Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery - Astrolibrium

Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Es gibt Tage von solch historischer Relevanz, dass sie die Geschichte der Welt und das eigene Leben in ein DAVOR und DANACH aufteilen. Es gibt Tage, die sich in das kollektive Gedächtnis der Menschheit einbrennen und dem individuellen Erinnern kaum eigenen Spielraum lassen. Es gibt Tage, von denen man auch noch Jahrzehnte später genau weiß, wo und wie man sie verbracht hat. Ein solcher Tag war ein kühler Dienstag vor genau zwanzig Jahren. Man schrieb den 11. September 2001. Es war der Tag, der unter dem Namen “Nine Eleven” in die Geschichte eingegangen ist. Dieser tieftraurige Tag muss nicht erklärt werden, die Ereignisse bedürfen keiner Zusammenfassung mehr. Der grausame Tod Tausender von Menschen, deren Schicksal auf grausame Art und Weise miteinander verschmolzen wurde, steht heute für einen irreversiblen Wandel der Geschichte, als Auslöser für Krieg und das Ende im individuellen Sicherheitsempfinden.

Die Literatur hat sich den Anschlägen des 11.9. nur sehr zaghaft genähert. Ersten Ansätzen, die Terrorakte journalistisch aufzuarbeiten, folgten Jahre später vereinzelte Romane, die fiktive Einzelschicksale aus der kollektiven Erinnerung herauslösten, um in der geschützten Distanz eine Annäherung an das Unaussprechliche zu wagen. Zumeist blieben diese Romane bemüht und oberflächlich, weil der Schrecken zur Kulisse wurde und sich alle Lesenden als Augenzeugen empfanden, die dem geschilderten Szenario viel präzisere eigene Erinnerungen hinzufügen konnten. Eine ausweglose Situation für Autoren und Autorinnen, die keine Bilder erschaffen konnten, die man zuvor noch nicht wahrgenommen hatte. Jeder Roman wirkte wie ein Déjà-vu. Jede Geschichte steuerte plötzlich auf ein Ende zu, das so vorhersehbar war, wie der Untergang der Titanic. Nur waren das die Anschläge des 11. September 2001 keinesfalls, wie wir heute wissen.

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Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Heute, zwanzig Jahre nach Nine Eleven, hat sich der Blickwinkel erneut verschoben. Wieder sehen wir Menschen, die vom Himmel fallen. Diesmal nicht von Hochhäusern in New York, sondern von US-Transportmaschinen über Kabul. Der Krieg, den man führte, um eine Wiederholung des Terrorismus zu verhindern, ist krachend gescheitert. Kaum zwanzig Jahre danach steht der Westen wieder ratlos einem Phänomen gegenüber, in dessen Inneres man kaum vorstoßen kann. Und schon greift sie wieder um sich. Diese kollektive Sprachlosigkeit, in der nur noch Raum für Worthülsen und Allgemeinplätze in der Beschreibung des globalen Versagens bleibt. Der Konjunktiv greift um sich und die Opfer sprechen keine Sprache mehr, die man verstehen könnte. Eigentlich wollte ich ja heute auf die Ereignisse von vor genau zwanzig Jahren zurückblicken. Eigentlich wollte ich nur ein Buch lesen, das zum Jahrestag der einstürzenden beiden Türme des World Trade Centers erschien. Aus diesem „Eigentlich“ wurden schlaflose Nächte, Rückblicke auf die Bücher, die ich gelesen hatte, Filme und Dokumentationen, die ich sah und das Rückfühlen in meine Gefühle, die ich niemals vergessen habe…

Ich wollte Ellis Avery in ihre literarischen Beobachtungen folgen, die sich in ihr als Reaktion auf den erlebten Schrecken in New York Bahn gebrochen hatten. Sie schrieb an einem Coming-of-Age-Roman. Sie war sprachgewaltig und inspiriert. Sie wohnte in Manhattan und sie genoss ihren Blick auf die Zwillingstürme des WTC. Was an diesem Tag geschah, veränderte auch ihr Leben. Es war ein Weltuntergang, den sie aus ihrem geschützten Arbeitszimmer heraus beobachten konnte und doch war der Autorin sofort klar, dass es fortan keine Biotope oder Refugien mehr geben wird, weil die brennenden Türme mehr verändern würden, als die globale Politik. Ihre Reaktion auf das Gesehene und Erlebte ist kein Augenzeugenbericht. Es ist ein Stimmungsbild und ein Zeitzeugnis für den Anschlag auf New York, der sich für uns auf ein Datum fokussiert. Dabei waren es nicht nur vierundzwanzig Stunden, die das Leben veränderten. Es waren:

