wilde Bild einer brodelnden Metropole, die sich selbst zelebriert, bevor der Untergang droht. Und natürlich werden wir Zeugen der Vorboten des Zweiten Weltkrieges, erleben politische Veränderungen und zuletzt auch die französische Beteiligung am Holocaust.

Francine Prose gibt die Perspektiven frei. Sie lässt andere sprechen und erlaubt sich auf diese Art und Weise einen distanzierten Umgang mit den Realitäten im Roman. Aus den schwarz-weiß Fotografien von Gabor Tsenyi wächst das farbenprächtige Leben in allen Schattierungen. Und dabei basiert die reine Folge fiktionaler Erlebnisberichte auf dem Leben von Violette Morris. Sie ist die reale Vorlage für diesen Roman und im Fotografen erkennen wir den großen ungarischen Meister Brassaï. Hier holt uns die Realität ein. Hier leistet der Roman mehr, als ein Roman zu leisten vermag.

Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose

Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose

Man beginnt mit der eigenen Recherche, findet Fotos von Violette Morris, erkennt die Parallelität und stößt dann auf das Lebenswerk von Brassaï. Seine Paris-Bilder werden im Roman lebendig. Mit jedem Wort erkennt man die Szenen wieder, die er unsterblich gemacht hat. Genauso wie das legendäre Foto Lesbisches Paar im Le Monocle, 1932, das als Vorlage auch für den Romantitel diente. Niemand anderes als Violette Morris und ihre Freundin sind hier abgebildet.

Und für Leser des Romans wird es immer Lou Villars sein, die hier im Herrenanzug sitzt und den Hauch eines ganz normalen Lebens vermittelt. Eines Lebens, das sie nie führen durfte. Dieses Bild ist zugleich der melancholische Abgesang auf ihre Träume. In den wohl letzten Momenten eines Lebens, das für sie noch lebenswert erschien, bevor Frankreich auf die rasende Schussfahrt in den Untergang zusteuerte. Man findet diese Fotos auf Google. Man staunt, atmet intensiv und bewundert die grandiose Idee der Autorin, diese Impressionen so tief im Roman zu verankern.

Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose

Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose

Ich musste den Bildband „Brassaï – Flaneur durch Paris“ von Sylvie Aubenas einfach besitzen. Ihr kennt sicher dieses Gefühl eines ganz gezielten Lustkaufs. Wenn ich die Bilder betrachte, bin ich im Chamäleon Club, wenn ich das Buch lese, bin ich in den Bildern und wenn ich beides übereinander lege und meine Recherchen betrachte, bin ich wieder in der Realität angekommen, die Francine Prose zu einem Meisterwerk verdichtet hat. Ihr Spiel mit der Authentizität ihres Romans wird ganz am Ende auf die Spitze getrieben.

In einem Moment, in dem man denkt, vor weiteren Überraschungen sicher zu sein präsentiert die Autorin einen literarischen Kunstgriff, der mich sprachlos machte. Ich habe herzhaft gelacht, war bewegt und berührt, betroffen und nachdenklich, wie sie auf den letzten Seiten mit den Büchern ihres Buches spielt. Welches Spiel sie spielt? Ein meisterliches. Das kann ich versprechen. Es gelingt ihr die Brücke in die Realität zu schlagen, ohne auf ihre eigene Fantasie zu verzichten. Aber das macht sie nicht selbst. Hier erteilt sie jemandem das Wort, mit dem man sicher nicht mehr gerechnet hat. GRANDIOS….

Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose

Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose

Geneigte Leser werden im Chamäleon Club oft an Lili Elbe denken. Hier hätte sie sich wohl gefühlt. Hier wäre das sie glücklich geworden. Das Dänische Mädchen und die Geschichte von Lou Villars sollten nebeneinander im Regal des Lebens stehen.

Die Bücherkette auf AstroLibrium bringt Sie mit nur einem Klick zu den Büchern, die mit “Die Liebenden im Chamäleon Club” von Francine Prose in Verbindung stehen.

Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose - Die Bücherkette

Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose – Die Bücherkette

„Sag nicht, dass du Angst hast“ – Eine wahre Geschichte

Sag nicht, dass du Angst hast

Sag nicht, dass du Angst hast

Ich hatte einen Blog in Afrika. Unter dieser Überschrift startete vor einigen Monaten meine Lesereise in den Dunklen Kontinent, dessen Bilder noch heute vom kolonialen Wahnsinn geprägt sind, den wir Europäer im Wettstreit um die Vorherrschaft auf dem Weltmarkt verursacht haben. Der Kontrast zur romantisch verklärten Welt einer Tania Blixen oder ihrer Zeitgenossin Beryl Markham zu den Ureinwohnern von Kenia könnte schärfer nicht sein.

Eine gehörige Portion Alltagsrassismus schwingt mit, wenn wir zurückblicken und uns die Menschen vor Augen führen, um die es in den Büchern dieser beiden Frauen kaum, oder nur ganz am Rande ging. Der eigene Wohlstand, das eigene unbeschwerte Leben, Luxus und Safaris, sowie die eigenen Träume standen immer im Vordergrund. Dazu brauchte man „Personal“. Und erst wenn die Luft dünner wurde, war man geneigt, sich ein wenig für diese Menschen einzusetzen. Erst dann. Für sie:

Afrikaner. Menschen aus Eritrea, Somalia, Kenia, Simbabwe und Ghana, um nur einige Beispiele zu nennen. Menschen. deren Verarmung europäische Methode war, um einen ganzen Kontinent auszuschlachten. Menschen, die auch heute noch nicht ganz in ihrem Land zuhause sind. Geknechtet, missbraucht, versklavt und oft nur als touristische Dekoration wahrgenommen. Die Rassentrennung lässt immer noch grüßen. Mandela ist tot.

Sag nicht, dass du Angst hast

Sag nicht, dass du Angst hast

Die Dritte Welt ist schwarz. Auch heute noch. Eine Welt, in der wir unsere Kriege führten und die doch gefälligst dort bleiben soll, wo wir sie fein sauber zurückgelassen haben. Oder eben gar nicht fein sauber. Als globale Müllhalde dient sie noch immer, als Billig-Lohnland allemal und unsere solare Energie können wir auch noch dort gewinnen. Na, geht doch. Ausbeutung geht auch ohne selbst im Land zu sein. Kolonien 2.0.

Und wenn es die Menschen geschafft hatten, sich nach langen Konflikten von ihren weißen „Bwanas und Memsahibs“ zu befreien, dann traf sie auch schon die nächste Keule. Korrupteste Regierungen, Diktatoren mit unstillbarem Machthunger, fehlgeleitete Entwicklungshilfe, Naturkatastrophen oder zu guter Letzt radikal-islamistische Milizen auf dem brutalen Weg zur Festigung ihrer eigenen Absolutheitsansprüche entwickelten auf dem ganzen Kontinent einen Flächenbrand nach dem anderen.

Die Opfer? Zumeist namenlos. In den Medien nur als dunkle Masse zu erahnen. In der ewigen Todesspirale zwischen Armut und Krieg, zwischen religiöser Unterdrückung und Vertreibung gefangen. Und wenn sich genau diese Menschen dazu entschließen, ihre Heimat zu verlassen, werden sie unter der Überschrift „Wirtschaftsflüchtlinge“ genau in den Ländern gebrandmarkt, denen sie ihre Armut zu verdanken haben.

Sag nicht, dass du Angst hast

Sag nicht, dass du Angst hast

Reiche Wirtschaftsnationen, die ihren eigenen Wohlstand der Ausbeutung Afrikas zu verdanken haben, errichten hohe Mauern um ihren Reichtum. Die Geschichte treibt oft ihre eigenen Stilblüten. Von den Opfern wollen wir erst recht nichts wissen. Und vor der eigenen Haustür wollen wir sie schon gar nicht haben. Das wäre ja noch schöner. Und wenn es unbedingt sein muss, dann sollte es schon bitte das Problem derjenigen sein, die ganz nah dran wohnen. Italien, Lampedusa, Lesbos. Da ist es doch schön sicher.

