Eshkol Nevo – Die Wahrheit ist

Eshkol Nevo - Die Wahrheit ist - AstroLibrium

Eshkol Nevo – Die Wahrheit ist

Es ist ein ungewöhnliches Literatur-Experiment, in das uns der israelische Autor Eshkol Nevo entführt. Die Wahrheit istdass wir es hier strukturell nicht mit einem Roman im eigentlichen Sinne zu tun haben. „Die Wahrheit ist„, dass aus der subjektiv-persönlichen Reflektion des Schriftstellers Handlungsfäden entstehen, die nicht nur sein Rollenverständnis in der Literatur einem wahren Stresstest unterziehen. Es ist der eher unfreiwillige Seelenstriptease eines Menschen, der sich selbst in einer Schreibblockade und Lebenskrise zugleich befindet und nach dem Fluchtpunkt sucht. „Die Wahrheit ist“ lautet das Motto seiner Auseinandersetzung mit sich selbst. Wenn schon das Schreiben nicht mehr funktioniert, wenn die Kreativität am Nullpunkt angelangt ist, kann man sich ja mit den Fragen seiner Leser und Fans auseinandersetzen. Das ist seine Hoffnung und zugleich die Überschrift zu einem Interview-Projekt, dem er sich mit Haut und Haaren verschreibt. Ohne Lügen, ohne Selbstbetrug. Einfach mal ganz ehrlich.

Es ist Eshkol Nevo selbst, der sich nun einer Reihe von Leserfragen widmet, statt einen neuen Roman zu schreiben. Was ihm normalerweise recht schnell von der Hand geht, entwickelt sich nun zu einem nicht ganz einfachen Projekt. Ließ sich die Wahrheit bisher immer bis zur Unkenntlichkeit dehnen und verzerren, so engt er seine Antworten durch die Festlegung der Rahmenbedingung „Die Wahrheit ist“ denkbar ein. Als Leser fragt man sich sofort, wie lange das gutgehen kann. Es sind nicht die Fragen der Leser von Eshkol Nevo, die uns zuerst beschäftigen. Es ist eher die Frage, ob auch wir in der Lage sein würden, ehrlich und wahrheitsgemäß auf die Fragen wildfremder Menschen zu antworten. Und so liest man in diesem außergewöhnlichen Buch die Fragen doppelt. Gespannt, wie der Autor sie beantwortet und ganz leise vor sich hinmurmelnd, eigenen Antworten auf der Spur. „Die Wahrheit ist“ wie ein Spiegel, in dem man liest.

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Eshkol Nevo – Die Wahrheit ist

Dabei ist es typisch, dass die Wahrheit seine Krise auf dem Gewissen hat. Es ist die Wahrheit gegenüber seiner Ehefrau, der er eine Affaire beichtet, die alles aus dem Lot wirft. Es ist die Wahrheit in seinen bisherigen Romanen, in denen der Schriftsteller zu politischen Problemen in Israel Stellung bezieht, die ihn zum Opfer von Zensur und Ausgrenzung macht. Es ist die Wahrheit, dass er als Ghostwriter für einen Politiker in seinem Land tätig ist, was er aber selbst inzwischen nicht mehr wahrhaben will. All dies hat ihn zu diesem Punkt gebracht. Die Ehe zerrüttet, Bücher blockiert und eine Zukunft unter Vorbehalt. Er rettet sich von einer Lüge in die nächste, verleugnet sich selbst und spürt, dass er jetzt oder nie die Reißleine zu ziehen hat.

Es ist der absolute Point-of-no-Return, als er mit der Beantwortung der Leserfragen beginnt, um den Kopf wieder frei zu bekommen. Endlich kann er sich wieder auf Dinge konzentrieren, die er dem Leben und der Karriere fast geopfert hatte. Sein sterbender Freund, die vor ihm fliehende Tochter und lange verschollene Wegbegleiter werden ihm durch die Fragen ins Bewusstsein gerufen. Und Eshkol Nevo antwortet. Er antwortet so ehrlich, glauben wir zumindest, dass er sich immer mehr befreit. Sein Blick wird scharf und er schreibt über eigene Fehler, Fehleinschätzungen und Trugschlüsse. Es ist sein emotionaler Roadtrip durchs eigene Leben, in dem er immer dachte, auf der sicheren Seite zu sein. Weit gefehlt. Das realisiert er von Frage zu Frage. Und doch spürt man, welche Fragen ihn besonders aufwühlen, welche Antworten ihn schmerzen und welche Geständnisse Eshkol Nevo elegant zu umschiffen versucht.

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Eshkol Nevo – Die Wahrheit ist

Was harmlos beginnt…

„Wie sieht ein Arbeitsalltag bei Ihnen aus?“
„Wo schreiben Sie?“
„Wie wählen Sie die Namen Ihrer Figuren aus“

Wird sukzessive komplexer und schwerer zu beantworten:

„Wie autobiografisch sind Ihre Bücher?“
„Haben Sie manchmal Angst, dass Ihnen die Ideen ausgehen?“
„Was wissen die Leute nicht über Sie?“
„Haben Sie schon einmal etwas getan, für das Sie sich noch immer schämen?“

Und endet letztlich auf einem politischen Minenfeld für israelische Autoren:

„Sind Sie für die Zwei-Staaten-Lösung?“
„Müssen Sie sich zuweilen im Ausland Kritik stellen, weil Sie Israeli sind?“
„Was haben Sie in der Armee gemacht?“

Und führt uns letztlich zu scheinbar simplen Fragen, die alle Wunden aufreißen:

„Träumen Sie von Ihren Figuren?“

Was anfänglich noch strukturiert beantwortet wird, kleidet Eshkol Nevo im weiteren Verlauf der „Leserbefragung“ in kurze Geschichten und Anekdoten. Das Schreiben, die Liebe und das ganze Leben werden zu untrennbaren Bestandteilen der Antworten. Hier zeigt sich das Dilemma, in dem sich der Autor befindet. Es geht nicht um Wahrheit. Es geht um die Wahrheiten, die ihm nun um die Ohren fliegen. In jeder Antwort steckt eine weitere Frage. Jede Antwort zwingt ihn dazu, eine Position einzunehmen, die es fortan zu verteidigen gilt. Kein Buch nach diesem Buch kann mehr so sein, wie in der Zeit vor diesen Antworten. Eshkol Nevo hat blank gezogen.