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Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Die Tage des Rauchs. 11. – 21. September 2001“ von Ellis Avery

Ellis Avery beschreibt uns diese Tage nicht. Sie erklärt uns nicht, was sie fühlte. Es ist wie der Blick in ihr tiefes Innerstes, den sie uns gewährt. Es fühlt sich an, als dürften wir mit ihren Augen sehen, mit ihrem Herzen fühlen und mit ihren Worten denken. Ellis beantwortet unsere Fragen, die wir seit zwanzig Jahren nicht stellen wollen. Oder, die wir uns nicht zu stellen trauen. Was war am Tag davor? Wie fühlte sich der Alltag an in einer Metropole, die uns mit ihrer pulsierenden Wucht in ihren Bann zog. Was nahm sie wahr? Wie? Wann realisierte sie es und was geschah in den Tagen nachdem wir schon lange abgeschaltet hatten? Die Überschriften ihrer Kapitel gleichen einem Gedicht auf den Untergang einer ganz eigenen Welt.

8., 9., 10., 11. September
Normalzeit

11. September
Auf den ersten Blick
Sehen kann, sehen konnte
Was ich vom Fenster aus sah

Sommer 1996
Es war einmal

So arbeitet sie sich vor und zurück. In und durch sechzehn Kapitel voller Wehmut im Herzen und Hoffnung im Sinn. Sie macht uns zu Teilhabern ihres Lebens, ihrer Verluste und Ängste. Sie zeigt und ihr Davor und Danach. Sie lässt uns intensiv nachfühlen, wie sie gefühlt hat und was sie nicht mehr fühlen konnte. Es ist die literarische Tiefe, die sie in uns nach oben holt, um das Unsagbare verständlich und greifbar zu machen. Dabei zeigt sie sich nicht gelähmt oder erlegt. Sie bleibt vital. Erschreckend vital und viral, da sie nichts mehr mehr bewegt, als ihre Mitmenschen davon zu überzeugen, jetzt nicht in blindem Hass zurückzuschlagen und das Leid weltweit zu potenzieren. Sie ahnte wohl schon, was bald passieren sollte. Es sind ihre Worte, die uns an die Hand nehmen und Verluste spürbar werden lassen. Es sind ihre Gesten, die so viel Größe besitzen. Nicht zuletzt sind es ihre Übersprungshandlungen, die uns so gut verstehen lassen, was sie an diesem Tag verlor.

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Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Wir sind an ihrer Seite, als sie…

  • Ansichtskarten der Türme kauft, weil die Souvenirs jetzt echte Andenken sind,
  • erstmals weiße Atemmasken in den Straßen sieht. (Heute so normal)…,
  • flammende Appelle zur Toleranz und gegen Hass vernimmt,
  • erste wüste Beschimpfungen der muslimischen Mitbürger miterlebt,
  • realisiert, dass Panik immer ein selbstbezogenes Gefühl ist,
  • fühlt, dass Überleben ein Glücksgefühl auslöst, das peinlich sein kann,
  • daran verzweifelt, dass die Zeit nicht stehenbleibt, sondern einfach verrinnt,
  • ihre Stadt mit einem Friedhof vergleicht, dessen Grabsteine Vermisstenbilder sind,
  • mit ihrer Frau erste Botschaften verfasst, die schon bald überall sichtbar werden:

„Die halten uns auch für Monster. Lasst uns ihnen das Gegenteil beweisen.“

„Wir müssen lernen, die Weiterlebenden mit der gleichen besonderen Aufmerksamkeit zu zählen, mit der wir die Toten beziffern.“

