„Jedes Buch hatte seine Zeit. Es vorher lesen zu wollen,
war töricht, es zu spät zu lesen, vergeblich.“
Ich möchte mit meiner Rezension am Ende des Lesens beginnen. Ich möchte mit dem Moment beginnen, der mich nach den letzten Zeilen des Romans „Die Unschärfe der Welt„ von Iris Wolff wieder ins richtige Leben katapultierte. Ein ambivalenter und emotionaler Moment zugleich, da ich mich einerseits als zu klein empfand, um hier mit eigenen Worten zu beschreiben, was diese Geschichte auszeichnet. Zugleich war ich voller Sorge um dieses Buch. Kann es sein, dass die vielen Lorbeeren, auf denen Iris Wolff gerade durch die Bücherwelt getragen wird, dem Lesen im Wege stehen? Kann es sein, dass Nominierungen für Buchpreise und die begeisterte Kritik des Feuilletons die ganz „normalen“ Lesenden abschrecken, weil sie vermuten, ein Buch vorzufinden, das für den alltäglichen und besonderen Lesespaß zu elitär ist? Sind wir Rezensenten dann schuld daran, dass genau dieser Roman in eine literaturwissenschaftliche Ecke verdrängt wird? Wenn dies sein könnte, dann mag ich einen anderen Ansatz wählen.
„Die Unschärfe der Welt“ von Iris Wolff ist einer der bewegendsten, einfachsten und sprachlich herausragendsten Romane, den ich jemals lesen durfte. Wer mir folgt, weiß woran ich bei guten Geschichten glaube, was mich als leidenschaftlicher Leser bewegt und wann ich ins Schwärmen gerate. Es ist das komplex Erzählte, das Nachhaltige und in Erinnerung Bleibende, das Emotionale und am Ende Funktionierende, wovon ich im Lesen träume, wenn ich einem neuen Buch die Tür zu meiner Welt öffne. All dies fand ich hier. Auf keine Facette meiner Wunschträume musste ich verzichten. Keine Fragen blieben offen, nichts war verkünstelt, nichts nur konstruiert. Bei Iris Wolff findet man im wahrsten Sinne des Wortes ein Seelenbuch, das nicht mehr loslässt. Und wenn ich hier von einer einfachen Geschichte spreche, dann ist dies nie abwertend. Es bedeutet nur, dass ich mich auch noch in Jahren bei der Erwähnung des Titels „Die Unschärfe der Welt“ an die Handlung, Personen und Botschaften erinnern werde, die mir Iris Wolff ins Logbuch meines Lesens geschrieben hat…
„Wenn die Traurigkeit in der Brust wohnt,
dann steckt die Lustigkeit in den Zehen.“
Es ist eine Familiengeschichte über vier Generationen, die sich hier auf schlichten 213 Seiten vor unseren Augen entfaltet. Wo andere Autoren vielleicht epische Breite in mehreren Bänden einer Reihe benötigt hätten, vertraut Iris Wolff darauf, dass wir auch das Nicht-Erzählte verstehen und empfinden können. Sie bringt uns ihren Charakteren so nah, dass wir sie fühlen und weiterdenken können, wo die Sprache endet. Wir sind in Rumänien, in Siebenbürgen, im Banat. Historisch betrachtet folgen wir einer Familie in eine von der Weltgeschichte zerrissensten Regionen unserer Erde. Heimat wird hier nicht durch Grenzen, sondern durch Gefühl und emotionale Verwurzelung definiert. In keiner anderen Region wurden Menschen im Lauf des 20. Jahrhunderts so entwurzelt, wie hier. Was mit Banater Schwaben begann, durch Ideologien, Kriege und Grenzen beeinflusst und durch Diktatoren bekämpft wurde, führt zu einem dramatischen Verlust von Zugehörigkeit. Hier spielt diese Geschichte. Eine Region, in der noch nicht mal die Suppen eine tradierte Herkunft haben. Besonders nicht in den 1970er Jahren.