Ich sehe nichts, ich höre nichts, ich sage nichts. Ein sehr gutes Mantra, solange die Flüchtlinge nicht ins eigene Land strömen. In der Masse erkennt man keine Gesichter. In den absoluten Zahlen gehen Schicksale unter und wenn diese verschwinden, ist es für Mitgefühl zu spät. Sinkende Flüchtlingsboote und ertrinkende Menschen lassen einen kalt. Solange, bis man beginnt, die Geschichten zu erzählen. Bis man diesen Menschen in die Augen schaut und ihnen zuhört. Zumindest denjenigen unter ihnen, die ihre Flucht überlebt haben.

Sag nicht, dass du Angst hast ist eine solche Geschichte. Sie ist wahr. Sie erhebt nicht den Anspruch, für alle Flüchtlinge sprechen zu wollen. Sie verallgemeinert nicht und schwimmt allein schon dadurch gegen den Strom der Pauschalisierung, der allen Flüchtlingen wie eine Welle aus Gift ins Gesicht spritzt. Giuseppe Catozzella hat eine solche Geschichte aufgearbeitet. Er hat in aller Tiefe recherchiert, Verwandte befragt und Spuren gesichtet. Er hat sich einem Mädchen genähert, das wir heute nicht mehr fragen können. Samia Yusuf Omar.

Sag nicht, dass du Angst hast

Sag nicht, dass du Angst hast

Samia kam 1991 in Somalia zur Welt. Ihr Vater war Gemüsehändler und die Familie lebte, besonders nach dem Tod des Vaters, in ärmsten Verhältnissen. Ausweglos und ohne Perspektive könnte man wohl sagen, nicht jedoch Samia, die über eine besondere Begabung verfügte. Sie konnte so schnell laufen, wie kein zweites junges Mädchen der Stadt. Genau hier sah sie ihre reale Fluchtmöglichkeit. Leichtathletin zu werden und für ihr Land zu laufen. Für die Frauen ihres Landes, denen doch so vieles nicht möglich ist.

Hartes Training, gute Freunde und Förderer ermöglichten ihr die Verwirklichung des Traums ihres Lebens. Den Start bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking. Alles schien wie ein Traum. Sie war Fahnenträgerin ihres Landes. Sie lief ihre Paradedistanz, die 200 Meter und wurde bejubelt. Allerdings nicht weil sie gewann. Sie war schneller als jemals zuvor und erreichte das Ziel doch nur weit abgeschlagen als Letzte ihres Vorlaufes. Dem Publikum war das nicht egal. Dabeisein ist alles… und dieser Kampf wurde mit Standing Ovations belohnt. (Hier das Video dieses Laufes)

Zu wenig für Samia. Sie wollte gewinnen. Sie wollte zeigen, zu was eine echte Somali in der Lage ist. Sie wollte erneut starten. 2012 – London – das war ihr Ziel. Doch das Land hatte sich sehr verändert. Laufende Frauen? Undenkbar unter dem aufziehenden Machteinfluss der radikal-islamistischen Miliz Al Shabaab. Es folgten Repressalien gegen Samia und ihre Familie. Es folgten vermummte Trainings unter der Burka. Und es wurde immer gefährlicher für eine junge Frau, die doch nur laufen wollte. Für sich selbst und ihr eigenes Land.

Sag nicht, dass du Angst hast

Sag nicht, dass du Angst hast

Es folgt die Flucht zu Verwandten nach Äthiopien. Es folgt das lange Warten, ob sie zumindest dort starten kann. London rückt näher. Sie muss zuschauen, wenn sich nicht schnell etwas tut. Ihr fehlen Papiere. Ihr fehlt alles. Verzweifelt entschließt sie sich, auf eigene Faust nach Europa zu kommen und vertraut sich Schleppern an. Samia wird zum Teil eines unendlichen Flüchtlingsstroms. Unterstützt nur noch von ihrer Familie und ihrer Schwester, die bereits in Skandinavien lebt. Als sich ihre Spur verliert, beginnt man zu recherchieren. Ihren Weg nachzuzeichnen. Einen Weg, der nicht nur ihrer ist. Es ist der Weg, den so viele Menschen nehmen, die dann völlig entkräftet an unseren Grenzen ankommen.