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Eshkol Nevo – Die Wahrheit ist

„Die Wahrheit ist“, dass dies ein sehr männliches Buch ist. Es reflektiert die Rolle eines Ehemannes und Vaters in selbstgewählten isolierten Rollenbildern und Träumen. Es erzählt die Geschichte des Scheiterns eines aufrechten Romantikers und Verliebten, in dem sich die Sehnsucht dieser Welt zu bündeln scheint. „Die Wahrheit ist“, dass dieses Buch ein israelisches Buch ist. Die Fallstricke sind in jeder Frage ausgelegt. Die Konflikte zwischen Palästina und Israel sind omnipräsent. Das Weltbild des Autors steht auf dem Prüfstand. Eshkol Nevo schreibt über eigene Vorurteile und Ängste vor arabischen Attentätern. Er schreibt aber auch über seine Wut, wenn er Palästinensern in seinen Büchern eine Stimme gibt, die dann der alltäglichen Zensur zum Opfer fällt.

Natürlich kann man Nevo lesen, wenn man Oz nicht kennt. Wer jedoch Amos verehrt und Eshkol nicht liest, der verpasst etwas Großes. Selbstkritischer kann ein Autor nicht mit seiner Heimat ins Gericht gehen. Liebevoller kann er sie nicht beschreiben. Er geht in den großen Schuhen eines Amos Oz durch ein zerrissenes Land, das Opfer fordert. In der Erzähltradition israelischer Intellektueller öffnet er sein Herz für uns, ohne seiner Heimat einen schlechten Dienst zu erweisen. Und doch wird klar, dass dieses Buch nur dort spielen kann, wo es gelebt wurde. In Israel. „Die Wahrheit ist, dass dieses Buch ein Buch über Liebe und ewige Sehnsucht ist. Die Wurzeln allen Schreibens liegen im Aggregatzustand des Gefühlslebens verborgen. Jeder Riss in der Liebe ist ein Riss im Leben. Kaum zu kitten. Kaum zu heilen. Und nicht durch Lügen zu beheben.

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Eshkol Nevo – Die Wahrheit ist

Die Wahrheit ist, dass ich dieses Buch ebenso sehr liebe wie Judas von Amos Oz. Es ist experimentell und doch so lesenswert, weil uns der Autor mit den Fragen nie alleine lässt. Ob seine Antworten der Wahrheit entsprechen oder einer Zwischenwelt in diesem Spiel angehören. Das bleibt sein Geheimnis. In Zeiten grassierender Fakenews und einer wahren Inflation des Wahrheitsbegriffs empfinde ich Eshkol Nevos Antworten sympathisch aufrichtig, weltgewandt und ohne jede Indoktrination. Lesen Sie das Buch und wagen Sie sich selbst an die ein oder andere Frage. Ein spannendes Experiment.

PS. Autoren mit Schreibblockade könnten hier einen Ausweg finden. Vielleicht finden sie aber auch nur Musterantworten, die in eigenen Interviews sehr gut klingen würden. Ich jedenfalls werde Eshkol Nevos Antwort auf die Frage Wann wird Ihr Buch verfilmt werden? nicht so schnell vergessen. Humoriger kann man das nicht beantworten. Sind Sie jetzt neugierig?

Israel in der Literatur auf AstroLibrium

Mehr Literatur zu Israel in der kleinen literarischen Sternwarte…. hier

„Wir sehen uns am Meer“ von Dorit Rabinyan

Wir sehen uns am Meer von Dorit Rabinyan

Wir sehen uns am Meer von Dorit Rabinyan

Kann die Liebe alle Fesseln sprengen?

Ist die Liebe in der Lage, Vorurteile und Prägung zu überwinden und kann sie alle Ressentiments beiseite fegen? Vermag sie mit ihren Gefühlen auch der härtesten aller denkbaren Proben zu widerstehen, oder findet die Zuneigung zu einem Menschen, der im eigentlichen Sinne zu historisch gewachsenen Feinden zählt, ihre Grenzen und wird zu ihrem Gegenteil: Abneigung, trotz aller Gefühle. Ist Liebe machtlos, wenn Schranken errichtet wurden, die das Terrain für Liebende zu Minenfeldern der eigenen Geschichte werden lassen?

Ein reales und literarisches Motiv, an dem schon die stärksten Protagonisten im Lauf der Geschichte verzweifelt sind. Nicht standesgemäße Verbindungen sind hier nur ein Aspekt der vielfältigen Verstrickungen. Politisch unmögliche Beziehungen liefern die frisch Verliebten schutzlos einem Umfeld aus, das statt Zärtlichkeit nur puren Hass mit sich bringt. Und religiös nicht miteinander vereinbare Verliebtheit prallt an den alten Konventionen ab, die der Liebe dogmatisch im Wege stehen. Ismaels Orangen von Claire Hajaj sei hier nur als besonders lesenswertes Beispiel genannt.

Ein Sieg der Liebe ist hier selten. Spätestens, wenn Liebende ihr warmes Liebesnest verlassen, realisieren sie, dass sie nicht alleine auf dieser Welt sind und schon beginnt das Gezerre aus den unterschiedlichsten Gründen. Hier endet jede Illusion. Herzen und Menschen brechen. Selbst, wenn das junge Glück weit von allen Konflikten dieser Welt entfernt ist und die kleine Insel der Emotion eigentlich keinen Nährboden für Hass oder Zweifel beheimatet. Man wird von der Welt eingeholt. Oder gibt es Ausnahmen?

Wir sehen uns am Meer von Dorit Rabinyan

Wir sehen uns am Meer von Dorit Rabinyan

Kann es einen Ruhepol inmitten der Wirrnisse dieser Welt geben? Einen Ort, der so facettenreich und unbefangen ist, dass die zarte Pflanze der Leidenschaft erblühen kann ohne gleich einzugehen? Vielleicht hat die israelische Autorin Dorit Rabinyan die richtige Metropole entdeckt, die für eine unmögliche Liebe zum Reservat werden kann. Ich kehre an ihrer Seite nach New York zurück. In mein Brooklyn, das für mich lesend in den letzten Jahren zur zweiten Heimat wurde.

Vielen Schicksalen bin ich dort begegnet, habe die Welt der Einwanderer erlebt, bin verzweifelten Liebenden begegnet und wurde zum Zeugen dramatischer Ereignisse, die den Big Apple zum Wahrzeichen für Standhaftigkeit machten. Dieser Erzählraum ist mir sehr vertraut. Ich bewege mich auf einem Terrain, das ich mir seit Jahren erlesen habe und fühle bereits auf den ersten Seiten des Romans Wir sehen uns am Meer, dass mein Lesen immer wieder eine Heimkehr ist. Dorit Rabinyan bringt mich nach Hause.

Die Zeit, in der wir uns in ihrem Roman durch New York lesen, ist turbulent. Ein Jahr ist vergangen, seit die Türme des World Trade Centers in Schutt und Asche gelegt wurden. Ein Jahr, in dem die Angst vor Terrorismus und die Trauer um die Opfer dieser Anschläge das öffentliche Leben dominieren. Ein Jahr ist erst vergangen. Weihnachten steht vor der Tür und ich begegne zwei Menschen, die sich durch einen puren Zufall in den Straßen von New York kennenlernen. Ein Augenblick, der ihr Leben verändert.