Ellis Avery erzeugt in mir unglaubliche Gefühle. Ich wünschte mir, bei ihr zu sein. Genau an diesem Tag, genau an diesem Ort und in genau jenen Straßen, in denen sie nun patrouilliert. Fern von jedem Voyeurismus. Fern von jeglicher Neugier. Einfach nur, weil ich in der Gefolgschaft einer Autorin wäre, die der Sprachlosigkeit dieser Stunden ein ganzes Buch entgegenzusetzen hat – vielleicht sogar ihr ganzes Sein…

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Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Auch heute noch lassen sich die Opfer nicht beziffern. Es sind zu viele. Weltweit. Auch heute noch sterben Menschen an den Folgen der Anschläge. Sie sind Opfer von Kriegen, erliegen den gesundheitlichen Spätfolgen der Rettungsarbeiten im Asbest der Turmruinen oder, oder. Der Opfer wird gedacht, während neue Opfer gebracht werden. Es sind die Jahrestage, die uns wieder erinnern. Und doch ist es auch so, dass wir uns ganz bewusst in diese Tage fallen lassen, um zu fühlen, wie lebendig wir sind. Wie gut es uns doch geht. Nichts ist von Dauer. Pathos ist fatal, wenn es um Trauer geht. Alles Dinge, die wir wissen und die wir doch verdrängen. Ich hätte mich jedenfalls gerne mit Ellis Avery über dieses Buch unterhalten. Darüber, wie ihr Leben aussieht, was heute ihr Schreiben ausmacht und, und, und… Ich zitiere einen Satz aus ihrem Buch, der in mir nachhallt und nicht untergehen wird. Sie beschreibt eindringlich ihr Gefühl, als ihr bewusst wird, wie sehr die Umwelt vergiftet wurde. Nicht nur die Menschen…

Ich hoffe, lange genug zu leben, um noch Krebs von dem Asbest zu bekommen.

Ellis Avery starb am 15. Februar 2019 an den Folgen einer Krebserkrankung. Das Nachwort im Buch aus der Feder ihrer Ehefrau Sharon Marcus setzt ihr ein Denkmal.

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Die Tage des Rauchs von Ellis Avery

Die auf den Artikelbildern abgelichteten Bücher „Und auf einmal diese Stille“ und „This is New York – A Democracy of Photographs“ gehören zu meinen bisher noch nicht vorgestellten Büchern zum 11. September 2001. Ich hoffe, auch für sie Worte zu finden. Hier finden Sie weitere Artikel über Bücher zum Thema Nine Eleven in der kleinen literarischen Sternwarte.

„Bobby“ von Eddie Joyce

Bobby von Eddie Joyce

Bobby von Eddie Joyce

„Er betrachtet sein Spiegelbild. Er sieht einen alten Mann. Einen alten Mann, der seinem Vater nicht gefolgt ist. Einen alten Mann, dessen Söhne ihm gefolgt sind: einer in ein anderes Leben, einer in die Kneipen, einer in die Flammen.“

Es ist dieser Blick in den Spiegel, der ein ganzes Buch charakterisiert. Der Blick eines Vaters, der in sich, für sich und mit sich allein zu verarbeiten versucht, was auch im Rückblick auf die Geschichte einer ganzen Familie nicht zu verarbeiten ist. Es sind diese bohrenden und ewig nagenden Wenns, die das Hirn zermartern. Es ist das ganz persönliche schlechte Gewissen, an einem bestimmten Tag eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Als Vater versagt zu haben.

„Gail erwacht mit durchstochenem Herzen, diesen wie jeden Tag.“

Es ist dieser Stich ins Herz, der eine trauernde Mutter ewig begleitet. Tag für Tag. Eine Wunde, die sich nicht schließen mag. Eine Narbe, die weithin sichtbar bleibt und ein tiefer Schmerz, der einfach nicht versiegen will. Es ist das Gefühl, dass etwas fehlt im Leben. Ein Gefühl, das sich an jedem Tag von neuem einstellt, wenn sie das Zimmer ihres Sohnes betritt. Nichts hat sie hier verändert. Alles ist so geblieben, wie er es einst zurückgelassen hat. Nicht nur die Basketball-Pokale ihres Sohnes sind noch an Ort und Stelle. Alles ist so, als wäre nichts passiert und er käme gleich wieder nach Hause.

