Johann Christian Woyzeck. Ein Name, der die deutsche Literatur nicht erst seit dem fragmentarischen Drama von Georg Büchner beschäftigt und in Atem hält. Ein Mann, der im Jahr 1821 durch den Mord an einer Witwe zum Mythos wurde. Ein Prozess, in dessen Mittelpunkt nicht nur Fragen nach Schuld und Sühne, sondern eben auch die nach der Schuldfähigkeit des Angeklagten stand. Hatte jener Woyzeck kaltblütig und aus niederen Beweggründen gemordet? Oder war er geistesgestört, beeinträchtigt in seinem Denken und Handeln und folgte geheimnisvollen Stimmen aus der Tiefe des verborgenen Geistes? Unglaublich aus heutiger Sicht, dass man schon im Jahr 1821 Gutachten erstellen ließ, um die Schuldfähigkeit eines Delinquenten zu beurteilen. Es half ihm nichts. Das darf als bekannt vorausgesetzt werden. Die Hinrichtung auf dem Leipziger Marktplatz wurde nur aufgeschoben. Die Zurechnungs- und Schuldfähigkeit des Täters im Sinne der Anklage wurde gutachterlich bestätigt. Er verlor seinen Kopf.
Hatte Georg Büchner den Mordfall nur dramatisch verkürzt und viel Spielraum für Interpretationen gelassen, so ist es nun der norwegische Autor Steve Sem-Sandberg, der sich auf die Fahne geschrieben hat, den eigentlich längst gelösten Cold-Case neu aufzurollen und mit allen relevanten Hintergründen zum Menschen, Mörder und Opfer Johann Christian Woyzeck literarisch zu verarbeiten. In seinem Roman „W.„ nähert sich der Schriftsteller nicht nur dem eigentlichen Mordfall an, sondern versteht es hier auch sprachlich eine Zeitreise ins beginnende 19. Jahrhundert anzubieten, die uns mit dem Sittenbild, der Weltanschauung, dem Justizsystem und ganz besonders mit dem Leben der einfachen Leute am Rande der Gesellschaft vertraut macht. Authentisch in jeder Faser, empathisch und nachvollziehbar in der Konstruktion und zutiefst geprägt von einer humanistischen Grundhaltung erleben wir ein außergewöhnliches Buch, in dem wir uns am Ende selbst ein Bild von Schuld und Schuldfähigkeit machen können.
„W.“ ist alles, nur keine Gerichtsreportage, keine Sammlung alter Zeugenaussagen oder Gutachten. Der Autor bedient sich nicht der protokollierten Vernehmungen, die in der Zeit nach der Verhaftung Woyzecks entstanden. Er lässt auf der Grundlage dieser verfügbaren Quellen ein Sittengemälde und plastisches Bild der Zeit entstehen, in der sich die Welt gerade veränderte. Die Freiheitskriege liegen hinter den Menschen, der Schrecken des Napoleonischen Gespenstes ist verflogen und doch leidet man noch unter den Nachwehen der Völkerschlachten, die über Europa tobten. Wer sich hier im Leipzig des Jahres 1821 auf die Spur eines Frauenmörders begibt, der öffnet zugleich auch das Kapitel der Kriege und Verwüstungen, die den Kontinent nachhaltig geprägt hatten. Und nicht nur den Kontinent. Der Angeklagte selbst war Teil der marodierend durch die Länder ziehenden Heere. Alles war erlaubt im Krieg, nichts war unmöglich, die Unmenschlichkeit regierte.
Hier entwickelt sich „W.“ zur epischen Auseinandersetzung mit einer Epoche, der ich in dieser sprachlichen und erzählerischen Brillanz nur selten begegnet bin. Der Text atmet den Odem seiner Zeit, die Dialoge sind authentisch und tief angelegt, und selbst der Gerichtsjargon ist so zeitgemäß getroffen, dass man im Buch schnell das Hier und Jetzt vergisst. Alles beginnt mit dem ersten Verhör des geständigen Täters. Ja, er hat die Witwe Johanna Woost mit dem Rest eines Degens erdolcht. Ja, er hat den Mord wohl aus Eifersucht begangen, weil die Frau nicht zur Verabredung erschien und statt Woyzeck einen anderen Mann vorgezogen hat. Ja, es war die Folge ihrer Tiraden, die sie lauthals herausgeschrien hat. Sie gehöre nicht ihm, „W.“ solle aus ihrem Leben und ihrer Umgebung verschwinden. Verletzte männliche Gefühle als Motive eines Mordes, das kennt man. Da fällt es leicht, den Mörder dingfest zu machen und die Tat auf dem Schafott zu sühnen. Und doch tauchen erste Zweifel am Geisteszustand von Woyzeck auf. Stimmen soll er gehört haben, verwirrt sei er oft gewesen, abwesend und nicht bei der Sache. Ein Gutachter wird bestellt, der ihn gemeinsam mit Juristen und Pfarrern in Augenschein nimmt.