Giuseppe Catozzella hat diesen Weg in seinem Report „Sag nicht, dass du Angst hast“ nachgezeichnet. Man sollte hart im Nehmen sein, wenn man sich auf ihre Spur begibt. Man sollte leidensfähig sein, wenn man neben ihr auf dem offenen Jeep durch die Sahara fährt. Man sollte die Gefühle unterdrücken können, wenn man die ständigen Erpressungen der Schlepper erlebt. Und man sollte nicht zu nah am Wasser gebaut haben, wenn man vor Lampedusa ankommt. Einer Insel, die Samia niemals erreichte.

London 2012… Ihre Bahn blieb leer.

Nein. Dieses Buch ist kein Buch über alle Flüchtlinge dieser Welt. Nein. Nicht alle Flüchtlinge wollen zu Olympischen Spielen und nein, das ist nicht repräsentativ. Und es ist ja nur eine einzige Geschichte, werden einige sagen.

Verflucht nochmal JA. Es ist eine Geschichte. Es ist die Geschichte eines Traums. Es ist die Geschichte eines jungen Mädchens auf der Flucht vor religiöser Unterdrückung. Es ist nur eine von unzähligen Geschichten, die für Träume stehen. Nicht für Flucht. Sie stehen für Ziele und Möglichkeiten, die uns offen stehen. Träume zeichnen uns aus.

Ich hatte einen Blog in Afrika - AstroLibrium

Ich hatte einen Blog in Afrika – AstroLibrium – Ein Klick führt zur Lesereise

Begleitet Samia nur ein stückweit auf ihrem Weg und blickt den Menschen in den Rettungsbooten in die Augen. Sie sind nicht alle Läufer – wahrlich nicht. Aber sie sind auf der Suche nach ihren Träumen und einem Leben in Sicherheit. Und wir sollten beides nicht verwehren.

Eine zweite literarische Begegnung mit Samia machte mich erneut sprachlos.Der Traum von Olympia, eine Graphic Novel von Reinhard Kleist, Carlsen Verlag, nähert sich ihrer Geschichte auf ganz besondere Art und Weise… Hier weiterlesen.

Der Traum von Olympia von Reinhard Kleist

Der Traum von Olympia von Reinhard Kleist

Diese Rezension steht gegen jede Form der Verallgemeinerung. Sie stellt nur den Versuch dar, ebenso wie das Buch, das Augenmerk auf ein einzelnes Schicksal zu werfen. Ebenso wenig sind das Buch oder mein Artikel intellektuelle Freibriefe für Menschen, die in unserem Land Schutz suchen und die Gastfreundschaft oder Hilfsbereitschaft missbrauchen.

Differenziert möchte ich das kontroverse Thema reflektieren. Nicht vorverurteilen, nicht pauschal freisprechen. Geben wir jenen eine Chance, die es auch ehrlich mit uns meinen. Das ist die Herausforderung für die Zukunft. Das muss eine moderne Gesellschaft leisten können. Wir sind Teil dieser Zukunft.

Schaut Euch doch einfach an, wie diese Zukunft gestaltet werden kann. Yvonne hat diesem Thema auf ihrem LiteraturBlog Lesende Samtpfote ein eigenes Projekt gewidmet.

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„Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ [Neil MacGregor]

Deutschland - Erinnerungen einer Nation

Deutschland – Erinnerungen einer Nation

Ich bin zugegebenermaßen ziemlich unbedeutend. Zumindest bin ich ganz bestimmt nicht vergleichbar mit einem ganzen Land oder sogar einer Nation. Auch, wenn meine eigene Familiengeschichte untrennbar mit der Geschichte meines Vaterlandes (ja, das darf man so sagen) verknüpft ist, so bin ich doch nur ein kleines Rädchen mit eigener Wahrnehmung, persönlichen und  familiären Erinnerungen, Traditionen, Anschauungen und einer ziemlich individuellen Lebensweise.

