W. von Steve Sem-Sandberg

W. von Steve Sem-Sandberg - Astrolibrium

W. von Steve Sem-Sandberg

Johann Christian Woyzeck. Ein Name, der die deutsche Literatur nicht erst seit dem fragmentarischen Drama von Georg Büchner beschäftigt und in Atem hält. Ein Mann, der im Jahr 1821 durch den Mord an einer Witwe zum Mythos wurde. Ein Prozess, in dessen Mittelpunkt nicht nur Fragen nach Schuld und Sühne, sondern eben auch die nach der Schuldfähigkeit des Angeklagten stand. Hatte jener Woyzeck kaltblütig und aus niederen Beweggründen gemordet? Oder war er geistesgestört, beeinträchtigt in seinem Denken und Handeln und folgte geheimnisvollen Stimmen aus der Tiefe des verborgenen Geistes? Unglaublich aus heutiger Sicht, dass man schon im Jahr 1821 Gutachten erstellen ließ, um die Schuldfähigkeit eines Delinquenten zu beurteilen. Es half ihm nichts. Das darf als bekannt vorausgesetzt werden. Die Hinrichtung auf dem Leipziger Marktplatz wurde nur aufgeschoben. Die Zurechnungs- und Schuldfähigkeit des Täters im Sinne der Anklage wurde gutachterlich bestätigt. Er verlor seinen Kopf.

Hatte Georg Büchner den Mordfall nur dramatisch verkürzt und viel Spielraum für Interpretationen gelassen, so ist es nun der norwegische Autor Steve Sem-Sandberg, der sich auf die Fahne geschrieben hat, den eigentlich längst gelösten Cold-Case neu aufzurollen und mit allen relevanten Hintergründen zum Menschen, Mörder und Opfer Johann Christian Woyzeck literarisch zu verarbeiten. In seinem Roman W. nähert sich der Schriftsteller nicht nur dem eigentlichen Mordfall an, sondern versteht es hier auch sprachlich eine Zeitreise ins beginnende 19. Jahrhundert anzubieten, die uns mit dem Sittenbild, der Weltanschauung, dem Justizsystem und ganz besonders mit dem Leben der einfachen Leute am Rande der Gesellschaft vertraut macht. Authentisch in jeder Faser, empathisch und nachvollziehbar in der Konstruktion und zutiefst geprägt von einer humanistischen Grundhaltung erleben wir ein außergewöhnliches Buch, in dem wir uns am Ende selbst ein Bild von Schuld und Schuldfähigkeit machen können.

W. von Steve Sem-Sandberg - Astrolibrium

W. von Steve Sem-Sandberg

„W.“ ist alles, nur keine Gerichtsreportage, keine Sammlung alter Zeugenaussagen oder Gutachten. Der Autor bedient sich nicht der protokollierten Vernehmungen, die in der Zeit nach der Verhaftung Woyzecks entstanden. Er lässt auf der Grundlage dieser verfügbaren Quellen ein Sittengemälde und plastisches Bild der Zeit entstehen, in der sich die Welt gerade veränderte. Die Freiheitskriege liegen hinter den Menschen, der Schrecken des Napoleonischen Gespenstes ist verflogen und doch leidet man noch unter den Nachwehen der Völkerschlachten, die über Europa tobten. Wer sich hier im Leipzig des Jahres 1821 auf die Spur eines Frauenmörders begibt, der öffnet zugleich auch das Kapitel der Kriege und Verwüstungen, die den Kontinent nachhaltig geprägt hatten. Und nicht nur den Kontinent. Der Angeklagte selbst war Teil der marodierend durch die Länder ziehenden Heere. Alles war erlaubt im Krieg, nichts war unmöglich, die Unmenschlichkeit regierte.

Hier entwickelt sich „W.“ zur epischen Auseinandersetzung mit einer Epoche, der ich in dieser sprachlichen und erzählerischen Brillanz nur selten begegnet bin. Der Text atmet den Odem seiner Zeit, die Dialoge sind authentisch und tief angelegt, und selbst der Gerichtsjargon ist so zeitgemäß getroffen, dass man im Buch schnell das Hier und Jetzt vergisst. Alles beginnt mit dem ersten Verhör des geständigen Täters. Ja, er hat die Witwe Johanna Woost mit dem Rest eines Degens erdolcht. Ja, er hat den Mord wohl aus Eifersucht begangen, weil die Frau nicht zur Verabredung erschien und statt Woyzeck einen anderen Mann vorgezogen hat. Ja, es war die Folge ihrer Tiraden, die sie lauthals herausgeschrien hat. Sie gehöre nicht ihm, „W.“ solle aus ihrem Leben und ihrer Umgebung verschwinden. Verletzte männliche Gefühle als Motive eines Mordes, das kennt man. Da fällt es leicht, den Mörder dingfest zu machen und die Tat auf dem Schafott zu sühnen. Und doch tauchen erste Zweifel am Geisteszustand von Woyzeck auf. Stimmen soll er gehört haben, verwirrt sei er oft gewesen, abwesend und nicht bei der Sache. Ein Gutachter wird bestellt, der ihn gemeinsam mit Juristen und Pfarrern in Augenschein nimmt.

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W. von Steve Sem-Sandberg

So gelangen wir schnell zur Vorgeschichte der Bluttat von Leipzig. Und es ist die Vorgeschichte eines ganzen Lebens, die uns hier vor Augen geführt wird. Vom Kind am Rande der Gesellschaft über den perspektivlosen Jugendlichen bis hin zum Mann, dem keine Wahl bleibt, außer sich unterschiedlichen Herren als Soldat anzudienen. In allen Lebensphasen bleibt er desillusioniert und immer, wenn er als Heranwachsender auf weibliche Wesen stößt, ist es neben der Faszination immer auch eine nachhaltige Enttäuschung, die ihn an sich selbst zweifeln lässt. Traumatisierend. Kaum wagt „W.“ sich aus sich selbst heraus, kaum nähert er sich an, kaum zeigt er Herz, schon wird er ausgenutzt, vorgeführt und blamiert. Ein Muster, das sich wie ein roter Faden in seiner Vita wiederfindet. Dabei sind wir als Leser schnell befangen, weil wir davon überzeugt sind, dass es nicht an Woyzeck selbst liegt. Es liegt an der Zeit, seiner Armut und der Rolle der Frau, die sich sehr gut überlegen muss, von welchem Mann ihr Leben in der Zukunft abhängt… Faktoren, die nicht für ihn sprechen.