Wir sehen uns am Meer von Dorit Rabinyan

Wir sehen uns am Meer von Dorit Rabinyan

Ihr Name ist Liat Benjamini. Sie ist 29 Jahre alt und Fullbright-Stipendiatin in den USA. Sie ist Israelin, kommt aus Tel Aviv und genießt ihren Aufenthalt in New York. Freunde haben ihr eine Wohnung überlassen und sie verbringt ihre Zeit mit der Übersetzung von wissenschaftlichen Arbeiten aus dem Englischen ins Hebräische. Liat steht mit beiden Beinen mitten im Leben, steht mit ihrer Familie in Kontakt, hat gute jüdische Freunde in New York gefunden und freut sich auf die Zeit, die sie ihrem Stipendium verdankt.

In ihrem durchgeplanten Tagesablauf gibt es nur eine kleine Unwucht. Ein Treffen mit einem Bekannten kommt nicht zustande und statt seiner erscheint sein Freund, um Liat nicht ohne Nachricht in dem Kaffee warten zu lassen. Dieser Augenblick, der erste Eindruck, die ersten Worte des fremden jungen Mannes lösen in Liat Gefühle aus, die sie sich kaum erklären kann. Viel schöner noch. Sie macht gar nicht erst den Versuch! Sie schaut ihn nur an und lässt geschehen, was nie hätte geschehen sollen.

„Wie ihn aus dem Heute heraus beschreiben, wo anfangen? Wie den ersten Eindruck jener weit zurückliegenden Augenblicke wieder herausfiltern? Wie das vollendete, aus vielen Farbschichten bestehende Porträt zurückführen auf die flüchtige blasse Bleistiftskizze, die mein Auge einfing, als es zum ersten Mal auf ihm ruhte? Wie jetzt mit ein paar Strichen das ganze Bild mit all seinen Flächen und Furchen malen?“

Kurz gesagt, es ist wahrhaftig Liebe auf den ersten Blick!

Wir sehen uns am Meer von Dorit Rabinyan

Wir sehen uns am Meer von Dorit Rabinyan

Chilmi ist unwiderstehlich. Er ist zwei Jahre jünger als Liat, lebt schon lange in New York. Er ist zurückhaltend, wenn es gilt zurückhaltend zu sein. Er ist mutig, wenn es an der Zeit ist, mit emotionalem Wagemut zu betören. Er ist Maler und ähnelt doch selbst einem seiner Gemälde. Er ist witzig, romantisch und charmant. Sehr zögernd und scheu verlaufen die ersten Momente. Was dann folgt, ist ein Taumel der Gefühle. Als seien sie füreinander bestimmt, fließen die Worte, die zarten Berührungen, überlagern sich ihre Gedanken und aus zwei Individuen entsteht binnen weniger Stunden ein Bild, das zu vibrieren scheint.

Alles könnte so wildromantisch sein. Würden nicht tiefe Schatten das gemeinsame Bild überlagern. Denn Chilmi stammt aus Ramallah. Er ist Palästinenser und beiden ist vom ersten Augenblick völlig klar, dass ihre Gefühle keine Zukunft haben können. Nicht den Hauch einer Chance würde man einer Beziehung zwischen der Israelin und dem Araber einräumen. Zu tief sind die Gräben, zu sehr verankert die Vorbehalte zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen. Zu tiefe Wunden haben sich die Generationen ihrer Vorfahren einander zugefügt. Und all dies ohne Einsicht, dass sich jemals etwas ändern sollte oder könnte. Verbarrikadiert hinter den eigenen Mauern sind ihre Völker.

Beiden ist dies bewusst, weil sie mehr als bewusst die Schäden der gegenseitig tief angelegten Vorurteile fühlen. Und doch gelingt es ihnen fast schon spielerisch, gegen die Konflikte anzukämpfen, die sie nie persönlich ausgetragen haben. Sie flüchten sich in wilde Begierde und lassen sich in ihre Emotionen fallen. Anfänglich gelingt dies. Als jedoch die „Lieben“ zuhause zu ahnen beginnen, was im fernen Brooklyn geschieht, ist es kein Wunder, dass ein religiös-politisches Gezerre um die frisch Verliebten beginnt. Nur Liat sieht dem gelassen entgegen. Ihr Visum endet in fünf Monaten. Dann würde sie sich von Chilmi trennen und nach Israel heimkehren. Wer könnte ihr das verübeln?

Nur: Sie hat die Rechnung ohne ihre Gefühle gemacht.

Wir sehen uns am Meer von Dorit Rabinyan

Wir sehen uns am Meer von Dorit Rabinyan

Dorit Rabinyan schreibt romantisch, erotisch, politisch, mutig und stilsicher. Sie transportiert das ewig junge Romeo-und-Julia-Motiv in die Atmosphäre von Brooklyn und changiert die konkrete Bedrohung zweier verfeindeter Familien in die abstrakte und seit Generationen gewachsene Feindschaft zweier Völker. In der Hoffnungslosigkeit der Ausgangssituation liegt der Sprengstoff dieses Romans. Die Ausweglosigkeit lässt den tiefen Kampf um Normalität so kraftvoll erscheinen. Die israelische Autorin wird den hier beschriebenen Menschen gerecht, nicht Nationen, Völkern oder Religionen über die sie schreibt.

Sie lässt sich literarisch nicht vor den Karren spannen. Dieses Buch wurde von der israelischen Erziehungsministerin von der Lektüreliste der Oberstufe gestrichen. Dieses Prädikat zeigt, wie tief der gegenseitige Hass verankert ist und, dass Abweichungen von der gewollten Norm doch bitte nicht gelesen werden sollen. Es zeigt aber auch deutlich, dass dieser Roman nicht einfach gestrickt ist und die Autorin vielleicht doch in der Lage ist, in diesen wirren Zeiten den Weg zu einem Biotop der Veränderung zu weisen.

Oder wird auch Dorit Rabinyan schreibend zum Opfer aller Vorbehalte?

Amos Oz hat in „Judas“ so nachvollziehbar genau beschrieben, wo die Wurzeln dieser Feindschaft liegen. Er hat die Türen geöffnet, sich sowohl intellektuell als auch emotional von diesen Fesseln der Vergangenheit zu befreien. Über Wir sehen uns am Meer schrieb der sehr kritische Amos Oz: „Ich bin beeindruckt. Ein präziser und eleganter Liebesroman, aufs Feinste gezeichnet.“ Ich stimme ihm zu. Gebt Liat und Chilmi eine Chance, denn nur wenn wir bereit sind, diese Beziehung in unseren Herzen zu akzeptieren, werden sie die Welt verändern können.