„Bobby“

Bobby von Eddie Joyce

Bobby von Eddie Joyce

„Ich bin ein Miststück, Bobby? Zigaretten schaden der Gesundheit? Leck mich, Bobby. Ich bin noch am Leben, und du bist mausetot, Bobby. In brennende Häuser laufen, das schadet der Gesundheit, Bobby. Fuck. Zigaretten sind super.“

Es ist diese selbstzerstörerische Wut einer Ehefrau, die sich an den letzten großen Krach mit ihrem Mann erinnert. An den Streit. An die Vorwürfe. An ihre Uneinsichtigkeit. Und alles nur wegen ein paar Zigaretten. Er hatte es gut mit ihr gemeint und sie hatte ihn provoziert. Gereizt und ihm den Zigarettenrauch ins Gesicht geblasen. Seine Worte hatten sie verletzt. „Du bist ein Miststück!“ Aber eigentlich hatte er es gut gemeint. Er konnte es nicht ertragen ihr dabei zuzusehen, wie sie das pure Gift inhalierte. Und dann dieser letzte Streit. Fünf Monate später war er tot.

„Bobby“ 

Dies sind nur drei Momentaufnahmen von Menschen, die Zurückblieben. Trauern, verarbeiten, vermissen, zerbrechen und trotzdem leben. So muss man wohl die letzten Jahre überschreiben, die sie durch einen gemeinsamen Verlust miteinander verbinden. Jahre, die ihre Spuren hinterlassen haben, während von demjenigen, der hier betrauert wird, keine einzige Spur zurückgeblieben ist. Mehr als neun Jahre sind vergangen, seit Bobby Amendolas in den Türmen des World Trade Centers ums Leben kam. Es war der 11. September 2001, und Bobby war einer der 343 Feuerwehrmänner, die bei den Anschlägen des Nine Eleven am Ground Zero zu tragischen Helden wurde.

„Bobby“

Bobby von Eddie Joyce

Bobby von Eddie Joyce

Eddie Joyce erzählt in seinem Roman „Bobby“, erschienen bei DVA, nicht nur von diesen drei Menschen. Joyce greift weiter und gestaltet einen Erzählraum, in dem sich die vergangenen neun Jahre seit dem Kollaps der Zwillingstürme zu einem kollektiv zu durchlebenden „Danach“ verdichten. Es sind nicht nur die Eltern, aus deren Sicht das jetzige Leben betrachtet wird. Es sind ebenso Bobbys Brüder, die Schwiegereltern und natürlich seine Witwe, die in ihren persönlichen Trümmern Zuflucht gesucht haben. Und als wäre dies noch nicht genug, sind es auch die vaterlos aufwachsenden Kinder, deren Welt sich mit einem Schlag für immer veränderte.

Eddie Joyce erzählt hier nur vordergründig vom Umgang mit Verlust. Er verleiht diesem Thema eine besondere Dimension, indem er sehr weit in die Vergangenheit von Familien blickt, um ihre emotionalen Bindungen, kulturellen Hintergründe und sozialen Prägungen spürbar zu machen und auf diese Art und Weise zu erklären, welchen Riss der Tod eines geliebten Menschen im tektonischen Gefüge der Kontinentalplatten von Familien verursachen kann. Seine daraus abgeleiteten Katastrophen und Verwerfungen in der Zukunft werden nachvollziehbar und sind dabei so authentisch, dass man sich selbst als Angehöriger fühlt, dessen erster Gedanke am frühen Morgen lautet:

„Das muss ich Bobby erzählen.“

Die Welt von Bobbys Eltern ist die komplexe Welt ehemaliger Einwanderer. Durch ihre Hochzeit verbanden sich zwei Familien, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Irische und italienische Stammbäume sind dafür verantwortlich, dass die Amendolas alles in sich vereinen, was man unter Leidenschaft, Familiensinn und Emotionalität zu verstehen hat. Eine explosive Mischung aus Tradition und Hingebung zieht sich durch die Geschichten der Familien, die durch diese Ehe zu einer Familie werden. Und nun ist neun Jahre nach den Anschlägen in New York kein Stein mehr auf dem anderen.

Erst recht nicht für ihre Schwiegertochter Tina. Bobbys Witwe.

