Du bist auf der Flucht. Der Alltag ist hinter dir her und du kannst sie nicht mehr hören, all die Parolen aus den Weiten des Internets, all die Nachrichten, Gerüchte und fatalen Aufmerksamkeitserreger, die dir die Kraft rauben. Corona, Wahlkampf, fallende Türme, Kriege und Konflikte. Alles nagt an dir und zieht dich runter. Du willst nur raus aus dem Kreislauf des alltäglichen Wahnsinns und rettest dich in ein Buch. Und schon die ersten Worte wiegen dich in ihren Armen. Sie umfassen dich und lassen dich vergessen…
„Es gibt noch immer Felder in England, die so ungeheuer groß sind, dass du
eine Stunde oder länger an ihnen entlanggehen oder sie überqueren oder durchqueren kannst und es dir so vorkommt, als hättest du dich keinen Zentimeter bewegt.“
Das Tempo entweicht und du lässt dich fallen. Wie eine Saugglocke, die sich leise senkt, schottet dich ein Schriftsteller vor der wahren Welt und ihren Schattenseiten ab. Er ist kein Unbekannter für dich. Du hast ihm schon einmal dein Lesen anvertraut und er hat dich wohlbehalten durch die „Offene See“ getragen. Nun schließt er den Kreis und entführt dich in seine Felder. Du lässt los, entspannst und genießt. Wort für Wort.
„Es gibt Felder, die irgendwo im Nirgendwo liegen, Felder, größer als Dörfer. Felder, die hunderte Menschen ernähren und Lebensraum für Tausende
oder gar Millionen von koexistierenden Geschöpfen und Arten bieten,
von der winzigsten Zecke bis zum größten Hirsch.“
Hier im Nirgendwo atmest du den Rhythmus seiner Worte, inhalierst den Extrakt seiner Beschreibungen und wirst eins mit einer Erzählstimme, die dich bedächtig auf eine Geschichte vorbereitet, die sich in dir festsetzen wird. Eine Geschichte, die keinen Makel hat, die in Schönheit badet, und doch erst erzählt werden konnte, nachdem sich auch ihre Protagonisten in dieses Buch retten konnten. „Der perfekte Kreis“ liegt jetzt vor dir. Du musst ihn nur noch betreten, dich treiben lassen und die Wurzeln spüren, in die er dich verwickelt…
„In diese Felder greifen die Wurzeln einer Insel hinein. Sie greifen und tasten nach Sinn, nach Erkenntnis. Sie sind Teil der Geschichte, die ohne Ende ist.“
Hier spürst du, dass deine Flucht gelungen ist. Der Alltag bleibt als träges Rauschen zurück, das nicht mehr an dir zieht. Die Verantwortung für die Deinen ist noch da, es ist nur so unglaublich angenehm zu fühlen, wie deine Kraft zurückkehrt, wie sich die Akkus in deinem Inneren aufladen und die Bereitschaft wächst, tiefer in die Felder einzutreten.
„Und in einer stillen Sommernacht draußen auf den Feldern, wo der Himmel
ein umgedrehter Spiegel ist…, erhebt sich ein leichter Wind, der ein Meer von Platinnadeln zum Flimmern bringt, und seltsame Geschichten geschehen.“
Lass sie geschehen, diese Geschichten…!
Und genau da beginnt „Der perfekte Kreis“. Im Jahr 1989 im Süden Englands, als in Kornfeldern kreisrunde Muster auftauchen und wilde Spekulationen hervorrufen, ob sie von Menschen oder gar Außerirdischen stammen. Zu gleichmäßig, zu künstlerisch und viel zu ungewöhnlich sind die kreisrunden Muster der Kornkreise, als dass man sie als Alltagsphänomene abhaken könnte. In Wahrheit jedoch sollten diese Kreise die Namen ihrer Schöpfer tragen. Calvert und Redbone. Freunde seit ewigen Zeiten und doch so unterschiedlich, wie zwei Menschen nur sein können. Verschwiegen und geheimnisvoll, wenn es um ihre Vergangenheit geht. Nicht gerade Plaudertaschen, was ihre jeweilige Zukunft betrifft. Und doch ein eingespieltes Team, wenn es darum geht, die mysteriösen Kornkreise in ihre Landschaft zu ziehen. Es gleicht einer perfekten Choreografie, dem nie geprobten und doch blind aufgeführten Tanz zweier bildgewaltiger Visionäre, wenn man sie zu ihren nächtlichen Vorhaben und geheimen Tatorten folgt und ihnen zusieht, wie sie ihre Kreise ziehen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Benjamin Myers erzählt keine Geschichte im ursprünglichen Sinn. Er scheint einer inneren Eingebung zu folgen, die ihn zum aufmerksamen Chronisten jener Kunstwerke seiner Protagonisten macht. Er heftet sich an ihre Fersen, folgt ihnen in die Felder ihrer Heimat und beobachtet sie bei ihrem kreativen Schaffen. Sie verändern die Umwelt und mit dieser Veränderung bewirken sie eine veränderte Wahrnehmung genau dieser Welt in den Augen der Betrachter. Mit feinem Pinselstrich entsteht das Psychogramm zweier Männer, die man auf den ersten Blick niemals mit ihren geheimnisvollen Kornkreisen in Verbindung bringen würde. Jeder Kreis ein eigenes Kapitel. Jedes Kapitel am Ende mit einer Pressemeldung abgerundet. Jeder Kreis ein Kunstwerk. Ihre Schöpfer – anonym. Das haben sie sich geschworen, die beiden Männer, deren Wunden nur heilen können, wenn sie unentdeckt weitermachen können.