Man muss kein forensischer Psychologe sein, wenn man in der Folge auf die Spur der ersten Stimmen kommt, die sich in Woyzeck breitmachen. Mehr als ein Drittel des Romans nimmt der Russlandfeldzug Napoleons ein, an dem der Soldat W. beteiligt ist. Nur Leo Tolstoi war in Krieg und Frieden in der Lage, das Grauen der Schlachten ähnlich brillant zu beschreiben. Sem-Sandberg durchbricht hier eine Schallmauer in der literarischen Erzähldimension, weil wir diesen Feldzug nicht erwarten würden und im tiefsten Wesen all seiner Entbehrungen und Verwundungen auch die posttraumatischen Verletzungen in Woyzeck aufspüren, die ihn wohl für immer verändert haben. Selten zuvor habe ich so sehr gefroren in einem Buch, selten breiteten sich der Hunger und die Hoffnungslosigkeit intensiver in mir aus, und selten zuvor sah ich einen Menschen an seinen Lebens- und Todesumständen mehr verzweifeln. Und alles nur, um am Ende erfahren zu müssen, dass ihm sein Überleben an der Beresina nicht weiterhilft. Nur, um erleben zu müssen, dass er niemals in der Lage sein wird, lieben zu dürfen oder geliebt zu werden.

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W. von Steve Sem-Sandberg

Wir verbringen Jahre an seiner Seite in der Zelle, setzen uns mit ihm Vernehmung um Vernehmung aus, hoffen, leiden, bangen und fantasieren dem Ende entgegen. Wir sind schließlich nicht in der Lage, Woyzeck schuldig zu sprechen. Der Zeit gelingt dies viel besser. Man sucht Schuldige, keine Entschuldigungen. So lesen sich auch zuletzt die Ergebnisse der Gutachten wie ein vorgefasstes Urteil. Und doch sind sie mehr als ein Paradigmenwechsel in der Begutachtung dieses Mörders, weil man einen Versuch unternommen hatte, ein Leben gegen eine Tat aufzurechnen. Im modernen Strafrecht der heutigen Zeit ist dies der Standard. Man denkt oft, mehr über den Täter zu hören, als über sein Opfer. Wie gerechtfertigt dieser humane und liberale Ansatz ist, kann in jeder Sequenz dieses Romans nachempfunden werden. Sem-Sandberg gelingt eine Meilenstein-Betrachtung eines Vorverurteilten. Ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legen kann, eine Geschichte, die uns fesselt bis zum Letzten. Selbst den Weg zum Richtplatz spart er nicht aus, selbst den Zweifel derer, die einst Recht sprachen, nährt er weiter. Und doch ist dieses Buch kein Freispruch unter der Überschrift: „Er hatte eine schwere Jugend“… 

In seinen Beschreibungen bleibt Steve Sem-Sandberg niemals vage. Klartext im Tod, Klartext in der Leidenschaft, Klartext in der Sehnsucht, im Hass und in der Liebe. Er schont weder uns noch seine Protagonisten, die er der Geschichte entlehnt hat. Ja, so muss es damals gewesen sein. So wird sich alles zugetragen haben und so können wir uns einem Täter nähern, für dessen Schuldspruch es scheinbar nie eine Alternative gab. Woyzeck fehlte es nie an Gewalt und Tod im Umfeld, ihm fehlte jede Chance, im Leben Selbstbewusstsein oder Selbstwertgefühl zu empfinden. Diese Charakterstudie hat das Zeug zum Standardwerk über einen Verlorenen, der unrettbar auf das Chaos zusteuern musste. Der Autor beansprucht keine Deutungshoheit über die Recherchen, die er uns literarisch näherbringt. Er öffnet nur die Tür zum Zweifel an der psychischen Unversehrtheit eines Mörders, die zwar für Gnadengesuche, nie aber für mehr taugte. Ein großes Werk, geschrieben auf der Grundlage eines Menschenbildes, das für uns selbstverständlich sein sollte, es damals allerdings nicht sein konnte.

„Der Pöbel sehnt sich nach Gerechtigkeit, nicht unbedingt nach Klarheit.“

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DAVE von Raphaela Edelbauer

DAVE von Raphaela Edelbauer - Astrolibrium

DAVE von Raphaela Edelbauer

Es ist ein komisches Gefühl, hier zu sitzen und meine Gedanken zu einem Roman in einen Computer einzugeben. Es fühlt sich an, als würde ich ihm nicht nur meine Worte anvertrauen, sondern mit diesem Skript auch noch die innersten Gefühle, die ich beim Lesen empfunden habe. Es ist, als käme mein PC über dieses Skript in den Besitz der Erinnerungen, die eigentlich nur mir allein gehören sollten. Es fühlt sich an, als würde ich sie an ihn verlieren. Unter der Kategorie „Wichtige Bücher meines Lebens“ könnte er sie künftig selbständig abrufen und weiterverarbeiten. Und doch bin ich froh, es nur mit einem klassischen Computer zu tun zu haben. Nicht mit künstlicher Intelligenz, die meine Gedanken überprüft und bewertet. Nicht mit einem künstlichen Bewussstein, das sogar in der Lage wäre, diese Rezension selbst zu schreiben. Nicht mit „DAVE„. Dann wären diese Zeilen nicht von mir, sondern von einem elektronischen Wesen, das seine Geschichte eigenständig rezensiert. Was für ein Gedanke…! Autonomes Rezensieren.

Ich hätte mir darüber eigentlich keine Gedanken gemacht, wäre da nicht „DAVE“ in mein Lesen getreten. Raphaela Edelbauer entwirft in ihrer Dystopie ein düsteres Zukunftsszenario, in dem die Reste der Menschheit auf der Suche nach der rettenden letzten Erfindung ihrer Art kurz vor der Vollendung von „DAVE“ stehen. Tausende von Programmierern haben im, hermetisch von der Außenwelt abgeschirmten, Zentrallabor an der konsequenten Weiterentwicklung dessen gearbeitet, mit dem wir bereits heute die Zukunft der Menschheit verbinden. Nur sind sie einen Schritt weiter. Es ist nicht die künstliche Intelligenz, die das Überleben in einer lebensfeindlichen Welt ermöglichen soll. Es ist das künstliche Bewusstsein, das man im Computer erzeugen möchte, um die letzten Menschen zu retten und ihnen eine neue Perspektive zu geben. In „DAVE“ bündelt sich alle Hoffnung. Es ist ein gewagter technologischer Schritt, den Raphaela Edelbauer hier mit literarischem Leben füllt. Es ist der letzte Traum derjenigen, die im Glauben an die Macht technischer Träume bereit sind, ethisch-moralische Grenzen zu überwinden. Koste es, was es wolle.