So gelangen wir schnell zur Vorgeschichte der Bluttat von Leipzig. Und es ist die Vorgeschichte eines ganzen Lebens, die uns hier vor Augen geführt wird. Vom Kind am Rande der Gesellschaft über den perspektivlosen Jugendlichen bis hin zum Mann, dem keine Wahl bleibt, außer sich unterschiedlichen Herren als Soldat anzudienen. In allen Lebensphasen bleibt er desillusioniert und immer, wenn er als Heranwachsender auf weibliche Wesen stößt, ist es neben der Faszination immer auch eine nachhaltige Enttäuschung, die ihn an sich selbst zweifeln lässt. Traumatisierend. Kaum wagt „W.“ sich aus sich selbst heraus, kaum nähert er sich an, kaum zeigt er Herz, schon wird er ausgenutzt, vorgeführt und blamiert. Ein Muster, das sich wie ein roter Faden in seiner Vita wiederfindet. Dabei sind wir als Leser schnell befangen, weil wir davon überzeugt sind, dass es nicht an Woyzeck selbst liegt. Es liegt an der Zeit, seiner Armut und der Rolle der Frau, die sich sehr gut überlegen muss, von welchem Mann ihr Leben in der Zukunft abhängt… Faktoren, die nicht für ihn sprechen.
Man muss kein forensischer Psychologe sein, wenn man in der Folge auf die Spur der ersten Stimmen kommt, die sich in Woyzeck breitmachen. Mehr als ein Drittel des Romans nimmt der Russlandfeldzug Napoleons ein, an dem der Soldat W. beteiligt ist. Nur Leo Tolstoi war in „Krieg und Frieden„ in der Lage, das Grauen der Schlachten ähnlich brillant zu beschreiben. Sem-Sandberg durchbricht hier eine Schallmauer in der literarischen Erzähldimension, weil wir diesen Feldzug nicht erwarten würden und im tiefsten Wesen all seiner Entbehrungen und Verwundungen auch die posttraumatischen Verletzungen in Woyzeck aufspüren, die ihn wohl für immer verändert haben. Selten zuvor habe ich so sehr gefroren in einem Buch, selten breiteten sich der Hunger und die Hoffnungslosigkeit intensiver in mir aus, und selten zuvor sah ich einen Menschen an seinen Lebens- und Todesumständen mehr verzweifeln. Und alles nur, um am Ende erfahren zu müssen, dass ihm sein Überleben an der Beresina nicht weiterhilft. Nur, um erleben zu müssen, dass er niemals in der Lage sein wird, lieben zu dürfen oder geliebt zu werden.
Wir verbringen Jahre an seiner Seite in der Zelle, setzen uns mit ihm Vernehmung um Vernehmung aus, hoffen, leiden, bangen und fantasieren dem Ende entgegen. Wir sind schließlich nicht in der Lage, Woyzeck schuldig zu sprechen. Der Zeit gelingt dies viel besser. Man sucht Schuldige, keine Entschuldigungen. So lesen sich auch zuletzt die Ergebnisse der Gutachten wie ein vorgefasstes Urteil. Und doch sind sie mehr als ein Paradigmenwechsel in der Begutachtung dieses Mörders, weil man einen Versuch unternommen hatte, ein Leben gegen eine Tat aufzurechnen. Im modernen Strafrecht der heutigen Zeit ist dies der Standard. Man denkt oft, mehr über den Täter zu hören, als über sein Opfer. Wie gerechtfertigt dieser humane und liberale Ansatz ist, kann in jeder Sequenz dieses Romans nachempfunden werden. Sem-Sandberg gelingt eine Meilenstein-Betrachtung eines Vorverurteilten. Ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legen kann, eine Geschichte, die uns fesselt bis zum Letzten. Selbst den Weg zum Richtplatz spart er nicht aus, selbst den Zweifel derer, die einst Recht sprachen, nährt er weiter. Und doch ist dieses Buch kein Freispruch unter der Überschrift: „Er hatte eine schwere Jugend“…
In seinen Beschreibungen bleibt Steve Sem-Sandberg niemals vage. Klartext im Tod, Klartext in der Leidenschaft, Klartext in der Sehnsucht, im Hass und in der Liebe. Er schont weder uns noch seine Protagonisten, die er der Geschichte entlehnt hat. Ja, so muss es damals gewesen sein. So wird sich alles zugetragen haben und so können wir uns einem Täter nähern, für dessen Schuldspruch es scheinbar nie eine Alternative gab. Woyzeck fehlte es nie an Gewalt und Tod im Umfeld, ihm fehlte jede Chance, im Leben Selbstbewusstsein oder Selbstwertgefühl zu empfinden. Diese Charakterstudie hat das Zeug zum Standardwerk über einen Verlorenen, der unrettbar auf das Chaos zusteuern musste. Der Autor beansprucht keine Deutungshoheit über die Recherchen, die er uns literarisch näherbringt. Er öffnet nur die Tür zum Zweifel an der psychischen Unversehrtheit eines Mörders, die zwar für Gnadengesuche, nie aber für mehr taugte. Ein großes Werk, geschrieben auf der Grundlage eines Menschenbildes, das für uns selbstverständlich sein sollte, es damals allerdings nicht sein konnte.
„Der Pöbel sehnt sich nach Gerechtigkeit, nicht unbedingt nach Klarheit.“