Wir sehen uns am Meer von Dorit Rabinyan

Wir sehen uns am Meer von Dorit Rabinyan

„Der Name meines Bruders“ von Larry Tremblay

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

„Wenn Amed weinte, dann weinte auch Aziz. Wenn Aziz lachte, dann lachte auch Amed. Die Leute machten sich über sie lustig und sagten: „Später werden sie bestimmt heiraten!“

Mit diesen Zeilen empfängt uns der kanadische Schriftsteller Larry Tremblay in seinem aktuellen Roman „Der Name meines Bruders“. Ein recht schmaler Band von gerade einmal 176 Seiten, der in diesen Tagen im C.H. Beck Verlag erschienen ist. Ein Buch dessen Cover in seiner klaren Aussage neugierig macht und dessen Klappentext die Geschichte einer Familie in einem Krieg, an einem Ort ohne Namen verspricht. Eine Geschichte, die überall auf der Welt spielen könnte.

Eigentlich lag dieser Roman nicht ganz oben auf dem Stapel meiner ungelesenen Kostbarkeiten. Eigentlich hielt ich ihn nur kurz in der Hand und wagte den Blick auf die erste Seite. Und eigentlich war ich dann erst auf Seite 117 zum ersten Mal in der Lage, meinen Blick bewusst zu erheben um eine kleine Pause zu machen. Wenn ich von einer literarischen Sogwirkung berichte, dann bitte ich darum, richtig verstanden zu werden.

Wenn ich heute davon erzähle, dass ich tief in einem Roman versank, dann bitte ich darum, auch ein ganz klein wenig in dieser Buchvorstellung zu versinken. Sie ist nur der Versuch, darauf aufmerksam zu machen, welches Buch ich wohl nicht gelesen hätte, hätten nicht die ersten Worte Sätze nach sich gezogen, die wieder Kapitel nach sich zogen, die es mir unmöglich machten, das Buch aus der Hand zu legen.

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Ein Land ohne Namen. Ja, das trifft wohl zu, da im gesamten Buch der Name nicht erwähnt wird. Und doch verdichtet sich das Gefühl des Lesers für diese Region nicht nur durch die Namen seiner Protagonisten. Es verdichtet sich auch durch die vielen kleinen Hinweise, die mir persönlich schnell verdeutlicht haben, wo ich mich befinde. Ich war zurückgekehrt zu den Orangen. Ich traf auf zwei Brüder. Zwillinge. Neun Jahre alt. Amed und Aziz.

Orangen sind ihr Leben und Orangen sind der Grund dafür, warum die beiden Jungs mit ihrer Familie genau hier lebten. Im palästinensischen Grenzgebiet zu Israel. Auf dem kargen Land, das ihnen nach der Vertreibung blieb, grenzte es fast an ein Wunder, was der Vater ihres Vaters vollbracht hatte:

„Hier gab es vorher nur Wüste. Mit Gottes Hilfe hat dein Vater ein Wunder vollbracht. Er hat Orangen wachsen lassen, wo es nur Sand und Steine gab.“

L´Orangeraie – Die Orangerie, so der Originaltitel des Romans, versetzte mich zurück in das Lesegefühl von Ismaels Orangen von Claire Hajaj, deren Roman nicht nur im übertragenen Sinne neben mir Wurzeln geschlagen hat. Das kleine Orangenbäumchen wächst seit dem Lesen gedeihlich und wirft immer wieder die nachhaltige Frage auf, ob Liebe wachsen kann, wo Hass gesät wurde.

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Ich bin wieder bei den Orangen angekommen, aber im Unterschied zu Ismael muss ich diesmal keinem jungen Palästinenser folgen, der seine Heimat verlässt und sich mit seiner Familie auf die heillose Flucht begibt. Ganz im Gegenteil. Wir bleiben. Und das trotz aller Widrigkeiten, trotz allen Hasses, trotz der Angriffe und trotz der Gewaltspirale, an der beide Seiten beharrlich drehen.

Und genau damit beginnen wir auf der allerersten Seite von „Der Name meines Bruders“. Die Zwillingsbrüder graben ihre Großeltern genau an der Stelle aus den Trümmern eines Hauses aus, an der ihr Großvater das Wunder der Orangen vollbracht hatte. Eine einzige Bombe, ein einziger von vielen Angriffen von der anderen Seite der Grenze aus hatte ausgereicht, das Leben aus dem Lot zu bringen.

Für Trauer bleibt keine Zeit. Ganz im Gegenteil. Der Hass macht die Runde und von Rache wird schnell geredet. Ohne Rache würden die Toten keine Ruhe finden. Ohne Blut zu vergießen könne man nicht weiterleben. Keine Gedanken, die der Vater von Aziz und Amed hegt. Es sind die Gedanken aus dem Umfeld. Die Gelüste derer, die Macht ausüben und jeden Angriff zum Gegenangriff nutzen, obwohl es sich beim Angriff aus Sicht der anderen Seite vielleicht um einen Schlag der Vergeltung handelte. Schuld und Ursache sind relativ. Hass ist universell.

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Die Spirale dreht sich. Sie dreht sich in endlosen Bahnen und niemand kann sich dem Taumel aus purer Gewalt entziehen, möchte man nicht beim eigenen Volk als tatenloser Verräter gebrandmarkt werden. Der Druck auf die Familie der beiden Kinder wird immer größer und schließlich verlangt man vom Vater, einen der beiden Söhne auszuwählen, der nur mit einem Sprengstoffgürtel bewaffnet auf der feindlichen Seite des Gebirges zum Selbstmordattentäter und Märtyrer werden soll.

Amed oder Aziz? Aziz oder Amed? Die Perversion der Rachespirale wird in diesen beiden unschuldigen Kindern greifbar. Sie wird in den zermürbenden Gedanken ihrer Eltern fühlbar. Ein gewaltiger Gewissenskonflikt, dem sie sich stellen müssen und der die Welt der kleinen traumatisierten Familie auf eine große Probe stellt. Eine Probe, die man schon mit normalem Menschenverstand nicht bestehen kann. Doch hier kommt noch eine Ebene dazu, die an Dramatik nicht zu überbieten ist.

Aziz ist sterbenskrank, ohne es zu wissen. Nur seinen Eltern ist bewusst, dass ihr Sohn nicht mehr lange zu leben hat. Amed hingegen ist kerngesund. Wie kann man nun entscheiden, wie nur auswählen. Opfert man das Kind, dem der Tod schon deutlich ins Gesicht geschrieben steht. Opfert man den gesunden Sohn und verliert beide? Und die Frage, die über allem steht: Wäre der Selbstmord des todkranken Aziz wirklich das Opfer, nach dem man hier verlangt? Würde das von den religiösen Fanatikern akzeptiert oder würde man es als ungültig und absolut wertlos erachten, weil nur ein gesunder Selbstmörder zum Märtyrer taugt?