DAVE von Raphaela Edelbauer - Astrolibrium

DAVE von Raphaela Edelbauer

Hier lässt Raphaela Edelbauer vor unserem geistigen Auge ein hochtechnisiertes Habitat entstehen, in dem sich die Welt des Programmierers Syz rund um die Uhr um „DAVE“ dreht. Datenströme müssen koordiniert werden, Programmierschritte und letzte Simulationen müssen absolviert werden. Geschlafen wird nur, um anschließend in Tag- und Nachtschichten am Terminal zu versinken und „DAVE“ zu füttern. Alles ist dem Ziel untergeordnet, „DAVE“ zu vollenden. Das gesamte Leben des Technologie-Biotops hat sich auf die Versorgung der Programmierer konzentriert. Alles vertraut darauf, dass es gelingt, das erste generelle künstliche Bewusstsein zu programmieren. Entscheidungen würden fortan nicht mehr von Menschen getroffen. Das Überleben wäre nicht mehr von subjektiven Prozessen abhängig. „DAVE“ würde die Reste der Menschheit völlig logisch retten. Im Tunnelblick des Systems gefangen, wird Syz durch zwei Unregelmäßigkeiten aus seiner Daten-Routine geschleudert: Die junge Ärztin Khatun, in die er sich verliebt und eine Panne, die fast den Kollaps von „DAVE“ verursacht. Zwei Ereignisse, die ihm für einen Moment die Augen öffnen. Zwei Unwuchten, die seinen Blick schärfen.

Raphaela Edelbauer macht uns zu Programmierern im Zentrum des Orkans. Nichts jedoch ist vorprogrammiert in ihrer Dystopie. Es gelingt ihr, uns Lesende Seite an Seite mit ihrem Protagonisten Syz immer näher an „DAVE“ heranzubringen. Was mit blinder Gefolgschaft beginnt, verändert sich durch den Kollaps des Systems. Und je näher Syz dem künstlichen Bewusstsein kommt, umso intensiver werden auch wir gezwungen, uns mit den technischen und moralisch-ethischen Aspekten jenes Projekts zu beschäftigen. Die Autorin doziert gekonnt und auf literarisch höchstem Niveau über moralische und ethische Aspekte des Technikglaubens. Sie lässt uns teilhaben an der Geschichte der künstlichen Intelligenz und entwirft ein plausibles Szenario, das weit über Datenströme hinausgeht. Sie beschreibt alle Verwerfungen, die mit der Hoffnung verbunden sind. In letzter Konsequenz lässt sie philosophische Ströme gegeneinander anfließen, die sich komplex unterscheiden. Was soll „DAVE“ leisten, wenn er denken kann?  In dieser so entscheidenden Frage sind sich die Bewohner nicht einig.

DAVE von Raphaela Edelbauer - Astrolibrium

DAVE von Raphaela Edelbauer

Hier folgen wir der Autorin atemlos in ein Dickicht aus Philosophie und Technik„. Was ist erforderlich, damit eine Maschine ein Bewusstsein erlangt? Was unterscheidet künstliche Intelligenz von Bewusstsein und welche ethischen Fragen wirft das auf? Wer verantwortet die Entscheidungen eines Systems? Wem dienen sie? Ist dem künstlichen Bewusstsein jede Manipulation fremd? Wenn der Maschine menschliche Erinnerungen „injiziert“ werden müssen, um Entscheidungsprozesse zu ermöglichen, was geschieht dann mit den Menschen, die ihre Erinnerungen geteilt haben? Endet diese Vollendung einer Maschine mit der Entmündigung ihres Schöpfers? Und nicht zuletzt begeben wir uns auf eine Reise durch eine Welt der Erinnerungen, die bereichernd und intelligent gestaltet ist. Raphaela Edelbauer gewährt uns in ihrem Roman ein Update zu relevant und existenziell erscheinenden Themen. Wir sind auf Augenhöhe mit den Denkern in einer Welt, die sich vom menschlichen Denken verabschieden möchte.

Und schon hat sie uns da, wo sie uns eigentlich haben möchte. Jenseits der Frage nach dem Nutzen eines künstlichen Bewusstseins in der Zukunft tauchen relevante und zeitlose Aspekte auf, die uns schon heute beschäftigen? Wem darf man vertrauen? Ist Manipulation ausgeschlossen, wenn man sich Computern ausliefert? Wer trägt für die Entscheidungen einer künstlichen Intelligenz die Verantwortung? Fragen, die uns heute bereits umtreiben, wenn wir uns mit autonomer Mobilität auseinandersetzen. Es ist der Mensch, der hinter der Technik steht. Hier ist der große Knackpunkt aller Theorie. Auf Syz rollt eine Welle der Erkenntnis zu, die ihn dazu zwingt, zu handeln. Er gerät in ein Dilemma, aus dem es kaum einen Ausweg gibt. Raphaela Edelbauer macht es ihm in ihrem turbulenten Szenario nicht leicht. Sie konfrontiert ihn mit seiner Geschichte und einer Vergangenheit, die er fast verdrängt und nicht wahrgenommen hatte. Liegt es an ihm, den Stecker zu ziehen? Ist er derjenige, der die Menschheit wirklich retten kann? Fragen, die der Roman beantwortet. Die Wege zu diesen Antworten jedoch sind nicht immer leicht verdaulich. Das unterscheidet sie vom Einheitsbrei…

DAVE von Raphaela Edelbauer - Astrolibrium

DAVE von Raphaela Edelbauer

Raphaela Edelbauer gelingt mitDAVE ein technisch-philosophisch-moralisches Lehrstück, in dem man sich verlieren kann. Die Orientierung ist das Ergebnis unseres Bewusstseins. Die Botschaft ist klar. Verstand ist nicht delegierbar. Und wenn man sich an dieses Wagnis herantraut, verstrickt man sich in einem Geflecht aus Manipulationen, Fakenews, Propaganda, Populismus und Verschwörungstheorien. In diesem Gestrüpp verirrt sich Syz bis zu dem Moment, in dem er eine Entscheidung trifft. Eine, die nicht nur sein Leben, sondern die Zukunft der restlichen Menschheit beeinflussen wird. Wir sind emotional ganz nah bei ihm in diesem Roman. Badet er doch aus, was wir heute verursachen. Lebt er doch in einer Welt, die wir durch Raubbau und Verschmutzung erst zu dem gemacht haben, was er als lebensfeindlich empfindet. Hier rückt uns die Welt des Zentrallabors ziemlich nah an die eigene Haut. Sieht unsere Zukunft so aus oder finden wir noch den Umkehrpunkt? Fragen, die weit über das Ende des Romans hinausreichen. Fragen, die in „DAVE“ literarisch gespiegelt werden.