Man spürt dieser Geschichte deutlich an, dass sie ihren Autor schlicht überfallen und gezwungen haben muss, sie niederzuschreiben. Es ist eine wortgewaltige Dynamik, die sich hier Raum verschafft. Es sind dynamische Satzkonstruktionen voller Kreativität, die einerseits beruhigen, andererseits aber aufwühlen und antreiben. Es sind die Kreise, in die wir abtauchen. Es sind die Mythen, die sie ausstrahlen und es der pure unmittelbare Schöpfungsakt, dem wir beiwohnen, ohne ihn genau zu verstehen. Benjamin Myers ist es gelungen, weit in den Hintergrund zu treten und seinen Roman für sich sprechen zu lassen. Was fragmentarisch wirkt, erhält seinen Sinn in den Kreisen. Was unvollständig klingt, wächst im Lesen zusammen. Wo manchmal die sogenannten Sidekicks fehlen, in denen man in Romanen so gerne abschweift, erlangen die Kreise die metaphorische und selbsterklärende Reife eines großen Gestaltungsprozesses. Das Innerste wird hier nach außen gekehrt. In der vermeintlichen, tatsächlich jedoch vermiedenen Zerstörung der Kornfelder liegt eine Magie verborgen, die Neues sichtbar werden lässt. Benjamin Myers metaphert nicht. Er tritt nur altbekannte literarische Muster flach und lässt neue entstehen.
Die Deutungshoheit überlässt er seiner Leserschaft, was ihn so sympathisch macht. Sein Roman schließt viele Kreise. Wo er zu scheitern droht, befreit er sich mit Urgewalt und Verve aus den Fesseln der Kritik. Die ewige Suche nach dem perfekten Kreis treibt die beiden Kreisläufer an. Ihm gilt ihr ganzes Streben. Ihm ordnen sie alles unter. Jede Panne, jede zufällige Begegnung und ihr eigenes Sein. Unfassbar schön, in einer Welt des Unbeständigen durch unbeständige Kunst den Hauch von Ordnung und Schönheit zu erschaffen. „Die offene See“ erzählte eine geschlossene Geschichte und mutierte in kürzester Zeit zum Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen. Ob es Benjamin Myers auch mit „Der perfekte Kreis“ gelingen wird, seine Leser zu begeistern, liegt an uns ganz allein. Stellen wir uns vor, wir wären ein Kornfeld. Stellen wir uns einfach vor, es wäre Calvert und Redbone gelungen, uns ein ganz klein wenig zu verändern. Und dann stellen wir uns vor, welches Muster wir sehen könnten. Eines, das schon immer in uns ruhte. Nur zu verborgen, es zu sehen. Der perfekte Kreis. Poetisch und eine runde Sache.
A propos runde Sache. Natürlich kann man sich die Geschichte der Kornkreise auch als Hörbuch aus dem Hause Der Audio Verlag zu Gemüte führen. Fast sechseinhalb Stunden dauert die ungekürzte Lesung, in der uns Sprecher Sebastian Rudolph mit seiner Stimmkunst zu gebannten Zuhörern macht. Es fühlt sich an, als würde er ganz langsam Steine in einen See werfen. Die so entstehenden Kreise erreichen das Ufer und versetzen uns in Erstaunen. Auch, wenn dieser Roman sehr polarisieren wird, in seiner klaren Eigenständigkeit und in den Unterschieden zu klassischen Plots wird er Anklang finden. Auch für Hörbuchliebhaber ein echter Ohrenschmaus. Ich empfehle ein Bett im Kornfeld, einen guten Landwein und diese CD. Dann geht´s rund…