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Der Vater der Zwillingsbrüder trifft seine einsame Entscheidung und übergibt den Gürtel mit seiner tödlichen Fracht an einen seiner Söhne. Die Geschichte nimmt ihren Lauf. Die Spirale wird eine Umdrehung weiter in endlose Höhen geschraubt. Und doch ist alles anders als es scheint und all die Gedanken über Rache, Hass und Genugtuung werden unbedeutend in dem Moment, als der Daumen eines 9-jährigen Jungen auf den Zünder des Sprengstoffgürtels drückt.

Larry Tremblay wirft auf jeder einzelnen Seite seines Romans Fragen auf, die sehr leicht zu beantworten wären. Und doch erkennt man im ständigen Kreislauf der ewigen Manipulation und Instrumentalisierung jede Nuance des religiösen Fanatismus, der die Welt beherrscht und wie ein Taifun über die Opfer und Täter gleichermaßen tobt. Ein Roman, der uns sprachlos macht. Ein großer Roman, der tief in die eigenen Gedanken eindringt. Ein Roman, der Väter nicht mehr gut schlafen lässt, Müttern die Tränen der Hilflosigkeit in die Augen treibt und Jugendliche laut rufen lässt: „Nicht mit uns!“ Ich befürchte nur, dass man ihren Ruf nicht hören wird. Nirgendwo auf dieser Welt.

Die Romane Ismaels Orangenvon Claire Hajaj, Judasvon Amos Oz und Der Himmel über Jerusalemvon Gabriella Ambrosio bilden einen in sich geschlossenen Zyklus des Lesens zu diesem Thema. Es geht nicht um Schuldzuweisung an eine der beteiligten Parteien. Es geht auch nicht um denjenigen, der irgendwann den ersten Stein warf. Es geht darum zu verstehen, dass es enden muss. Auch Dorit Rabinyan hat in ihrem Roman Wir sehen uns am Meer den literarischen Versuch gewagt, ein Ende zu finden. Voller Liebe und umso unmöglicher…

Wir sehen uns am Meer von Dorit Rabinyan

Wir sehen uns am Meer von Dorit Rabinyan

Ein wohl niemals endenwollendes Thema…

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„Ismaels Orangen“ – Eine zarte Buchpflanze von Claire Hajaj

Ismaels Orangen von Claire Hajaj

Ismaels Orangen von Claire Hajaj

Ich bin seit einigen Wochen im Besitz eines kleinen Holzquaders. Er wirkt mehr als unscheinbar, Und doch verbirgt sich in seinem Inneren viel mehr als ein ganzes Leben. Ecken und Kanten nimmt man wahr und ebenso unveränderlich wie starr fühlt sich das Stück Holz an. Erst bei näherer Betrachtung entdeckt man eine kleine Ausfräsung an seiner Oberfläche, in der ein unscheinbares Tütchen mit Pflanzensamen und ein Pad mit Nährmitteln verborgen sind. Eine Banderole verziert das kleine Gebilde und ein Satz sticht sofort ins Auge:

„Kann Liebe wachsen, wo Hass gesät wird?“

Ich beginne sofort, die Samen einzupflanzen, sie vorsichtig zu bewässern und warte gespannt auf die ersten Zeichen von Leben. Ein ungewöhnlicher Begleiter für eine neue Lesereise steht nun neben mir und doch ist es ein mehr als reizvoller Gedanke, einem kleines Orangenbäumchen beim Wachsen zuschauen zu können, während der Roman mich mit seiner tiefen Botschaft wie einen trockenen Schwamm mit neuen Gedanken benetzt.

Ismaels Orangen“ von Claire Hajaj (Blanvalet) gleicht dem hölzernen Würfel, der meine Pflanzensamen aufgenommen hat. Ecken und Kanten weist das Buch auf und doch verspricht das atmosphärische Cover im Dialog mit der Banderole in aller Wärme eine sehnsuchtsvolle und tiefe Geschichte, in deren Mittelpunkt ein Orangenbaum zu stehen scheint. Für einen bibliophilen Menschen verspricht das Lesen dieses Romans in Verbindung mit dem Wachstum einer kleinen Pflanze ein besonderes Lesen zu werden.

Ismaels Orangen von Claire Hajaj

Ismaels Orangen von Claire Hajaj

Man hat das Gefühl, dass etwas aus dem Roman herauswächst, das man bei guter Pflege noch sehr lange als sichtbare Metapher für eine Geschichte bewahren darf. Ein kleiner grüner Lesezeichen-Sprössling rundet dieses Gefühl ab. Mir gefällt diese Idee. Sie inspiriert und ich beginne mich schon von Beginn an sehr wohl in meinem kleinen Gewächshaus des guten Lesens zu fühlen.

Und doch beginnt manches Wachstum ganz langsam und oftmals ein wenig holprig. Auch in „Ismaels Orangen“ dauert es eine Weile, bis die ersten Zeichen von Leben ihre zarten Fühler nach der Sonne ausstrecken. Es will noch kein richtiger Lesefluss aufkommen, weil gerade in der Einleitung sehr viele Begriffe aus dem Arabischen im Text verankert sind, deren Bedeutung sich im Anhang zwar erschließt. Der ansonsten flüssige und melodische Rhythmus der Erzählung gerät ins Stocken. Als sich dann auch noch hebräische Begriffe durch den Text schlängeln beginnt etwas ganz Besonderes

Als die ersten Pflänzchen ganz grün und zart neben mir zu erkennen sind, habe ich mich auch daran gewöhnt, da genau dieses ständige Hin- und Herblättern etwas in mir bewirkt hat. Ich lese aufmerksam, hinterfrage und lasse mich nicht treiben, denn sehr schnell gewinnt der Roman in jeglicher Hinsicht eine Tiefe, die angesichts des Themas zu erwarten war. In diese unglaubliche Tiefe einzudringen hat nichts mit leichtem und oberflächlichem Lesen zu tun. Gar nichts.

Ismaels Orangen von Claire Hajaj

Ismaels Orangen von Claire Hajaj

Wir befinden uns im Jaffa des Jahres 1948. Die Welt von Salim besteht aus dem wohlbehüteten Elternhaus mit einer kleinen Orangenplantage, in der er nun im Alter von sieben Jahren die ersten Früchte des Baumes ernten darf, der extra zu seiner Geburt gepflanzt wurde. Ihn interessiert absolut nicht, was es heißt Palästinenser zu sein. Ihn interessiert auch nicht, dass genau in diesem Jahr der Staat Israel gegründet wird. Ihn interessiert nur sein kleines Leben, das jedoch durch die Weltpolitik immer wieder aus den Angeln gehoben wird.