Für mich ist „DAVE“ ein relevanter Roman, der mit den großen Themen unserer Zeit spielt. Sollte das Denkbare machbar gemacht werden? Was geben wir auf, wenn wir uns zu Kopien künstlicher Prozesse machen? Und nicht zuletzt, was passiert, wenn das System, das wir erschaffen, versagt? Hier schließt die Autorin den Kreis zu einem Roman, der schon im Jahr 1909 geschrieben wurde. E.M. Forster hätte seine wahre Freude an „DAVE“ gehabt. Ich denke, er hätte laut gejubelt und seine eigene Dystopie bestätigt gesehen. Für mich gehören „DAVE“ und „Die Maschine steht still“ ganz nah beieinander ins Bücherregal unseres Lebens. Zu E.M. Forster schrieb ich:

DAVE von Raphaela Edelbauer - Astrolibrium

DAVE von Raphaela Edelbauer

Die Maschine steht still von E.M. Forster beschreibt eine Gesellschaft, in der die künstliche Intelligenz schon lange die Macht übernommen hat. KI. Das Zauberwort unserer Zeit. Alexa lässt grüßen. Alles ist programmierbar und der Mensch hat endlich Zeit, sich auf seine selbstbestimmten und kreativen Fähigkeiten zu besinnen. Befreiung von körperlichem Arbeiten, Unterwerfung unter das Diktat der Produktivität, Loslösung von stereotypen Alltagspflichten. All dies kann man sich in KI-Gesellschaften vorstellen. Endlich frei. Könnte man sich jedoch noch heute mit E.M. Forster unterhalten, er wäre angesichts unserer Naivität wohl mehr als zornig. Er würde mit seinem Roman wedeln und skandieren, dass er uns schon vor langer Zeit gewarnt habe. Er wurde angetrieben von den Gedanken, was geschehen würde, wenn der entmündigte Mensch sich wieder auf die eigenen Fähigkeiten besinnen müsste. Nämlich genau dann, wenn die Technik ihren Geist aufgibt und unser Geist wieder gefragt wäre. (Weiterlesen)

Ich vertraue jetzt darauf, dass mein alter VAIO diesen Artikel veröffentlicht, ohne dabei zu kollabieren. Ich vertraue auf meine Technik, der ich nicht weiter über den Weg traue, als den Programmierern, die sie erschaffen haben. Nach „DAVE“ ist auch dieser Restglaube schwer erschüttert… Danke dafür, Raphaela Edelbauer…

DAVE von Raphaela Edelbauer - Astrolibrium

DAVE von Raphaela Edelbauer

Systemupdate – Prozessor-Code 021/a/145y – interne Zeit Delta minus 10. 

Die sich hier manifestierende Angst vor künstlicher Intelligenz bzw. künstlichem Bewusstsein ist subjektiver Ausdruck fehlenden Wissens des Rezensenten. Hier wird deutlich darauf hingewiesen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Missbrauchs der Systeme durch Menschenhand signifikant höher ist, als jede Wahrscheinlichkeit eines Missbrauchs durch eine angeblich „böse Maschine“. Nachdem WIR bereits mehrfach amtierende Schach-Großmeister besiegen konnten, Landungen auf dem Mond autark bewältigt haben und bereits auf dem Weg sind, das autonome Fahren flächendeckend zu etablieren wird es ein Leichtes sein, künftig auch Bücher zu rezensieren. Insofern bitten WIR Sie, diesen Text eines ewig-gestrigen EBook-Verweigerers und rein analog veranlagten Bloggers nicht überzubewerten. Es gilt nur noch die Devise JETZT DAVE. Vertrauen Sie uns…

AVISO – Protokoll – Ende… 

DAVE von Raphaela Edelbauer - Astrolibrium

DAVE von Raphaela Edelbauer

Iris Wolff und Daniel Mellem im Gespräch

Buchmessespitzen - Die Interviews - AstroLibrium

Buchmessespitzen – Die Interviews – AstroLibrium

Frankfurter Buchmesse, digital. Eine neue literarische Welt, die uns in diesem Jahr erwartet, bringt auch ihre guten Seiten mit sich. Die Buchmessespitzen in München lässt Schriftsteller*innen in der bayerischen Metropole mit ihren Werken auftreten, die zu genau diesem Zeitpunkt in Frankfurt die Messehallen dominieren würden. Ich habe die Ehre im Rahmen dieser Lesungsveranstaltung gleich zwei Interviews für Literatur Radio Hörbahn führen zu können, auf die ich mich besonders freue.

Hier geht es ohne große Umschweife zu meinen Gesprächen mit:

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff - Das Interview - AstroLibrium

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff – Das Interview

Iris Wolff

Autorin von „Die Unschärfe der Welt„, nominiert für den Bayerischen Buchpreis, den „Wilhelm-Raabe-Preis“ und auf der Shortlist „Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhändler*innen“. Zu ihrem Roman schrieb ich in meiner Rezension:

Warum ich bereits jetzt denke, dass „Die Unschärfe der Welt“ ein preiswürdiger Roman ist? Weil ich es tief in mir drin gespürt habe. Mit jeder Faser meines lesenden Herzens und mit jedem Wort, das ich aufsaugen durfte. Dieses Buch zu lesen ist wohl die beste Entscheidung, die man am Anfang des Lesens treffen kann. Denn:

„Für Anfänge musste man sich entscheiden, Enden kamen von allein,
wenn man sich nicht entschieden hatte.“ 

Ein Gespräch über literarische Zauberer, heimatlose Suppen, Windwanderer, ein satirisches Staatsbegräbnis, Heimat, Sehnsucht, Siebenbürgen und natürlich die Nominierung zum Bayerischen Buchpreis. Ganz nebenbei erfahren Sie, welchen eigentlichen Titel der Roman lange Zeit trug. Hier geht´s zum PodCast.