Bobby von Eddie Joyce

Bobby von Eddie Joyce

Als Tina kurz vor dem neunten Geburtstag von Bobby jun. zum ersten Mal seit dem Tod ihres Mannes einen zarten Schritt in ein neues Leben wagt und Gefühle für einen neuen Mann in ihrem Leben zulässt, droht die ohnehin schon aus der Balance geratene Familie erneut aus der Bahn geworfen zu werden. Sie sieht sich mit Fragen konfrontiert, die jeden Tag ihres Lebens als Witwe bestimmt haben. Darf man einen toten Helden betrügen? Darf man ein normales Leben führen, wenn der Ehemann in den Türmen des World Trade Centers das eigene Leben für alle geopfert hat.

Darf man ihm den Sohn wegnehmen, den er nie gesehen hat? Und darf man einfach so einen neuen Mann mitbringen, wenn man gemeinsam den Geburtstag des Jungen feiert, der nach seinem toten Vater benannt wurde? Wie reagieren die Brüder Bobbys, welche Risse entstehen in den Herzen seiner Eltern und was passiert mit den eigenen Gefühlen? Kann man mit schlechtem Gewissen lieben, oder muss man sich als Witwe eines verstorbenen New Yorker Firefighters bis ans Ende seiner Tage damit abfinden, dass mit seinem auch das eigene Leben endete?

Eddie Joyce erzählt eine bewegende Familiengeschichte. Er lässt uns in die Herzen und in die Psyche von Hinterbliebenen blicken, deren Leben anders verlaufen wäre. Er bringt uns Menschen nahe, die uns so sehr berühren, dass man das komplette Bild nur zusammensetzen kann, weil man selbst durch die wechselnden Perspektiven einen tiefen Einblick in den Schmerz, Selbstvorwurf und verlorene Träume erhält. Bobby steht über allem. Er ist in jedem Leben das seinen Tod überdauert hat präsent. Die Tatsache, dass er als Held gefeiert wird, macht es seinen Angehörigen nicht leichter, ihren Weg zu finden, ohne dabei die Erinnerung an Bobby zu verraten.

Bobby von Eddie Joyce

Bobby von Eddie Joyce

Ich denke, wir alle haben in unserem Leben einen Tag erlebt, der uns vorkam, wie ein Anschlag auf alles, wofür wir stehen. Wir alle mussten mit Verlusten umgehen, die in jeder Hinsicht einschneidend waren. Man neigt in solchen Situationen oft dazu, die eigene Trauer über die der anderen Menschen zu stellen. Man versinkt sehr leicht in Selbstvorwürfen und Depression. Man denkt, das Leben geht nicht weiter. Wenn man dann einen Roman zu diesem Thema liest, hat man häufig das Gefühl, dass er zu kurz greift, zu oberflächlich bleibt und den einzelnen Charakteren nicht gerecht wird.

Eddie Joyce beweist mit „Bobby“, dass es anders geht. Er erweitert das Spektrum des Verlustes um die Dimension eines Helden, dessen Andenken nicht beschmutzt werden darf, den man nicht betrügen darf und der ewig unvergessen bleiben muss. Tief unter der Oberfläche aus Trauer und Leid verborgen brodeln die Vulkane derer, die ihr Leben noch vor sich haben. Erwarten Sie nicht, dass Sie an der Seite von Bobby den Tag der Anschläge erleben. Erwarten Sie keine Schilderung des Nine Eleven. Gehen Sie nicht davon aus, hier einen Roman über diese Anschläge zu lesen.

Wappnen Sie sich eher dafür, schon nach wenigen Seiten zur Familie zu gehören. Eddie Joyce schreibt im Wissen um das kollektive Gedächtnis an einen Tag, der sich auch in unsere Herzen eingebrannt hat. Er schreibt auf der Grundlage unseres Wissens um den hohen Stellenwert der New Yorker Firefighter. Er schreibt uns eine Geschichte ins Herz, die sich noch heute in vielen Familien abspielt. Ein großer Roman, der keine Spurenelemente von Pathos enthält. Ein hoffnungsvoller Roman über ein „Danach“, das man sich hart erkämpfen muss und eine Liebeserklärung an diejenigen, die auf ihre ganz individuelle Weise nicht vergessen wollen und können.