Er ahnt nicht, dass die ersten Panzer auf dem Weg nach Jaffa sind. Er ahnt noch nicht, dass seine Kindheit genau zu Beginn des größten Konflikts in der Geschichte des Nahen Ostens endet. Er spürt jedoch am eigenen Leib, was es bedeutet, in dieser Zeit als Palästinenser seine Heimat zu verlieren. Er erlebt, was es heißt, plötzlich auf der Flucht zu sein und er muss begreifen, dass sein Orangenbäumchen in immer weitere Ferne rückt. Während die ewige Gewaltspirale zwischen Israelis und Palästinensern in immer neue Dimensionen getrieben wird, schwört sich Ismael, eines Tages zu seinem Orangenbaum, und damit zu den Wurzeln seiner Familie, zurückzukehren. Ein Schwur, der nicht nur sein Leben verändern sollte.

Während die Nahost-Krise immer neue Eskalationsstufen erreicht, lernt Ismael im London der 1960er Jahre Judith kennen. Unterschiedlicher könnten zwei Lebenslinien nicht sein – unterschiedlicher können die Geschichten zweier Familien nicht verlaufen, denn während Israel für den Palästinenser Ismael zum Synonym für Vertreibung und Heimatlosigkeit wurde, hat dieses Land nur eine abstrakte Bedeutung für das jüdische Mädchen. Es ist ein Ort, an dem alle Welt verrückt geworden zu sein scheint.

Ismaels Orangen von Claire Hajaj

Ismaels Orangen von Claire Hajaj

Flucht, Vertreibung, Heimatlosigkeit und Holocaust gehören zu Judiths komplexer Familiengeschichte. Und doch fühlt sie sich in England nicht frei. Weder im Schulalltag, noch in ihrer Beziehung zu Freunden spürt sie Akzeptanz und Rückhalt. Sie fühlt sich anders, unverstanden und letztlich auch ungeliebt. All dies ändert sich, als sie Ismael begegnet und während meine kleine Pflanze neben dem Buch ausufernd zu wachsen beginnt, verlieben die beiden jungen Menschen sich unsterblich ineinander.

„Ich muss überhaupt nichts. Du bist ein Mensch, ich bin ein Mensch. Warum sollte ich dich hassen, ohne dich zu kennen?“

„Ich bin es nicht wert, gehasst zu werden“, erwiderte sie. „Ich bin nur ein Mädchen aus Sunderland, das gezwungen wurde, zum Hebräischkurs zu gehen.“

Der Kampf um ihre gemeinsame Liebe wird zur Bestimmungsgröße ihrer tiefen Leidenschaft füreinander. Und genau dieser Kampf beginnt auszuufern, erreicht das Hoheitsgebiet der beiden Familiengeschichten und führt zum einem Stellvertreterkrieg auf englischem Boden. Die Liebe siegt. Sie ist stärker als der gesäte Hass und allen Widerständen zum Trotz ist es plötzlich denkbar, dass ein Palästinenser und eine Jüdin in Liebe vereint sein können, während in ihrer Heimat die Welt in Trümmern liegt.

Alles könnte so verklärt romantisch sein. Alles könnte so leicht sein, aber da wo die reine Verantwortung füreinander endet und die gemeinsamen Kinder in ein tragfähiges Umfeld eingebettet werden müssen, brechen in der harmonischen Beziehung Fronten auf, die es zuvor nicht gab. Die eigene Geschichte beginnt übermächtig zu werden und der Schwur Ismaels lastet immer schwerer auf seinen Schultern. Israel wird für beide zum gefährlichen Trugbild und zur Gratwanderung ihrer Liebe, die Judith zu verlieren scheint:

„Wenn du für etwas kämpfen willst, dann für uns. Das ist ein Kampf, den du gewinnen kannst!“

Ismaels Orangen von Claire Hajaj

Ismaels Orangen von Claire Hajaj

Claire Hajaj weiß wovon sie schreibt, wenn sie als Tochter eines Palästinensers und einer Jüdin eine Geschichte erzählt, die von Liebe unter fast unmöglichen Vorzeichen handelt. Sie weiß wovon sie schreibt, wenn sie den täglichen Schrecken des Konflikts zwischen zwei zutiefst verfeindeten Volksgruppen beschreibt. Und ihrer Herkunft ist es zu verdanken, dass sie hier unparteiisch und unvoreingenommen schreibt. Sie ist dazu berufen, die Wahrheit eines dauerhaften Krieges aus jeder Perspektive zu beleuchten.

Ihr Grenzgang zwischen zwei Religionen, Weltbildern, Kulturen und individuellen Geschichten gleicht den weitverzweigten Ästen des kleinen Bäumchens. Sie entfernen sich immer weiter vom Stamm und vergessen die größte Gemeinsamkeit, die sie noch miteinander verbindet. Den eigentlichen Stamm und die gemeinsamen Wurzeln. Die Liebe von Ismael und Judith wird zum Höllenritt einer Vergangenheit, die beide nicht zu verantworten haben. Ihre Sehnsüchte und Verletzungen sind die Folge von Einflüssen von außen, die ein unglaubliches Gewicht haben. Der gemeinsame Baum droht unter dieser Last zu zerbrechen. Kann man seiner eigenen Geschichte entfliehen oder wann holt sie einen wieder ein? Auf diese Frage gibt Claire Hajaj beeindruckende Antworten.

Claire Hajaj gelingt mit „Ismaels Orangen“ ein melancholischer, sehnsuchtsvoller und chirurgisch präzise erzählter Roman über eine große Liebe am Rande eines Konfliktes, den niemand wirklich ernsthaft beilegen möchte. Opferbereitschaft hat seine Grenzen, Selbstaufgabe ist selten Grundlage für einen Lebensweg und die Liebe nicht immer eine Lebensversicherung. Ob die Liebe dort siegt, wo der Hass gesät wurde – dies lohnt sich zu erlesen. Mein kleines Orangenbäumchen wächst und gedeiht. Ein Bäumchen der Hoffnung. Ein wundervoller Gedanke in Grün, der hoffentlich bald Früchte trägt.

Ismaels Orangen von Claire Hajaj

Ismaels Orangen von Claire Hajaj

Auch Heike Dewald hat „Ismaels Orangen“ gepflückt und ich kann ihre Rezension nur mit dem guten Füller unterschreiben. Irve liest„. Dieser Roman geht für mich Hand in Hand mit dem großen Werk Judasvon Amos Oz, der uns ebenfalls einen tiefen Einblick in diesen immerwährenden Konflikt und seine Ursachen gewährt.

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Amos Oz und Mirjam Pressler Hand in Hand für „Judas“

Judas von Amos Oz - Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse - Übersetzung von Mirjam Pressler

Judas von Amos Oz – Nominiert – Preis der Leipziger Buchmesse – Übersetzung

Die deutsche Autorin und Übersetzerin Mirjam Pressler ist für ihre Übersetzung des Romans Judas“ von Amos Oz aus dem Hebräischen für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Es ist mir eine ganz besondere Ehre, sie als einer der Bloggerpaten der Leipziger Buchmesse mit diesem Artikel bis zur Entscheidung der Jury begleiten zu dürfen. Dieser Artikel ist ihr und dem großen israelischen Schriftsteller in besonderer Weise zugeeignet.