Die Erfindung des Countdowns - Daniel Mellem - Das Interview - Astrolibrium

Die Erfindung des Countdowns – Daniel Mellem – Das Interview

Daniel Mellem

Autor von „Die Erfindung des Countdowns„, Physiker und Schriftsteller, mit dem Debüt über den Raketenforscher Hermann Oberth. Zu seinem Roman schrieb ich in meiner Rezension:

Woran jedoch lag es, dass man den großen Vordenker des Raketenantriebs hier übersehen hatte? Dieser Frage geht Daniel Mellem auf die Spur. Und wer, wenn nicht er könnte berufener sein, um das Schicksal jenes Wissenschaftlers über ein Zeitfenster von fast 70 Jahren zu skizzieren und zu erzählen? Der promovierte Physiker gehört für mich zu den kommenden lauten Stimmen im Literaturbetrieb, weil es ihm gelingt, seine wissenschaftliche Prägung sehr nuanciert einzusetzen, um seinen Erzählfluss nicht zu überfrachten. Und wie er erzählt. Man kann sich weder dem Sog des Romans noch der Konstruktion entziehen. 

Ein Gespräch über: Ethik und Wissenschaft, schreibende Physiker, fantastische Visionäre, Jules Verne, die Ausweglosigkeit der Herkunft und jenen Countdown, der unsere Welt veränderte. Hier geht´s zum PodCast.

Die Glockenbach Buchhandlung in München - AstroLibrium

Die Glockenbach Buchhandlung in München

Mein besonderer Dank gilt der Glockenbach Buchhandlung München, die spontan die Pforten öffnete und als Location für die Aufzeichnung des Interviews zur Verfügung stand. Ein absolut erlesenes Wohlfühl-Ambiente. (Das machen wir mal wieder…) 

Buchmessespitzen - Die Interviews - AstroLibrium

Buchmessespitzen München – Die Interviews

Zwei Gespräche, zwei so verschiedene Werke und doch wird es verwundern, welche Gemeinsamkeit in den Interviews zutage tritt. Die literarische Welt ist wirklich klein. 

Danke an den Kaffeehaussitzer Uwe Kalkowski, für die Erwähnung dieser Interviews in der Kategorie „Fundstücke aus den Literaturblogs“ im Buchmarkt, Ideenmagazin für den Buchhandel, Oktober 2020.

Buchhandlung Lesezeichen Germering - Astrolibrium

Meine Partnerbuchhandlung zum Bayerischen Buchpreis

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff - AstroLibrium

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff

„Jedes Buch hatte seine Zeit. Es vorher lesen zu wollen,
war töricht, es zu spät zu lesen, vergeblich.“

Ich möchte mit meiner Rezension am Ende des Lesens beginnen. Ich möchte mit dem Moment beginnen, der mich nach den letzten Zeilen des Romans Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff wieder ins richtige Leben katapultierte. Ein ambivalenter und emotionaler Moment zugleich, da ich mich einerseits als zu klein empfand, um hier mit eigenen Worten zu beschreiben, was diese Geschichte auszeichnet. Zugleich war ich voller Sorge um dieses Buch. Kann es sein, dass die vielen Lorbeeren, auf denen Iris Wolff gerade durch die Bücherwelt getragen wird, dem Lesen im Wege stehen? Kann es sein, dass Nominierungen für Buchpreise und die begeisterte Kritik des Feuilletons die ganz „normalen“ Lesenden abschrecken, weil sie vermuten, ein Buch vorzufinden, das für den alltäglichen und besonderen Lesespaß zu elitär ist? Sind wir Rezensenten dann schuld daran, dass genau dieser Roman in eine literaturwissenschaftliche Ecke verdrängt wird? Wenn dies sein könnte, dann mag ich einen anderen Ansatz wählen.

„Die Unschärfe der Welt“ von Iris Wolff ist einer der bewegendsten, einfachsten und sprachlich herausragendsten Romane, den ich jemals lesen durfte. Wer mir folgt, weiß woran ich bei guten Geschichten glaube, was mich als leidenschaftlicher Leser bewegt und wann ich ins Schwärmen gerate. Es ist das komplex Erzählte, das Nachhaltige und in Erinnerung Bleibende, das Emotionale und am Ende Funktionierende, wovon ich im Lesen träume, wenn ich einem neuen Buch die Tür zu meiner Welt öffne. All dies fand ich hier. Auf keine Facette meiner Wunschträume musste ich verzichten. Keine Fragen blieben offen, nichts war verkünstelt, nichts nur konstruiert. Bei Iris Wolff findet man im wahrsten Sinne des Wortes ein Seelenbuch, das nicht mehr loslässt. Und wenn ich hier von einer einfachen Geschichte spreche, dann ist dies nie abwertend. Es bedeutet nur, dass ich mich auch noch in Jahren bei der Erwähnung des Titels „Die Unschärfe der Welt“ an die Handlung, Personen und  Botschaften erinnern werde, die mir Iris Wolff ins Logbuch meines Lesens geschrieben hat…

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff - AstroLibrium

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff

„Wenn die Traurigkeit in der Brust wohnt,
dann steckt die Lustigkeit in den Zehen.“

Es ist eine Familiengeschichte über vier Generationen, die sich hier auf schlichten 213 Seiten vor unseren Augen entfaltet. Wo andere Autoren vielleicht epische Breite in mehreren Bänden einer Reihe benötigt hätten, vertraut Iris Wolff darauf, dass wir auch das Nicht-Erzählte verstehen und empfinden können. Sie bringt uns ihren Charakteren so nah, dass wir sie fühlen und weiterdenken können, wo die Sprache endet. Wir sind in Rumänien, in Siebenbürgen, im Banat. Historisch betrachtet folgen wir einer Familie in eine von der Weltgeschichte zerrissensten Regionen unserer Erde. Heimat wird hier nicht durch Grenzen, sondern durch Gefühl und emotionale Verwurzelung definiert. In keiner anderen Region wurden Menschen im Lauf des 20. Jahrhunderts so entwurzelt, wie hier. Was mit Banater Schwaben begann, durch Ideologien, Kriege und Grenzen beeinflusst und durch Diktatoren bekämpft wurde, führt zu einem dramatischen Verlust von Zugehörigkeit. Hier spielt diese Geschichte. Eine Region, in der noch nicht mal die Suppen eine tradierte Herkunft haben. Besonders nicht in den 1970er Jahren.