Ich überlege mir nun, was ich davon halten würde, wenn jemand – sagen wir mal, ein britischer Museumsdirektor – mir eine Ausstellung widmen, und seinen Landsleuten anhand einiger ausgewählter Exponate aus meiner Familienhistorie versuchen würde zu erklären, was es bedeutet, ein Deutscher zu sein. Hm. Amüsanter Gedanke und mit an großer Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Fehlschlag, da man von mir sicher nicht auf ein ganzes Land schließen kann.

Aber reizvoll ist es schon, denn allein die Vorstellung, dass ein neutraler Außenseiter versuchen würde, meine Erinnerungen in einer Kollektion zugänglich zu machen und daraus abzuleiten, wie ich so denke, lässt mich zu der Überzeugung kommen, dass ich mich in dieser Ausstellung meines Lebens selbst völlig neu entdecken würde. Vielleicht würde ich über Klischees lachen, denen ich begegne. Vielleicht würde ich mich darüber wundern, was aus anderer Perspektive so interessant und charakteristisch für mich sein könnte. Vielleicht würden die Besucher und ich selbst auf diese Weise viel voneinander lernen. Aber das ist natürlich nur ein Hirngespinst im Kleinen.

Deutschland - Erinnerungen einer Nation - Astrolibrium - Meine Exponate

Deutschland – Erinnerungen einer Nation – Meine Exponate

Was aber, wenn der schottische Direktor des „British Museum“ versuchen würde, den Deutschen eine solche Ausstellung zu widmen, um seinen britischen Landsleuten sowohl unsere Lebensweise, Wertvorstellungen und Erinnerungen näher zu bringen? Was nun? Würde es ihm gelingen, mit dieser bahnbrechenden Ausstellung Klischees zu überwinden, in seiner Heimat Großbritannien mehr Verständnis für unsere historisch gewachsene sozio-politische Gesellschaft im Spiegel der Geschichte zu wecken?

Und wie würden wir uns letztlich selbst sehen, wenn wir die Museumspforten hinter uns ließen, um einen Blick auf unser kollektives Gedächtnis zu werfen? Wohl gemerkt, aus der Perspektive eines Nicht-Deutschen konzipiert für Nicht-Deutsche. Würden wir uns erkennen? Würden wir uns anders wahrnehmen oder käme uns die gesamte Idee absurd und typisch britisch vor? Könnten wir über uns selbst lachen und auch besser verstehen, warum man wegen uns geweint hat?

Wären wir hart genug im Nehmen, oder sind wir inzwischen einen Schritt weiter und könnten sogar neutral zuschauen, wie wir im Schaukasten der Geschichte als Exponat zu sehen wären? Ein immer noch abstruser Gedanke? Nein, weit gefehlt, denn diese Ausstellung hat es tatsächlich gegeben und unter dem Namen Germany – Memories of a Nation für erhebliches Aufsehen gesorgt.

Deutschland - Erinnerungen einer Nation

Deutschland – Erinnerungen einer Nation

Zeit und Raum sind bei Ausstellungen limitierende Faktoren, um ihnen selbst einen Besuch abstatten zu können. Schade? In diesem ganz speziellen Fall eigentlich nicht, denn genau diese Ausstellung kommt zu uns! Als Buch und in einer brillant adaptierten Hörbuchfassung. Verfasst von jenem Museumsdirektor, der diese großartige Idee hatte, uns allen unsere Geschichte so aufzubereiten und zur Schau zu stellen, dass wir fast selbsterklärend Auskunft über den Mythos Deutschland geben können.

Der Prachtband „Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ von Neil MacGregor, erschienen bei C.H. Beck, wiegt schwer. Und dies nicht nur, weil dieses Buch mehr ist, als nur ein Ausstellungskatalog in gebundenem Format. Es ist mehr als nur der Extrakt dessen, was im British Museum zu bestaunen war. MacGregor hat hier nachhaltig festgehalten, was aus seiner Sicht in den Brennpunkt gerückt werden muss, wenn man heute an unser Deutschland denkt.