Bobby von Eddie Joyce

Bobby von Eddie Joyce

Mein besonderer Dank gilt Lili und Klaus Hamann, die mir für diesen Artikel Fotos aus New York zur Verfügung stellten, die 2011 dort entstanden sind. Sie ermöglichten mir tiefe Einblicke in das Leben in und außerhalb von Feuerwachen. Sie vermittelten mir ein Bild davon, wie gut dieser Roman ist. Ich sehe viele Bobbys auf diesen Bildern.

Die Bücherkette auf AstroLibrium bringt Sie mit nur einem Klick zu den Büchern, die mit “Bobby” von Eddie Joyce in Verbindung stehen.

Bobby - Eddie Joyce - Die Bücherkette

Bobby – Eddie Joyce – Die Bücherkette

Der Mann, der das Glück bringt von Catalin Dorian Florescu

Der Mann, der das Glück bringt von Catalin Dorian Florescu

Der Mann, der das Glück bringt von Catalin Dorian Florescu

Leben wir nicht in unruhigen Zeiten? Sind unsere Tage nicht gerade dominiert von Bildern flüchtender Menschen? Schutzsuchende, die ihre angestammte Heimat aus den unterschiedlichsten Gründen verlassen? Menschen auf der verzweifelten Suche nach Sicherheit, Glück und einem neuen Leben? Menschen, die am Ziel ihrer Emigration mit geschlossenen Leitkulturen konfrontiert werden, in die sie integriert werden sollen? Eine Integration, die oft so weit gefasst ist, dass sie für die Betroffenen die Abkehr von ihrer eigentlichen Identität bedeuten kann…

Leben wir in einzigartigen Zeiten? Nicht wirklich. Und doch hat sich unsere Welt verändert. Die eigentlichen Fluchtursachen sind vergleichbar. Die Zufluchtsorte jedoch wirken heute wie geschlossene soziale Trutzburgen, die kaum noch zu erobern sind. Dabei liegt der Reichtum einer gemeinsamen Existenz in den Menschen verborgen, die hier in der Zukunft Teil eines gemeinsamen Traumes werden können. Kann ein Roman diese Veränderung beschreiben? Kann er sie vielleicht sogar so greifbar machen, dass man Begriffe wie Sehnsucht und Heimweh neu versteht?

Kann es EINEN Roman dieser Zeit geben, der einen Bogen spannt, der aus längst vergangener Zeit und von fremder Hand geführt, unsere Saiten zum Schwingen bringt und eine Melodie entstehen lässt, die Verständnis heißt. Ja. Es gibt diesen Roman. Es gibt DEN Erzähler, der hierzu in der Lage ist und es gibt diese große Melodie, die er mit Worten komponiert, die für sich alleine nur nach Schmerz, Tod, Armut, Krankheit, Unterdrückung, Existenzkampf und tiefer Verzweiflung klingen, gemeinsam aber in eine Symphonie der Empathie münden. Ihr Name?

Der Mann, der das Glück bringt von Catalin Dorian Florescu

Der Mann, der das Glück bringt von Catalin Dorian Florescu

Der Mann der das Glück bringt„. Ihr Schöpfer? Catalin Dorian Florescu. Seine Sprache? International. Sein Wesen? Weltoffen. Seine Begabung? Einer der vielleicht größten Erzähler unserer Zeit zu sein, dessen Stimme sich auch gegen Widerstände Gehör verschafft, weil man ihr nicht widerstehen kann. Sein Verdienst? Sehnsucht und Heimweh im Schmelztiegel seines Romans zum Kochen zu bringen, eine Geschichte daraus entstehen zu lassen und doch das Wunder zu bewirken, dass beide Zutaten ihr eigenständiges Gesicht nicht verlieren. Sehnsucht und Heimweh. Ingredienzien des Lesens. Das Lesenselixier, veröffentlich bei C.H. Beck.

Florescu entführt uns ins New York des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Ein New York, das von Einwanderern geprägt ist. Flüchtende, Suchende, Verfolgte, Glücksritter und Sehnsüchtige stranden in dieser Stadt. Hier gilt es nicht, sich sozial zu integrieren, da hier keine Leitkultur auf die Menschen aus der „alten Welt“ wartet. Iren bleiben Iren, Chinesen bleiben Chinesen und doch ist es die Armut, die dafür verantwortlich ist, dass jeder zum Pionier seines eigenen Glückes wird. Der Tod regiert in der Stadt.