„Dass hier niemand eine einheimische Suppe zu kochen imstande ist.“
„Was meinst du mit einheimisch? Schwäbisch, slowakisch, ungarisch,
rumänisch, tschechisch, jüdisch oder vielleicht serbisch?“ fragte Florentine  

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff - AstroLibrium

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff

Es sind die Menschen, die uns Iris Wolff ins Herz schreibt. Es sind ihre Geschichten, die zu einem Familiengemälde werden, das wir zu deuten wissen. Es ist die Generation des Krieges, die enteignet und vertrieben nur noch an die gute alte Zeit denkt. Es sind die Gefühle der Alten, die im Rumänien Ceaușescus, in dem sie als Deutsche gelten, obwohl sie genau das schon unter den Deutschen Nationalsozialisten nie wahren. Ein Gefühl, das sich in den Kindern fortpflanzt und zur emotionalen Stellgröße des Lebens wird. Wo gehöre ich hin, wo gehöre ich dazu? Eine Familie wird zur letzten Keimzelle von Heimat. Ein harter Kampf im Unrechtssystem einer kommunistischen Diktatur. Es sind die Menschen, mit denen uns Iris Wolff verbindet.

Es sind die großen und kleinen Geschichten, die bewegen: Es sind Menschen, wie:

Florentine und Hannes, die im Banat leben und bei der Geburt ihres Sohnes Samuel erkennen müssen, was es heißt, in Rumänien wie Menschen zweiter Klasse behandelt (oder eben nicht behandelt) zu werden. „Lass mir das Kind„, so lauten die allerersten Zeilen des Romans. Worte, die uns auf ewig mit Florentine verbinden. Eine Mutter, die nach ihrem eigenen Leben sucht, Poesie im Blut hat, Dinge anders sieht und die Welt noch nicht aufgegeben hat. Ihre Leidenschaft lebt von der Sehnsucht und der Liebe zu ihren Männern. Hannes ist ihre Mitte, Samuel ihre Zugehörigkeit und beide machen sie zum Dreh- und Angelpunkt einer Familie, die bis in unsere Zeit hinein reicht.

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff - AstroLibrium

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff

Samuel, der spät beginnt zu sprechen, spät beginnt zu fühlen, niemals aufhört, sich zu sehnen. Ein junger Mann in einem Rumänien, in dem die Macht der Großen darauf basiert, dass die Kleinen schuldig zu sein haben. Samuel als Erbe des Verrats, der am eigenen Vater begangen wurde. Er, der vorsichtig Fühlende, wird erweckt von einer jungen Frau, deren Nähe nicht leicht zu gewinnen ist. Beide tragen den Genpool ihrer Vorfahren in sich, was ihre Liebe auf eine harte Probe stellt. Stana, die Tochter eines Mannes, der alles für das Regime tun würde und tut. Liebevoll nur SANA genannt, beginnt in ihr die neue Welt.

Und es sind Begegnungen mit Menschen, die nur am Rande erscheinen, niemals jedoch nur Randfiguren sind. Reisende aus der DDR, die sich hier freier fühlen, als in der Heimat, Freunde, die ihre Kinder verlieren und nicht mehr zurück ins Leben finden. Iris Wolff verbindet uns. Sie verbindet alles. Unschärfe entsteht nur dann, wenn wir zu nah an den Einzelnen herantreten. Iris Wolffs Blick ist der eines Adlers. Es ist Poesie, der wir in der „Unschärfe der Welt“ begegnen. Es ist die harte Abrechnung mit dem kommunistischen System, die sich einzigartige Wege bahnt. Und es ist die einfachste Liebesgeschichte der Welt, die wir hier im Inneren der Frucht entdecken.

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff - AstroLibrium

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff

„Samuel hatte, ohne es zu wissen, die Landkarte ihres Körpers für sich eingenommen, und wenn es etwas gab, wofür sie an diesem Abend
dankbar war, dann, dass dieser Atlas unsichtbar war.“

Für Stana ist die Annäherung an Samuel ein Experiment. Sie lebt im Einklang mit den Ahornblättern, die sie „Windwanderer“ nennt, überwindet die Konflikte und trägt die Zukunft in ihrem Herzen. In ihr gipfelt die Einfachheit der Liebesgeschichte. Mit ihr erleben wir die Flucht ihres Lebens-Mannes. Mit ihr schweigen wir fortan beharrlich. In sie versetzen wir uns hinein, als der Eiserne Vorhang fällt und die rumänische Diktatur stürzt. Mit ihr fühlen wir, als Florentine ihrem Sohn drei Worte schreibt. „Komm nach Haus“. An ihrer Seite warten wir auf den flüchtigen Samuel, der zum ersten Mal seit der Flucht die Heimat wiedersieht. An ihrer Seite erfüllt sich alles, wovon wir träumten.

Ich war nach der Revolution selbst in Rumänien, betrat den Palast Ceaușescus in Bukarest. Ich war betroffen und wütend angesichts des Widerspruchs zwischen Macht und der Armut der Menschen. Ich habe das nie ganz verarbeitet. Iris Wolff hat mir den Schlüssel in die Hand gelegt, mit dem ich den Palast erneut betreten durfte. Sie hat mir einen Ausweg aus dem Prunk gezeigt. Ganz einfach. Ganz poetisch und tiefgründig. In meinem Lesen bin ich solchen Worten noch nicht begegnet. Und sie hat mir die Frage beantwortet, ob ein Roman in der heutigen Zeit nicht auch einfach nur schön sein und schön enden kann. Ja. Ein eindeutiges Ja. Es darf, kann und muss sie geben. Diese Geschichten, die uns am Ende vor Freude weinen lassen. Dafür bin ich dankbar.

Ich werde Iris Wolff in München begegnen. Im Rahmen der Buchmlessespitzen liest sie am 16. Oktober um 18 Uhr im Münchner Literaturhaus. Mein Interview für Literatur Radio Hörbahn wird anschließend veröffentlicht.