Er hat einen lebendigen Anachronismus geschaffen, der viele Fragen aufwirft, viel Spielraum für Interpretation lässt und das Bild einer Nation zeichnet, das in seiner Tiefe und Ausgewogenheit beeindruckender nicht sein kann. Frei von bekannten Klischees und Vorurteilen nähert er sich, nähert er seine Landsleute einer Nation an, mit der man in der jüngsten Vergangenheit mehr im Krieg als im gemeinsamen Brautbett lag. (Mal ganz ungeachtet der royalen Verstrickungen in den deutschen Hochadel.)

Deutschland - Erinnerungen einer Nation

Deutschland – Erinnerungen einer Nation

So finden wir uns also wieder in einem schweren aber nicht überfrachteten Buch. Kein Geschichtsunterricht wartet hier auf uns, sondern das bunte Kaleidoskop dessen, was uns alle ausmacht. Zumindest aus britischer Perspektive. Von Kunstwerken über die Musik, von ulkigen Gartenzwergen bis hin zum Mauerfall, von der Vertreibung besiegter Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Teilung des Landes, vom Mauerfall bis zum legendären VW-Käfer. Vom Land der Dichter und Denker bis zum Holocaust. Von Weimar nach Weimar, wo man auf beide Seiten der Geschichte stößt. Vom gediegenen Meißner Porzellan bis hin zu unserer Denkmalskultur.

MacGregor liefert keine einfachen Antworten. Er zeigt auf. Regt an. Er startet eine Diskussion und beschreibt Deutschland in weichen und knallharten Tönen. Er verleitet Menschen aus anderen Ländern, sich an diesen Beispielen zu reiben und sich selbst zu hinterfragen, wie sie denn selbst mit diesen facettenreichen Themen umgehen, wo ihre kollektiven Erinnerungen zu finden sind, und wie sehr man geneigt ist, sich selbst zu belügen, wenn man in die Geschichte zurückblickt.

MacGregor bleibt im gewagten Ausstellungs-Spagat, wenn er unsere Kultur auf ein Schild der Bewunderung hebt, Dichter und Denker präsentiert und dann die Welt und uns selbst damit konfrontiert, dass eine solche Nation zum Holocaust fähig war. Er löst den Gewissenskonflikt nicht auf. Er zeigt, dass dies wohl überall geschehen kann, wenn die Geschichte den Raum lässt. Wenn ein Volk Kunst als entartet bezeichnet, wenn es Bücher und Bilder verbrennt, dann ist es bereits selbst entartet. Wer Erich Kästner und Paul Klee dem lodernden Scheiterhaufen der Leitkultur übergibt, der verbrennt zuletzt auch Menschen. Jedem das Seine. Ein ganz besonderes Kapitel dieser Ausstellung, des Buches und der Audio-Fassung. Nie wieder!

Deutschland - Erinnerungen einer Nation

Deutschland – Erinnerungen einer Nation

Er wundert sich, warum es bei uns noch Hansestädte gibt, obwohl der Staatenbund längst vergangen ist. Er schaut sich das Münchner Siegestor von beiden Seiten an und schmunzelt darüber, was dort zu lesen ist. Kein Siegestor. Eher das der Besiegten und wenn mal gesiegt wurde, dann standen die bayerischen Truppen immer auf der Seite der Franzosen. Und wieso heißt es eigentlich Freistaat? Ja, MacGregor weiß genau, wo er fündig wird. Wir lernen selbst unglaublich viel über uns und wundern uns, wie es gelingen konnte, aus unzähligen Kleinstaaten mit über 200 Währungen im Lauf der Zeit zu dem zu werden, was wir heute sind.

Und dabei wird er plastisch, greifbar und anschaulich. Nicht nur wir, auch geneigte Nicht-Deutsche erkennen auf hochwertigen Fotografien, Skizzen und Karten, was diese Nation einst zerrissen und dann wieder zusammengefügt hat. Er macht den Schrecken der Deutschen Teilung am Beispiel des Bahnhofs Friedrichsstraße deutlich und wundert sich, wie es in der Nähe von Dresden gelingen konnte, aus Porzellan kleine Wunder zu schaffen, während es in China nur für Teller und Tassen taugte.

