Schwitters von Ulrike Draesner

Schwitters von Ulrike Draesner - AstroLibrium

Schwitters von Ulrike Draesner

Beschäftigt man sich intensiv mit dem Roman „Schwitters“ von Ulrike Draesner, dann begegnet man der Autorin sehr schnell in den Weiten des Internets und kann ihr aufmerksam zuhören, wenn sie über die Entstehungsgeschichte ihres Romans spricht und versucht, die Deutungshoheit über ihr Buch zu behalten. Ein spannender Prozess für Lesende, wenn sich eine Autorin offensiv mit dem eigenen Roman auseinandersetzt und tiefe Einblicke gewährt, was sie inspiriert hat, über Kurt Schwitters zu schreiben. Für sie stand eine Frage im Mittelpunkt: „Wie schreibt man ein Leben?“ Wie schafft man es, die Lebensgeschichte eines Künstlers in Worte zu fassen, der sich eigentlich jeder biografischen Betrachtung verweigert hätte? Was ist „Life Writing“ und wie kann man verhindern, dass die wesentlichen Themen im Leben des großen Dadaisten nicht in der alltäglichen Banalität untergehen?

Diese Fragen haben mich in diesen Roman getrieben. Diese Konfrontation mit dem eigenen Schreiben hat mich fasziniert. Darüber hinaus bin ich Ulrike Draesner schon in ihrem „Kanalschwimmer“ begegnet und war fasziniert von der sprachlichen Brillanz ihrer Erzählung. Nun schreibt sie also über einen kunstbesessenen, exzessiv lebenden Kreativen, dessen Leben sich jeder Einordnung entzieht. Ein Mann, der nur sich selbst, nicht jedoch den Menschen in seiner Nähe treu war. Ein Mann, dem das Schreiben im nationalsozialistischen Deutschland verboten wurde, dessen bildende Kunst für alle Zeit als „entartet“ diffamiert und bloßgestellt wurde und den man zur Flucht zwang, weil es in der Heimat einfach zu gefährlich für ihn wurde. Eine Flucht, die die für ihn zu einer Odyssee ohne Wiederkehr wurde.

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Schwitters von Ulrike Draesner

Es wird sehr schnell klar, wie sich Ulrike Draesner dem Künstler und Menschen Kurt Schwitters annähert. Sie schreibt nicht über ihn. Sie schreibt ihn. Sie spiegelt seine Wortwerke, Collagen, Skulpturen und Installationen in seinen Geist und lässt ihn zu Wort kommen. Er, der von der Kunst Getriebene, der Rastlose, der vom Verbot zu schreiben in die Flucht zur bildenden Kunst Gehetzte, der sich Verbarrikadierende und heimlich Erschaffende, der Unverstandene und Entartete. Er findet in der Autorin, die voller Empathie in ihn eintaucht, eine neue Stimme. Ulrike Draesner spielt mit uns und mit den Schubladen, in die wir das Buch gerne einsortieren würde. Ein Kunstroman? Sicher. Auf seine ganz eigene Weise. Ein biografischer Roman? Ganz bestimmt im Kern seines Wesens. Und doch spricht dieses Buch eine ganz andere Sprache. Hier wird zeitlos, was endlich war. Hier wird offensichtlich, was verborgen werden sollte.

Wir betreten an der Seite von Kurt Schwitters seinen Merzbau. Ein Biotop seiner Energie, ein Refugium des Staunens und ein avantgardistischer Kunstraum in der Villa in Hannover. Alltagsmüll, Fundstücke, Zeitungsschnipsel. Alles, was ihn inspiriert wird in dieser verborgenen Galerie zu Kunst. Jeder Vorwurf des Entarteten verpufft, da wir an der Seite der unsichtbar agierenden Schriftstellerin einen Zugang zu einem Menschen erhalten, der sein Publikum und letztlich auch sein Selbstwertgefühl verloren hatte. Hier wird die Kunst eines Kurt Schwitters zum Auge des Orkans, in dem er lebt. Und nicht nur das. Wir folgen den Flutwellen seiner Kreativität, beobachten die Außenwelt durch Spiegel, die er an seinem Haus angebracht hatte, um vor den braunen Schergen und ihrer Willkür gewarnt zu sein. Ulrike Draesner findet eine Erzählstimme, der man nicht entfliehen kann. Kurt Schwitters zeigt uns, wie entartet die Welt vor seiner Haustür ist.

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SCHWITTERS von Ulrike Draesner

An diesem Punkt angelangt, wird aus dem Roman ein eigenständiger Merzbau„. Hier wird alles versammelt, was den Menschen Kurt Schwitters auszeichnet, bestimmt und in Erinnerung hält. Eine Collage zwischen zwei Buchdeckeln, die ein eigenes und nachhaltiges Leben voller Botschaften entwickelt. Ulrike Drasener wird in ihrem Buch zur Wortdadaistin, die ein Erbe anzutreten scheint, das Kurt Schwitters bisher verwehrt war. Sie lässt in unglaublich intensiven Rhythmuswechseln die Menschen aus seinem Umfeld zu Wort kommen. Die Ehefrau, den Sohn, seine spätere englische Frau. Wir sind gefangen im „Merzbau“ dieses Romans, wie in einem Künstlerarchiv, und folgen dem Leben Kurt Schwitters über die Etappen seiner Flucht. Eine Collage, die ihn im Lauf der Jahre so spiegelt, wie es gewesen sein könnte. Die ihn denken lässt, wie er gedacht haben mag. Eine „Life-Writing-Collage„, die aus der Art schlägt. Wohl das größte Kompliment für einen Roman über einen Dadaisten, der als entartet galt.