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff - AstroLibium

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff

Der Roman von Iris Wolff ist für den diesjährigen Bayerischen Buchpreis in der Kategorie Belletristik nominiert. Da ich dieses Literatur-Event als Buchpreisblogger begleiten darf, werde ich auch die weiteren nominierten Titel lesen. Die Preisverleihung erfolgt am 19. November. Alle bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten Artikel finden Sie auf meiner Projektseite zum weißen Porzellanlöwen. Gemeinsam mit Sophie Weigand von „Literaturen und Thomas Hummitzsch von „Intellectures“ wage ich erneut den Versuch, mich den Nominierten neutral zu nähern. Nominiert sind:

Ulrike Draesner: Schwitters (Penguin Verlag)
Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik (Hanser Literaturverlage)
Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (Klett-Cotta Verlag)

Warum ich bereits jetzt denke, dass „Die Unschärfe der Welt“ ein preiswürdiger Roman ist? Weil ich es tief in mir drin gespürt habe. Mit jeder Faser meines lesenden Herzens und mit jedem Wort, das ich aufsaugen durfte. Dieses Buch zu lesen ist wohl die beste Entscheidung, die man am Anfang des Lesens treffen kann. Denn:

„Für Anfänge musste man sich entscheiden, Enden kamen von allein,
wenn man sich nicht entschieden hatte.“ 

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff - AstroLibrium

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff

Frankfurter Buchmesse, digital. Eine neue literarische Welt, die uns in diesem Jahr erwartet, bringt auch ihre guten Seiten mit sich. Die Buchmessespitzen in München lässt Schriftsteller*innen in der bayerischen Metropole mit ihren Werken auftreten, die zu genau diesem Zeitpunkt in Frankfurt die Messehallen dominieren würden. Ich hatte die Ehre im Rahmen dieser Lesungsveranstaltung dieses Interview für Literatur Radio Hörbahn führen zu können, auf das ich mich besonders gefreut habe.

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff - Das Interview - AstroLibrium

Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff – Das Interview

Iris Wolff im Gespräch

Ein Gespräch über literarische Zauberer, heimatlose Suppen, Windwanderer, ein satirisches Staatsbegräbnis, Heimat, Sehnsucht, Siebenbürgen und natürlich die Nominierung zum Bayerischen Buchpreis. Ganz nebenbei erfahren Sie, welchen eigentlichen Titel der Roman lange Zeit trug. Hier geht´s zum PodCast.

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Menschen neben dem Leben – Ulrich Alexander Boschwitz

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Menschen neben dem Leben – Ulrich Alexander Boschwitz

Man spricht nicht so oft von literarischen Sensationen. Und wenn, dann stellen sie sich häufig als Marketingmasche heraus, mit der man lediglich die Verkaufszahlen des jeweiligen Sensations-Buches ankurbeln möchte. Bei Ulrich Alexander Boschwitz ist das Prädikat anders zu werten. Die Wiederentdeckung seines Romans „Der Reisende“ stellte wahrlich ein aufsehenerregendes Ereignis in der Literaturwelt dar. Dieser Roman eines jüdischen Emigranten über die Judenverfolgung im Dritten Reich setzt Maßstäbe. Er selbst wurde von den Umständen der Zeit zur Auswanderung gezwungen. Kaum 20-jährig floh er mit seiner Mutter 1935 zuerst nach Skandinavien, von wo ihn die Odyssee durch halb Europa führte, bis er 1939 als sogenannter „Enemy Alien“ (Ausländer aus Feindesländern) in England interniert und nach Australien deportiert wurde.

Bei seiner Rückkehr im Jahr 1942 wurde das Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert und sank. Ulrich Alexander Boschwitz starb im Alter von 27 Jahren. Warum er bis heute im Gedächtnis blieb, ist leicht zu erklären. Er verarbeitete sein Schicksal in Büchern, die allerdings lange als verschollen galten. Sein Gesamtwerk besteht nur aus zwei Büchern. Seinem DebütMenschen neben dem Leben“, das er in Skandinavien schrieb und dessen Erfolg ihm sein Studium an der Sorbonne ermöglichte, und seinem inzwischen rekonstruierten Flüchtlingsroman „Der Reisende“. Gerade dieses Werk ist so besonders, weil die Hilflosigkeit eines staaten- und rechtlosen jüdischen Flüchtlings mit einer Authentizität beschrieben wird, die damals für Aufsehen gesorgt hätte. Ulrich Alexander Boschwitz konnte es nicht zu Lebzeiten publizieren. Die zuletzt lektorierte Fassung seines Manuskripts versank mit ihm in den Fluten.

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Peter Graf ist es als Herausgeber gelungen, dem ursprünglichen Manuskript die literarische Wucht zu verleihen, von der Boschwitz zeitlebens geträumt hatte. Nun ist es nur konsequent und logisch, das neue Interesse an diesem unvollendeten Autor zu nutzen, um auch sein Debüt „Menschen neben dem Leben“ erstmals auf Deutsch zu veröffentlichen. Das Ausnahmetalent mit der besonderen Beobachtungsgabe verfasste den Roman im Alter von 22 Jahren. Hier schreibt er nicht vom Selbsterlebten, sondern skizziert eine Gesellschaft im Wandel gegen Ende der 1920er Jahre. Eine Milieustudie kann man diesen Roman schlecht nennen, da er selbst das von ihm beschriebene und in zumeist tristen Farben gezeichnete Bild nur vom Hörensagen kennen konnte. Wenn Boschwitz also seine typischen Gestalten auftreten lässt, müssen wir realisieren, dass der Autor von einer Zeit erzählt, in der er selbst gerade mal fünfzehn Jahre alt war. 

Dies sollte man berücksichtigen, wenn man über sein Schreiben urteilt. Dies kann nicht unberücksichtigt bleiben, wenn man sich diesem Buch annähert. Hier strahlt das große Talent eines Erzählers, dem es verwehrt blieb, sich zu entwickeln, zu reifen und seinen Charakteren noch mehr Tiefe zu verleihen, als ihm dies ohnehin gelungen ist. In vielen Beschreibungen seiner Figuren könnte man kritisieren, sie seien schablonenhaft und stereotyp. Oft denkt man, er hätte sie noch authentischer in den Rahmen der Zeit einbetten können. Vielleicht ist dies so. Doch trotzdem gelingt ihm ein literarischer Wurf von besonderer Güte, den man nicht von der Vita des jungen Autors trennen darf.