„Dass hier niemand eine einheimische Suppe zu kochen imstande ist.“
„Was meinst du mit einheimisch? Schwäbisch, slowakisch, ungarisch,
rumänisch, tschechisch, jüdisch oder vielleicht serbisch?“ fragte Florentine
Es sind die Menschen, die uns Iris Wolff ins Herz schreibt. Es sind ihre Geschichten, die zu einem Familiengemälde werden, das wir zu deuten wissen. Es ist die Generation des Krieges, die enteignet und vertrieben nur noch an die gute alte Zeit denkt. Es sind die Gefühle der Alten, die im Rumänien Ceaușescus, in dem sie als Deutsche gelten, obwohl sie genau das schon unter den Deutschen Nationalsozialisten nie wahren. Ein Gefühl, das sich in den Kindern fortpflanzt und zur emotionalen Stellgröße des Lebens wird. Wo gehöre ich hin, wo gehöre ich dazu? Eine Familie wird zur letzten Keimzelle von Heimat. Ein harter Kampf im Unrechtssystem einer kommunistischen Diktatur. Es sind die Menschen, mit denen uns Iris Wolff verbindet.
Es sind die großen und kleinen Geschichten, die bewegen: Es sind Menschen, wie:
Florentine und Hannes, die im Banat leben und bei der Geburt ihres Sohnes Samuel erkennen müssen, was es heißt, in Rumänien wie Menschen zweiter Klasse behandelt (oder eben nicht behandelt) zu werden. „Lass mir das Kind„, so lauten die allerersten Zeilen des Romans. Worte, die uns auf ewig mit Florentine verbinden. Eine Mutter, die nach ihrem eigenen Leben sucht, Poesie im Blut hat, Dinge anders sieht und die Welt noch nicht aufgegeben hat. Ihre Leidenschaft lebt von der Sehnsucht und der Liebe zu ihren Männern. Hannes ist ihre Mitte, Samuel ihre Zugehörigkeit und beide machen sie zum Dreh- und Angelpunkt einer Familie, die bis in unsere Zeit hinein reicht.
Samuel, der spät beginnt zu sprechen, spät beginnt zu fühlen, niemals aufhört, sich zu sehnen. Ein junger Mann in einem Rumänien, in dem die Macht der Großen darauf basiert, dass die Kleinen schuldig zu sein haben. Samuel als Erbe des Verrats, der am eigenen Vater begangen wurde. Er, der vorsichtig Fühlende, wird erweckt von einer jungen Frau, deren Nähe nicht leicht zu gewinnen ist. Beide tragen den Genpool ihrer Vorfahren in sich, was ihre Liebe auf eine harte Probe stellt. Stana, die Tochter eines Mannes, der alles für das Regime tun würde und tut. Liebevoll nur SANA genannt, beginnt in ihr die neue Welt.
Und es sind Begegnungen mit Menschen, die nur am Rande erscheinen, niemals jedoch nur Randfiguren sind. Reisende aus der DDR, die sich hier freier fühlen, als in der Heimat, Freunde, die ihre Kinder verlieren und nicht mehr zurück ins Leben finden. Iris Wolff verbindet uns. Sie verbindet alles. Unschärfe entsteht nur dann, wenn wir zu nah an den Einzelnen herantreten. Iris Wolffs Blick ist der eines Adlers. Es ist Poesie, der wir in der „Unschärfe der Welt“ begegnen. Es ist die harte Abrechnung mit dem kommunistischen System, die sich einzigartige Wege bahnt. Und es ist die einfachste Liebesgeschichte der Welt, die wir hier im Inneren der Frucht entdecken.