Schwitters zu folgen gleicht literarischer Magie. Zu erleben, was Entwurzelung bei einem Künstler bedeutet, dessen Kunst sich im Inneren seiner Villa manifestiert, schafft unglaubliche Nähe. Ihn mit seinem Sohn auf seiner Flucht nach Norwegen zu begleiten, zeigt die Ausweglosigkeit des Unterfangens. Die Wehrmacht ist omnipräsent. Und doch erschafft Kurt Schwitters an allen Orten seiner Flucht Merzräume, die Zeugnis ablegen. Seiner Frau Helma zu folgen, die in Hannover die Stellung hält, um den Merzbau gegen die Nazis zu verteidigen, gehört zu den bewegendsten Teilen dieser Collage. Sie wird Zeugin von Deportationen, erlebt Hausdurchsuchungen der heftigsten Art und erleidet die Bombardierung ihrer Heimatstadt in einem furiosen Kapitel des Romans. Nur Kurt Schwitters lebt in einer eigenen Welt. Norwegen, England, die dortige Inhaftierung als „Enemy Alien“ und der Befreiungsschlag an der Seite einer neuen Frau lassen ihn im Verlauf des Romans in einem Licht erscheinen, das er wohl selbst niemals angemacht hätte.

SCHWITTERS von Ulrike Draesner

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Es ist ein sprachliches Bravourstück, das Ulrike Drasener gelingt, indem sie Kurt Schwitters pulsierende Rückkehr zur feinen Wortkunst zu Papier bringt. Der Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland fällt ihm kurz vor der Invasion in die Hände. In Lautschrift werden die Invasoren auf die deutsche Sprache vorbereitet und der einstig wortgewaltige Immigrant beginnt nun mit der englischen Sprache zu spielen. Hier wird Sprachkunst zur Erzählkunst. Ulrike Draesner erzählt eine Geschichte vom Verlust in den Wirren des Krieges. Sie erzählt von Untreue, Treue und Obsession. Ihr merkt man an, dass sie niemals im Sinn hatte, eine einfache Romanbiografie zu schreiben. Dafür ist „Schwitters“ zu komplex angelegt, zu facettenreich konstruiert und zu farbgewaltig in Szene gesetzt.

Was bewirkte dieses Buch in mir? Eine Frage, die mich begleitete. Nein, ich finde keinen inhaltlichen Zugang zum Dadaismus, zur Entkörperlichung von Gegenständen in einer abstrakten Umwelt. Mein Kunstverständnis findet in Franz Marc seinen Höhepunkt und auch schon seine Grenzen. Auch er galt als entartet. Seine Werke wurden mit den Collagen von Schwitters in der Ausstellung „Entartete Kunst“ vorgeführt. Würde ich nun einen Merzbau betreten, meine Perspektive wäre anders. Verständiger, emotionaler in Bezug auf die Menschen, die von dieser Kunst betroffen waren. Ulrike Draesner hat in mir etwas losgetreten, das vorher von Unverständnis charakterisiert war. Was kann in der Literatur schöner sein? Ich schaue mich um und erkenne in meiner Wohnung den Merzbau meines Lebens. Verwurzelt, immobil und vor aller Welt verborgen. Ich hoffe, dass sich Ulrike Draesner niemals in mich hinein recherchiert und denkt. Das vereint mich mit Kurt Schwitters. Diese Collage meines Lebens wäre zu tiefgründig.

Und bevor mir jemand moralisch kommt: Ja, auch ich hätte mich in Wantee verliebt, die englische Frau an der Seite von Kurt Schwitters, die nicht nur Lebensgefährtin und später dann Nachlassverwalterin wurde. Sie war alles, was ihr Spitzname impliziert.

Edith „Wantee“ Thomas hatte ihm gezeigt, dass want auch fehlen bedeutete. Englisch-logisch: Wantee hatte ihm gefehlt.

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SCHWITTERS von Ulrike Draesner

Constanze von Zeichen & Zeiten schreibt: Ein großes Buch, dem man sich wieder und wieder widmen kann und sollte, weil es so reich in vielerlei Hinsicht ist.

Schwitters von Ulrike Draesner ist für den Bayerischen Buchpreis 2020 in der Kategorie Belletristik nominiert. Da ich dieses Literatur-Event als Buchpreisblogger begleiten darf, werde ich auch die weiteren nominierten Titel lesen. Die Preisverleihung erfolgt am 19. November. Alle bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten Artikel finden Sie auf meiner Projektseite zum weißen Porzellanlöwen. Gemeinsam mit Sophie Weigand von „Literaturen und Thomas Hummitzsch von „Intellectures“ wage ich erneut den Versuch, mich den Nominierten neutral zu nähern. Nominiert sind:

Ulrike Draesner: Schwitters (Penguin Verlag)
Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik (Hanser Literaturverlage)
Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (Klett-Cotta Verlag)

Warum ich schon jetzt denke, dass Ulrike Draesner einen preiswürdigen Roman geschrieben hat? Ihr gelingt mit ihren Worten etwas, das sie in ihrem Buch eigentlich ihrem Protagnisten Kurt Schwitters zugeschrieben hat:

Menschen mit Worten aus ihren Dreiteilern, Leibbindern und Uniformen schmelzen.

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UPDATE 19.11.2020 – Gewinnerin des Bayerischen Buchpreises – Belletristik

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5 Gedanken zu „Schwitters von Ulrike Draesner

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