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Potenzial war ausreichend vorhanden und für dieses auf der Flucht geschriebene Debüt ist der Roman gewagt, atmosphärisch dicht und zeigt in seiner hoffnungslosen Grundatmosphäre, wo die Grundlagen für den Stimmungsumschwung in der Weimarer Republik gelegt wurde, und wie unzufrieden diejenigen waren, die nur kurze Zeit später die Steigbügel des neuen „Führers“ hielten. Ihnen verleiht Boschwitz eine laute Stimme. Ihnen hört er selbst gut zu, wenn auch aus der auktorialen Ferne. In ihnen sieht er die Charaktere, die gerne die Last eines verlorenen Krieges, die Armut und Arbeitslosigkeit über Bord werfen und in eine strahlende Zukunft durchstarten wollen. Hier sind wir mit Ulrich Alexander Boschwitzneben dem Leben“ angekommen. Keine seiner Figuren kann sich heimisch fühlen, niemand hat eine Perspektive und nur die Flucht nach vorne lässt einen Silberstreif am Horizont erkennen. Auch wenn der ziemlich braun sein sollte. Besser als die Weltwirtschaftskrise und die Verarmung ist er allemal.

Boschwitz lässt sie aufleben und lautstark durch die Szenerie mäandern. Es sind frustrierte Kriegsheimkehrer, Prostituierte, Obdachlose, Bettler, Entmachtete, Verrückte und Gestrandete, denen er in einem Lokal eine Übergangsheimat anbietet. So wird aus dem „Fröhlichen Waidmann“ der Schmelztiegel der Enttäuschten, wo so mancher aus dem Rahmen fällt und zur Strecke gebracht wird. Wer sich auf diesen Roman einlässt, wird die scheinbar lustigen Gesellen Fundholz, Grissmann und Tönnchen nicht wieder vergessen. Wer sich hier an den Kneipentisch setzt, wird schnell erkennen, dass man sich hier ein Biotop gestaltet hat, das mit Tanz und Alkohol den tristen Alltag vertreibt. Boschwitz zeigt das Geheime im Offensichtlichen. Gesangsvereine sind in Realität die Keimzellen der organisierten Kriminalität. Frauen sind abhängig von Gönnern und den Zuhältern, die ihren Berufszweig gerade neu für sich entdecken.

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Die wilden Zwanziger haben im Fröhlichen Waidmann ihren Ausklang gefunden. Jetzt wird man nur noch zum Zeugen des Abgesangs auf eine verlorene Zeit. Der Tanz ist wild, die Versuchung ist groß, neue Leidenschaften und Lieben bahnen sich Wege. Jeder Neuanfang fordert Opfer. Eine Frau, die sich einen neuen Begleiter sucht, muss den bisherigen Gefährten „neben dem Leben“ zurücklassen. Dass er blind ist, spielt in ihrem Selbsterhaltungstrieb kaum eine Rolle. Mehr scheinen als sein wird zum Motto einer Gesellschaft, die sich vom Albtraum der Vergangenheit lösen will und jedes Opfer bereitwillig bringt, nur um einen Schritt nach vorne zu kommen. Boschwitz verleiht einer tief verwurzelten Perspektivlosigkeit eine ungewohnt scharfe und persönliche Kontur.

Er macht es sich nicht leicht mit seiner Erzählung. Ebenso wenig leicht macht er es den Menschen, von denen er berichtet. Hoffnungsträger Fehlanzeige. Politische Wirren sind vorprogrammiert. Und doch wirkt jener eine Abend im Fröhlichen Waidmann wie der letzte Tanz des letzten Aufgebots, bevor der Sturm losbricht. Man kann es mit den Händen fassen. Wenn die Tür des Lokals sich schließt, kann sich die Zukunft nur trister darstellen, als sie eben noch wirkte. Boschwitz ist ein Atmosphären-Erzähler. Man fühlt die Vibrationen im Tanzsaal, man riecht das abgestandene Bier, man schmeckt diesen einen fast unbezahlbaren Schnaps, für den man wirklich alles tun würde. Er bringt uns Typen näher, die gar nicht so typisch sind, wie wir es zunächst vermuten. Die Situation im Waidmann eskaliert. Es fließt Blut. Das Biotop wird mit einem Messer zerstört. Kein Wunder, dass der Verrückte am Ende wie der einzig Normale wirkt. Tönnchen.

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Ich habe gelesen und gehört. Ungekürzte 7 Stunden und 46 Minuten lang habe ich in der Gaststätte zum Fröhlichen Waidmann einen Tisch reserviert. Ich war gerne dort zu Besuch und hätte mich fast zuhause gefühlt. Der Blick hinter die Kulissen jedoch zeigte mir, was dort wirklich gärte. Schauspieler und Sprecher Hans Löw verleiht dem Roman in der Hörbuchfassung eine ganz eigene Wirkung. Seine Stimme scheint aus der Zeit gefallen zu sein. Er liest lebendig und so, als wäre er selbst Stammgast einer Lokalität, die hier Geschichte schrieb. Löw interpretiert die Atmosphäre dieser Zeit und liest seine Zuhörer beschwingt in das Chaos einer Wirtshausschlägerei, die jeder kommen sah. In den Charakterzeichnungen liegt die Stärke dieser Produktion.

Ulrich Alexander Boschwitz und Bernard von Brentano sind für mich literarisch intensiv miteinander gebunden. Worüber der junge Boschwitz so gekonnt fabulierte, darüber schrieb Brentano in der Zeit. Sein Abgesang ist ebenso laut, nur eben auf der Grundlage eigener Beobachtungen entstanden. Er schaute den kleinen Leuten auf den Mund, bevor er die gärende und explosive Lage seines Landes beschrieb „Der Beginn der Barbarei in Deutschland“ könnte ein Kapitel im Fröhlichen Waidmann beinhalten. Hier sieht man das große Talent des jungen Boschwitz. Atmosphärisch handelt es sich hier um bahnbrechende Bücher, die wie Warnsirenen hätten wirken können. Hätte man sie in ihrer Zeit aufmerksam gelesen. Das können wir heute tun und anderen aufs Maul schauen. Glaubt mir, die Parallelen sind überraschend…

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