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Die folgende Buchvorstellung können Sie sich auch gerne anhören. Rezensionen fürs Ohr auf Literatur Radio Bayern. Folgen Sie meinen Zeilen oder meiner Stimme in dieses einzigartige Buch und lassen sich dabei von den Bildern begleiten.

Judas von Amos Oz - Mit einem Klick zur Audio-Fassung der Rezension

Judas von Amos Oz – Mit einem Klick zur Audio-Fassung der Rezension

Es hat schon etwas von „Ziemlich beste Freunde“ auf israelisch, wenn man heute versucht, dem gerade bei Suhrkamp erschienenen Roman „Judas“ von Amos Oz auf die literarische Spur zu kommen. Ein Unterstützungsloser und beziehungsgescheiterter Israeli findet nach dem unfreiwilligen Abbruch seines Studiums  Kost und Logis bei einem schrulligen alten Mann, der physisch und psychisch gebrochen zu sein scheint. Ein kleines Taschengeld soll Schmuel dafür entschädigen, wenn er seiner einzigen und wichtigen Aufgabe in der Betreuung des Greises nachkommt: Reden. Diskutieren über Gott und die Welt. Mehr verlangt die geheimnisvolle Frau nicht, die ihn engagiert.

Die Regeln sind eindeutig und klar umrissen. Ein Gesprächspartner wird gesucht für jenen Gerschom Wald, kein Pfleger. Streit und Disput sind erwünscht, das hält ihn wach und aktiv. Über nächtliche Schreie und lautes Jammern sollte er sich nicht wundern. Es ist verboten, selbst besucht zu werden und über Details der Tätigkeit im Hause Wald sei kein Sterbenswörtchen zu erwähnen. Nirgendwo. Darüber hinaus sei es ihm strikt untersagt, im Haus nach ihr zu suchen. Jener Frau, die zwar vom Alter her fast schon seine Mutter sein könnte, in ihrer zurückweisenden und doch herausfordernden Art wie ein romantisch erotischer Angelhaken in Schmuels Fleisch zu schmerzen beginnt.

Was der 25jährige Student mitbringt? Jesus. Seine unvollendete Abhandlung über den Sohn Gottes aus der Sicht des Judentums. Und warum nicht mit Gerschom Wald genau da einsteigen, wo ihn die brutale Welt einfach herausgerissen hat? Über Gott und die Welt soll er sich mit ihm unterhalten. Nichts leichter als das, denkt sich Schmuel und erhofft sich dabei mehr über den alten Mann und die Frau herauszufinden, die hier zusammen leben, ohne liiert oder miteinander verwandt zu sein. Zwei nicht sonderlich religiöse Juden gehen den großen Geheimnissen von Glauben und Politik in Jerusalem auf die Spur.

Judas von Amos Oz - Nominiert fürd en Preis der Leipziger Buchmesse - Übersetzung

Judas von Amos Oz – Nominiert – Preis der Leipziger Buchmesse – Übersetzung

Jesus also. Der Messias des Christentums aus der Perspektive des Judentums. So beginnen die Gespräche mit dem alten Mann und was mit Gott beginnt, ufert schnell aus und endet in der Welt. Gerschom und Schmuel beginnen zaghaft und steigern sich in eine tiefe theosophische Diskussion, die so nachvollziehbar, brillant und greifbar ist, dass man als außenstehender Betrachter in die Quellen der Religionen und ihrer Gemeinsamkeiten und Differenzen blicken kann.

Bis dann schließlich Gerschom Wald einen Mann ins Spiel bringt, ohne den es das Christentum mit Sicherheit nicht gäbe. Jenen Apostel Jesu`, der allein schon durch seinen Verrat zum Synonym für diesen Begriff wurde und zum „Tschernobyl“ für die Juden schlechthin mutierte. JUDAS. Ohne seinen Bruderkuss keine Kreuzigung, ohne seinen Verrat keine Auferstehung und ohne dreißig Silberlinge keine Stigmatisierung. Das gesamte Judentum wurde durch Judas Ischariot zum Gottesmörder. Ohne ihn kein Hass, keine Verfolgung, ohne ihn kein Holocaust und ohne ihn kein Staat Israel. Ein Staat, der bis an die Zähne bewaffnet gegen eine antijüdische Welt kämpft.

Das ist im Winter 1959 / 1960 nicht anders, als in den Jahren zuvor und nicht anders als in unserer heutigen Zeit. Schmuel Asch und Gerschom Wald entwickeln dabei ihr eigenes religiöses Weltbild und gelangen durch ihre geistigen Höhenflüge zu neuen Sichtweisen und tiefen Einsichten. Der Verrat als Stigma erhält ein völlig neues Antlitz und der Begriff Opfer beginnt die Gespräche zu dominieren. Bis Schmuel schmerzhaft erkennen muss, wie Gerschom und die wundervolle Frau miteinander verbunden sind.

Judas von Amos Oz - Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse - Übersetzung

Judas von Amos Oz – Nominiert – Preis der Leipziger Buchmesse – Übersetzung

Während die beiden Männer einander näher kommen, scheint es für Schmuel keinen Weg zu geben, sich der faszinierenden Atalja zu nähern. Seine Träume von ihr werden zur wilden Obsession und ihre Unnahbarkeit zum magischen Anziehungspunkt. Erst als Schmuel einen Unfall erleidet und ans Bett gefesselt ist, kommt der Moment auf den er so lange gewartet hat. Und doch merkt er sofort, dass dieser Moment mehr zerstört, als er zu vereinen in der Lage wäre.

Der israelische Opfergang ist die große Gemeinsamkeit im Leben von Gerschom und Atalja. Es ist ein gemeinsames Opfer, das sie betrauern. Ein großer Verrat, den sie nie verwinden werden. Ein Verrat an sich selbst, verursacht durch ein zerrissenes Land, eine Politik und einen Glauben, der zu all dem führt, was vielleicht niemals so war, wie es überliefert wurde. Judas.

Ein eloquenter Taumel aus Zionismus, religiösem Eifer und sexueller Obsession beginnt die Handlungsfäden in einen unaufhaltsamen Strudel zu ziehen, an dessen Ende der Leser atemlos vor geteilten Leben in einer geteilten Stadt und vor geteilten Herzen steht. Und doch hätte es ganz anders kommen können, wenn man nur die Geschichte von Judas Ischariot richtig erzählt hätte.