Er zeigt in diesem hochwertigen Buch auf, was uns so vielseitig macht und gibt uns unsere eigene Vergangenheit in die Hände, schmunzelnd, ohne erhobenen Zeigefinger und doch mit allem Schrecken, den unsere Vorfahren verbreitet haben. Vieles erscheint paradox. Vieles wie gewollt und nicht gekonnt und vieles unvergleichbar schön. Stolz oder Patriotismus kommen in „Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ nicht auf. Es sind gelungene AHA-EFFEKTE, es ist das Staunen über Unbekanntes und der Blick in den Spiegel der Erinnerung, der auch uns beeindruckt. Der Fachmann staunt, der Laie wundert sich. Ein Buch, das jedem privaten Bücherregal und seinem Besitzer gut zu Gesicht steht.

Deutschland - Erinnerungen einer Nation

Deutschland – Erinnerungen einer Nation

Allerdings ist es nichts für unterwegs. Es ist einfach zu schwer. Kein S-Bahn-Buch. ABER. Auch hier findet sich ein ungewöhnlicher und guter Zugang. Das gleichnamige Hörbuch mit 11 CD´s, umfangreichem Booklet und einer Laufzeit von über 14 Stunden erweitert das Gelesene um die unerhörte Dimension der dichten Atmosphäre. Dies liegt einerseits am Sprecher Burghart Klaußner, der uns Deutschland – Erinnerungen einer Nation (Der Hörverlag) mit seiner Stimme in die Seele spricht.

Darüber hinaus ist das gesamte Hörbuch mit einer besonderen Klangfarbe unterlegt. Es trommelt, es knistert. Gewehrschüsse hallen durch den Raum, alte Radioaufnahmen werden lebendig und historische O-Töne erzeugen eine geschichtsträchtige Gänsehaut. „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten.“ Hier hat das Hörbuch eine ganz eigene Daseinsberechtigung und gehört zu den Unterhaltsamsten seiner Art.

Mein Rat: Es muss beides sein. Die Kombination aus beiden Medien bringt das British Museum nach Hause. Zurücklehnen, zuhören, lesen, Bilder auf sich wirken lassen. Das ist unsere Geschichte, an der wir täglich selbst weiterschreiben. Wenn man dann Buch und Hörbuch auf den bibliophilen Gabentisch legt, kann man sich ganz sicher sein, dem geschichtsinteressierten Leser/Hörer die ganzen Erinnerungen einer Nation quasi zu Füßen gelegt zu haben.

Ein perfektes Geschenk „Gegen das Vergessen“ ist es noch dazu.

Deutschland - Erinnerungen einer Nation - Es geht weiter...

Deutschland – Erinnerungen einer Nation – Es geht weiter…

Dieses Projekt rund um Buch und Hörbuch hat Gedankenketten in mir ausgelöst. Meine Auseinandersetzung mit der Geschichte hat mit einem Exponat begonnen, ohne das meine ganze Familiengeschichte nicht zu erklären wäre. Weihnachten 1944 – Ein Ring, der alles veränderte. Ich schrieb ausführlich darüber. Und gibt es noch offene Fragen, die tief in mir toben, denen ich aber noch keine Zeilen gewidmet habe.

Was bedeutete die Teilung meines Landes für mich? Wie habe ich den Terror der RAF als Jugendlicher erlebt? Welche Momente der Zeitgeschichte haben mein Leben nachhaltig geprägt und nicht zuletzt, was wäre ich ohne die Wiedervereinigung dieses Landes? Wen hätte ich niemals kennengelernt, was würde mir fehlen und was geistert in mir herum, wenn ich den Fortbestand der Mauer als Gedankenspiel weitergehe?

Was wäre ich ohne die entartete Kunst von einst? Wie würde „mein“ Lenbachhaus heute aussehen, wenn das Braune gesiegt hätte? Welche Bücher hätte ich nie gelesen, wenn die Scheiterhaufen noch heute loderten? Ich werde mich diesen Fragen widmen. Sehr intensiv und in aller Offenheit. Bleibt gespannt…

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Landezone der Artikelspringer im Advent 2015

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