Florescu spannt seinen Bogen weit in die Vergangenheit. Dabei hören wir nicht ihm selbst zu, sondern folgen viel mehr der Erzählung eines Mannes, der das Leben seines Großvaters in diesen Jahren Revue passieren lässt. Das Leben eines Jungen, der von Sehnsucht getrieben zu absolut allem bereit ist, um zu überleben und seine Träume zu verwirklichen. Leichenschiffe ziehen an ihm vorbei. Ausgelebte Träume verfolgen ihn auf Schritt und Tritt. Als kleiner Zeitungsjunge lebt er von den Schlagzeilen dieser Welt. Nachrichten aus der alten Welt zumeist. Katastrophen steigern seinen Umsatz. Fremde Katastrophen verschleiern den Blick für die Kälte der eigenen Stadt.

Der Mann, der das Glück bringt von Catalin Dorian Florescu

Der Mann, der das Glück bringt von Catalin Dorian Florescu

Ray, der Enkel erzählt diese Geschichte, die vom täglichen Überlebenskampf seines Großvaters handelt. Von seinen Träumen, Talenten und Verlusten. Sie handelt von den Houdinis jener Tage. Den Kinos, Freakshows und Theatern, in denen man manchmal vielleicht reich werden konnte. Ein Sänger wie Caruso, sei der Großvater gewesen. Der Buckel habe ihm gefehlt zum Erfolg. Und so laviert er sich durchs Leben, erfindet sich täglich neu, schlüpft in fremde Identitäten, spielt die vielen Rollen seines Lebens. Und doch ist nur die Straße seine Bühne. Sein Geld verdient er anders. Ein dunkles Kapitel, das sich bitter rächt.

Ray erzählt diese Geschichte nicht uns. Keinesfalls. Er erzählt zum ersten Mal von seinem Großvater und die Frau, die ihm zuhört, dankt ihm auf ihre Weise. Geschichte wird mit Geschichte vergolten. Und so erfährt Ray, warum Elena in New York ist. Er blickt durch sie zurück in das Leben einer Familie im Donaudelta. Fernweh und Flucht könnte diese Geschichte heißen. Kalt ist sie. Schmerzhaft und verstörend. Der Traum von Amerika dominiert in den Herzen der Menschen. Der Traum von einer neuen Welt pocht in den Adern der Armen. Für manchen endet diese Flucht noch vor der Abreise.

Elena erzählt ihre Geschichte und an den Stellen an denen sich beide berühren, setzt Ray die seine fort. Zwei Flüsse aus Sehnsucht, Fernweh und Heimweh fließen ineinander und lassen Menschen auferstehen, deren Schicksal unterschiedlicher nicht sein könnte. Ein rastloser Großvater, der mehrmals alles verliert und eines nicht mehr fühlt: Was Heimat bedeutet, was es heißt eine eigene Identität, eine eigene Geschichte zu haben, weil er in zu viele schlüpfen musste. Und Elenas Mutter, die am Tag ihrer Ausreise nach Amerika ausgebootet wird. Ihre Krankheit verurteilt sie zu einem Leben in einer rumänischen Leprakolonie.

Der Mann, der das Glück bringt von Catalin Dorian Florescu

Der Mann, der das Glück bringt von Catalin Dorian Florescu

Der schicksalhafte Tag, an dem sich Ray und Elena zufällig begegnen, ist in Catalin Dorian Florescus Roman „Der Mann der das Glück bringt“ der Tag an dem sich auch zwei Geschichten vereinen. Der Tag, an dem sich zwei Menschen durch das Erzählen ihrer Lebensgeschichten kennen lernen. Indirekt, da sie viel mehr von ihren Ahnen zu erzählen wissen, als von sich selbst. Und doch erkennen sich zwei Suchende an genau diesem Tag. Sehnsucht und Heimweh fließen ineinander und alle Träume münden in die Frage, wer man am Ende dieser Geschichten selbst ist.