Judas von Amos Oz - Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse - Übersetzung

Judas von Amos Oz – Nominiert – Preis der Leipziger Buchmesse – Übersetzung

Amos Oz erzählt sie richtig. Das habe ich sofort gefühlt. Er schreibt nicht über die jüdische oder die christliche Religion. Er schreibt über Glaubensfragen, philosophiert über den gemeinsamen Ursprung und den einen Tag, an dem sich die Geschicke der Welt für immer änderten. Amos Oz bringt uns Verräter nah und erklärt ihre große Gemeinsamkeit. Die Liebe zum Verratenen. Für ihn war Judas der erste, einzige und vielleicht letzte Christ. Mit seinem Selbstmord endete alles. Niemand hatte mehr an Jesus geglaubt und niemand hatte weniger Grund ihn zu verraten.

Dass Amos Oz seine Leser am Ende dieses Romans nach Golgatha führt, ist und bleibt eins der größten Leseerlebnisse meines Lebens. Am Ende aller Diskussion und am Scheideweg der Religionen selbst in einer Menschenmenge zu stehen, die sich wegen einer Kreuzigung versammelt hat, und dabei am Rande jemanden zu erkennen, der seit diesem Tag als der größte Verräter der Menschheitsgeschichte gilt, macht diesen Roman über Gott, die Welt und die Liebe zu einem der großen Romane unserer Zeit.

„Judas“ ist ein zutiefst politischer Roman. Er ist dabei religiös, ohne zu eifern. Zeitlos und epochal. Zionistisch und doch weltoffen. Kritisch differenziert und lasziv. Und unter der Oberfläche allen Lesens ist dieser Roman so verliebt, wie ein Roman nur verliebt sein kann. Leidenschaft und obsessives Verlangen sind Triebfedern des Seins. Der Rest ist nur Geschichte, und die ist manchmal einfach nur verfälscht überliefert und macht uns zu Verrätern an der eigenen Sache.

Judas von Amos Oz - Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse - Übersetzung

Judas von Amos Oz – Nominiert – Preis der Leipziger Buchmesse – Übersetzung

Ich spreche nun wirklich kein einziges Wort Hebräisch, und trotzdem wage ich einen kleinen Exkurs, der aus meiner Sicht erklären kann, warum Mirjam Pressler zu Recht als Übersetzerin von „Judas“ für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 nominiert ist. Sie begleitet mein Lesen schon seit vielen Jahren und hat dabei unzählige Werke aus dem Zyklus Gegen das Vergessen für mich erlesbar gemacht. Sie hat mich fühlen und denken lassen, was ich niemals ohne ihre Hilfe verstanden hätte.

Und das aus einer Sprache heraus, die wohl in den letzten Jahren die größte aller denkbaren Herausforderungen für Übersetzer darstellt. Selbst Amos Oz bezeichnet seine Muttersprache als einen Vulkanausbruch mit so vielen neuen und tagesaktuellen Wortschöpfungen, wie sie sonst in keiner Sprache zu finden sind. Diese Sprache kämpft darum, nicht zur toten Sprache zu verkommen und dieser Kampf ist geprägt von einer unglaublichen Dynamik, der schrittzuhalten mehr als schwierig ist.

Wenn sich dann ein Roman auch noch mit drei Themenkreisen beschäftigt, die in sich ein solch unfassbar unterschiedliches Vokabular erfordern, um ihnen gerecht zu werden, dann ist die Übersetzung eines hebräischen Werkes mit politischen, religiösen und erotisch obsessiven Handlungsfäden eine Aufgabe für eine Übersetzerin, die sich der Dynamik der Sprache anpasst, und in sich selbst über einen Sprachschatz verfügt, der diesen komplexen Roman in unserer Sprache erzählbar macht.

Judas von Amos Oz - Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse - Übersetzung

Judas von Amos Oz – Nominiert – Preis der Leipziger Buchmesse – Übersetzung

Kein Buch wird durch den Prozess des Übersetzens und der Rückübersetzung wieder zu seinem Ausgangswerk. Jede Übersetzung lässt ein eigenständiges Werk mit einem eigenen urheberrechtlichen Anspruch entstehen. Ein Autor bringt  mit seinem Werk eine Fackel zum Leuchten, die in der Übersetzung auch für andere Kulturkreise in ihrer Strahlkraft sichtbar gehalten werden muss. Das ist hier mustergültig gelungen.

Aus einem schlechten Roman wächst in seiner Übersetzung kein Meisterwerk. Doch kann eine schlechte Transkription den besten Roman in einer anderen Sprache unlesbar machen. Bei „Judas“ sieht das anders aus. Hier gehen Amos Oz und Mirjam Pressler Hand in Hand. Einer der für mich aktuell interessantesten Romane unserer Zeit wird in all seinen Facetten aus dem hebräischen Original zu einem Leckerbissen, den ich inhaltlich, rhythmisch und sprachlich in vollen Zügen genießen kann.

Auch Mirjam Pressler hat neue Worte geschöpft. Neue Worte, die zuvor Amos Oz in seiner Sprache geschöpft hat. Dieser doppelte schöpferische Akt versetzt den Leser in ein inhaltlich geschlossenes Leseparadies, aus dem ihn kein Verrat der Welt mehr vertreiben kann. Ein Meisterwerk.

„Das Morgenlicht, das die Jerusalemer Mauern traf, wurde von diesen Mauern zurückgeworfen, weich und süß, Honiglicht, ein Licht, das Jerusalem, zwischen einem Regenfall und dem nächsten, an klaren Wintertagen streichelt.“

Judas von Amos Oz - Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse - Übersetzung

Judas von Amos Oz – Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse – Übersetzung

Unter allen Kommentatoren dieses Artikels verlose ich am Freitag um 19 Uhr ein Exemplar von „Judas“, das mir freundlicherweise von der Bloggerpaten-Jury der Leipziger Buchmesse zur Verfügung gestellt wurde…!

Warum würdest Du „Judas“ gerne lesen? Warum nur…?

UPDATE: Es ist vollbracht… Mein Patenkind hat gewonnen:

Mirjam Pressler - Preisträgerin Preis der Leipziger Buchmesse - hier zum Artikel

Mirjam Pressler – Preisträgerin Preis der Leipziger Buchmesse – hier zum Artikel

Update: 29.06.2015

Amos Oz wird mit dem Internationalen Literaturpreis 2015 des Berliner Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet. Er erhält den Preis mit seiner Übersetzerin Mirjam Pressler für den Roman „Judas“. Oz gelinge es meisterhaft, in seinem Roman die großen Fragen und Konflikte der Religions- und Zeitgeschichte im Nahen Osten zu erzählen, so die Jury am Montag. Die Auszeichnung für übersetzte Gegenwartsliteratur wird am 8. Juli in Berlin verliehen. Sie ist mit 25.000 Euro für den Autor und 10.000 Euro für den Übersetzer dotiert.

Ich gratuliere Amos Oz und Mirjam Pressler von Herzen und aktualisiere diesen Artikel gerne im Falle der Verleihung des Literatur-Nobelpreises… 😉