„Samuel hatte, ohne es zu wissen, die Landkarte ihres Körpers für sich eingenommen, und wenn es etwas gab, wofür sie an diesem Abend
dankbar war, dann, dass dieser Atlas unsichtbar war.“
Für Stana ist die Annäherung an Samuel ein Experiment. Sie lebt im Einklang mit den Ahornblättern, die sie „Windwanderer“ nennt, überwindet die Konflikte und trägt die Zukunft in ihrem Herzen. In ihr gipfelt die Einfachheit der Liebesgeschichte. Mit ihr erleben wir die Flucht ihres Lebens-Mannes. Mit ihr schweigen wir fortan beharrlich. In sie versetzen wir uns hinein, als der Eiserne Vorhang fällt und die rumänische Diktatur stürzt. Mit ihr fühlen wir, als Florentine ihrem Sohn drei Worte schreibt. „Komm nach Haus“. An ihrer Seite warten wir auf den flüchtigen Samuel, der zum ersten Mal seit der Flucht die Heimat wiedersieht. An ihrer Seite erfüllt sich alles, wovon wir träumten.
Ich war nach der Revolution selbst in Rumänien, betrat den Palast Ceaușescus in Bukarest. Ich war betroffen und wütend angesichts des Widerspruchs zwischen Macht und der Armut der Menschen. Ich habe das nie ganz verarbeitet. Iris Wolff hat mir den Schlüssel in die Hand gelegt, mit dem ich den Palast erneut betreten durfte. Sie hat mir einen Ausweg aus dem Prunk gezeigt. Ganz einfach. Ganz poetisch und tiefgründig. In meinem Lesen bin ich solchen Worten noch nicht begegnet. Und sie hat mir die Frage beantwortet, ob ein Roman in der heutigen Zeit nicht auch einfach nur schön sein und schön enden kann. Ja. Ein eindeutiges Ja. Es darf, kann und muss sie geben. Diese Geschichten, die uns am Ende vor Freude weinen lassen. Dafür bin ich dankbar.
Ich werde Iris Wolff in München begegnen. Im Rahmen der „Buchmlessespitzen„ liest sie am 16. Oktober um 18 Uhr im Münchner Literaturhaus. Mein Interview für Literatur Radio Hörbahn wird anschließend veröffentlicht.
Der Roman von Iris Wolff ist für den diesjährigen „Bayerischen Buchpreis„ in der Kategorie Belletristik nominiert. Da ich dieses Literatur-Event als Buchpreisblogger begleiten darf, werde ich auch die weiteren nominierten Titel lesen. Die Preisverleihung erfolgt am 19. November. Alle bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten Artikel finden Sie auf meiner Projektseite zum weißen Porzellanlöwen. Gemeinsam mit Sophie Weigand von „Literaturen„ und Thomas Hummitzsch von „Intellectures“ wage ich erneut den Versuch, mich den Nominierten neutral zu nähern. Nominiert sind:
Ulrike Draesner: Schwitters (Penguin Verlag)
Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik (Hanser Literaturverlage)
Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (Klett-Cotta Verlag)
Warum ich bereits jetzt denke, dass „Die Unschärfe der Welt“ ein preiswürdiger Roman ist? Weil ich es tief in mir drin gespürt habe. Mit jeder Faser meines lesenden Herzens und mit jedem Wort, das ich aufsaugen durfte. Dieses Buch zu lesen ist wohl die beste Entscheidung, die man am Anfang des Lesens treffen kann. Denn:
„Für Anfänge musste man sich entscheiden, Enden kamen von allein,
wenn man sich nicht entschieden hatte.“
Frankfurter Buchmesse, digital. Eine neue literarische Welt, die uns in diesem Jahr erwartet, bringt auch ihre guten Seiten mit sich. Die Buchmessespitzen in München lässt Schriftsteller*innen in der bayerischen Metropole mit ihren Werken auftreten, die zu genau diesem Zeitpunkt in Frankfurt die Messehallen dominieren würden. Ich hatte die Ehre im Rahmen dieser Lesungsveranstaltung dieses Interview für Literatur Radio Hörbahn führen zu können, auf das ich mich besonders gefreut habe.
Iris Wolff im Gespräch
Ein Gespräch über literarische Zauberer, heimatlose Suppen, Windwanderer, ein satirisches Staatsbegräbnis, Heimat, Sehnsucht, Siebenbürgen und natürlich die Nominierung zum Bayerischen Buchpreis. Ganz nebenbei erfahren Sie, welchen eigentlichen Titel der Roman lange Zeit trug. Hier geht´s zum PodCast.