Florescu erzählt meisterlich. Er taucht uns im amerikanischen Wechselspiel seines „New-York-Szenarios“ in ein schauriges Wechselbad aus Glitzerwelt und Todeshölle. Er macht fühlbar, wie verzweifelt der Wille zum Überleben sein kann und wie wenig von einem Menschen übrig bleibt, der alles geben möchte, um seinen Traum zu leben. Die neue Welt zeigt ihre tödliche Facette und frisst die Menschen auf, die sich schon am Ziel des Fliehens wähnen. Und doch lebt die Hoffnung.

Ebenso wie im Donaudelta. In jener Kolonie der Leprakranken, die sich immer mehr verlieren. Unheilbar und doch hoffnungsvoll. Nachrichten aus der neuen Welt verleihen ihrem Hoffen Antrieb. Und doch wissen sie, dass es keinen Ausweg gibt. Elenas Mutter hat es nicht geschafft. Sie hat ihr New York nie erreicht. Genau deshalb ist ihre Tochter nun dort. Fernweh ist die Melodie. Die Asche ihrer Mutter soll in New York verstreut werden. Am Ziel angelangt führt Florescu die beiden Erzählflüsse zusammen. Es ist ein Strudel aus Vergangenheit und Gegenwart, der diese Geschichte entstehen lässt. Es ist der Tag, an dem sich Elena und Ray begegnen. Der schlechteste Tag, um die Asche von Elenas Mutter in der Fremde nach Hause zu bringen.

Der Mann, der das Glück bringt von Catalin Dorian Florescu

Der Mann, der das Glück bringt von Catalin Dorian Florescu

Florescu gelingt nach seinem, mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichneten, Meisterwerk „Jacob beschließt zu lieben erneut ein zutiefst empathischer Roman voller Zeitgeist. „Der Mann, der das Glück bringt“ vereint hier die widersprüchlichsten Gefühle und zeigt seine Protagonisten in der Nacktheit all ihrer Schwächen. Selten hat der scharfe Kontrast zwischen den künstlich erleuchteten Straßen von New York und einer Leprakolonie in Rumänien ein so weiches menschliches Bild voller Sehnsucht und Hoffnung gezeichnet, wie in dieser Erzählung.

Und selten hat ein aktueller Roman so sehr in seine Zeit gepasst, obwohl er sie gar nicht thematisiert. Florescu trifft seine Leser auf indirekte Weise. Er zieht sie in seine Geschichte hinein, hält sie gefangen und wartet mit ihnen gemeinsam auf den Moment des Erkennens. Die Suche nach der eigenen Identität, die Gefahr ihres Verlustes und das Streben nach Glück dominieren die Handlungsfäden dieses Romans.

Die Schlussakkorde sind mehr als gewaltig. Florescu endet nicht am Delta seiner beiden Erzählströme. Er führt sie weiter und man kann jedem Leser nur empfehlen, sich gut zu wappnen. Nichts überlässt der große Erzähler dem Zufall, nichts ist vorhersehbar und doch erschließt sich in den Enden des Romans seine vollständige Strahlkraft. Der letzte Satz allein ist das Lesen wert. Der letzte Satz ist mehr als ein Ende. „Der Mann, der das Glück bringt“ steht für diesen Satz, den ich nie vergessen werde.

Catalin Dorian Florescu - Das Interview

Catalin Dorian Florescu – Das Interview

Ein Interview für Literatur Radio Bayern auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse stellt den wichtigen Abschluss dieser Lesereise dar. Hoffnung, Heimweh, Sehnsucht, Tod und Leben. Darüber wird zu reden sein in einer Zeit, in der wir namenlose Hoffende sehen, denen man patriotisch besorgt voller Argwohn begegnet. Florescu leistet einen wichtigen literarischen Beitrag zum Verstehen!

Es ist nicht die erste Begegnung mit dem Schriftsteller Catalin Dorian Florescu. Vielleicht wird es ja diesmal ein richtiges Interview! Ein Rückblick, der sehr lohnenswert ist. (hier) Und danach bleibe ich in New York. Bald mehr aus „Brooklyn„.

Der Mann, der das Glück bringt von Catalin Dorian Florescu

Das Ziel heißt Amerika – In Brooklyn geht es weiter…