Wir sind das Licht von Gerda Blees

Wir sind das Licht von Gerda Blees - Astrolibrium

Wir sind das Licht von Gerda Blees

Oh ja, wir lieben das schon sehr. Perspektivwechsel sind in der Literatur oftmals das Salz in der Suppe, wenn es darum geht, ein Szenario von mehreren Seiten einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Hier sind unerwartete Wendungen verborgen, hier klärt sich so manches Geheimnis auf und genau mit diesem Stilmittel wird mit den großen Klischees innerhalb einer Geschichte aufgeräumt. Und wenn es einen Roman gibt, der sich diesem Vexierspiel der Sichtweisen zu einhundert Prozent verschrieben hat, dann ist es „Wir sind das Licht“ der niederländischen Autorin Gerda Blees. Wer jetzt denken sollte: „Hatten wir doch schon…“, „Muss man doch nicht so hervorheben“, oder „Nicht schon wieder vier Protagonisten und ihre Doppelsicht auf ein altbekanntes Setting“, sollte unbedingt weiterlesen. Denn genau das ist dieser Roman nicht. Gerda Blees bricht mit allen Konventionen, wirft viele Erzähltraditionen über den Haufen und besticht literarisch, indem sie sich dem Sprachlosen, Immobilen und nicht Lebendigen des Settings annähert und ihnen Stimme, Ausdruck, Charakter und Leben verleiht.

Neugierig geworden? Fein. Das war das Ziel. Also, worum geht es augenscheinlich in diesem schon auf den ersten Blick ungewöhnlichen Plot? Versetzen wir uns mal in eine ganz normale Wohnung. Die Heimat der Wohngruppe „Klang & Liebe“ in der sich vier Menschen auf ein besonderes Miteinander eingelassen haben. Wir würden es vielleicht als alternativ bezeichnen. Mag man sehen, wie man will, jedenfalls muss etwas passiert sein, denn bei Licht besehen stimmt hier gerade gar nichts mehr. Eine Bewohnerin lebt nicht mehr. Oder besser gesagt: Sie ist in der letzten Nacht verstorben. Oder, um es im Klartext auf den Punkt zu bringen, sie ist verhungert. Der Rest der Wohngemeinschaft erlebt den Morgen nach dem Tod von Elisabeth aufgewühlt und voller Zweifel. Es sind noch drei weitere Personen in der Wohnung. Ein Mann und zwei Frauen. Melodie van Hellingen, die Schwester der Toten und das Pärchen Muriel und Petrus. Wie kann ein Mensch, der nicht alleine lebt, verhungern? Das mögen wir uns fragen. Aber glaubt mir, das ist nur eine von tausend Fragen, die uns bereits im ersten Kapitel dieses Romans in den Sinn kommen. Denn auch die anderen Mitbewohner sind ausgehungert und fast am Ende ihrer Kräfte…

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Wir sind das Licht von Gerda Blees

Ihr denkt nun, dass ihr durch die Perspektiven der Überlebenden in diese Geschichte hineingesaugt werdet. Ihr denkt, ihr würdet nun durch wechselnde Sichtweisen auf die Ursachen der Ausgangssituation stoßen. Ihr denkt, nun würden die Menschen zu Wort kommen und vom Hunger, vom Sterben, von der gemeinsamen Philosophie und jener Wohngemeinschaft erzählen, die uns so fremd erscheint? Falsch! Ganz falsch. Es sind die wohl außergewöhnlichsten Perspektiven, die Gerda Blees hier ins literarische Feld führt, um uns die Augen zu öffnen. Um unser atemloses Staunen in einem Zustand der Dauererregung zu versetzen und uns als Augen- und Ohrenzeugen zu fesseln. Es sind Perspektiven, die in dieser Form noch niemals zuvor ihre Stimme erhoben haben. Hier sind einige von ihnen, die sich zu Beginn der jeweiligen Kapitel höflich vorstellen:

Wir sind die Nacht,
Wir sind der Tatort,
Wir sind die Nachbarn,
Wir sind ein Orangenduft,
Wir sind ein Cello,
Wir sind die Fakten,
Wir sind die Zweifel,
Wir sind Elisabeths Körper
und natürlich und ganz zuletzt

Wir sind das Licht..

Es wird emotional, unheimlich, weltbewegend und kurios, wenn wir uns auf diese Perspektiven einlassen. Wann hat uns jemals ein Tatort erzählt, wie er sich fühlt, was ihn selbst zum Tatort werden lässt und wie verletzt er sich in all diesem Durcheinander fühlt. Vom Tatort erfahren wir viel, werden Zeugen der ersten Dialoge der Ermittler und bekommen ein Gefühl für einen Raum. Das ist literarisch mehr als brillant…

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Wir sind das Licht von Gerda Blees

Wir sind der Tatort:

„Sie passen nicht hierher, diese Menschen. Sie sind zu groß, zu breit, zu laut. Unsere Treppenstufen sind so stampfende, schwere Körper gar nicht mehr gewöhnt. Weder das Gewicht noch das Geräusch. Sie könnten ruhig etwas vorsichtiger mit uns umgehen, wenn man bedenkt, dass wir der Ort sind,
an dem die Antwort liegt.“

Es sind die beiden Elemente, die uns zu Süchtigen machen. Es ist die Geschichte, die sich immer weiter erklärt, und es sind die Sichtweisen, die uns faszinieren und die uns nachhaltig beschäftigen. Jeder Perspektive können wir Details abgewinnen, jeder Sichtweise, jedem Gegenstand, jedem Gefühl, jedem Begriff fühlen wir uns nach dem letzten Wort verbunden. Dabei gelingt es Gerda Blees, die Personen nicht zu Figuren zu degradieren, die kaum eine eigene Rolle spielen. Ganz im Gegenteil. „Wir sind das Licht“ lebt von der morbiden Vitalität der Protagonisten. Der Roman erzählt sich selbst. Im wahrsten Wortsinn. Spätestens, wenn sich die Erzählung selbst an uns richtet, ist es die Gänsehaut des Angesprochenen, der hier verweilt und sich hinterfragt.

Wir sind die Erzählung

„Und das wird uns als Erzählung nicht gerecht, vor allem nicht in Kombination mit Ihnen, dem Leser, denn beabsichtigt oder unbeabsichtigt haben Sie genauso viel Schuld an allen Unklarheiten wie die Autorin. Wie oft haben sie beim Lesen an etwas anderes gedacht? Und wie oft haben sie etwas in uns gelesen, was da gar nicht stand?

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Wir sind das Licht von Gerda Blees

Jede einzelne Perspektive weiß zu überzeugen. Jede trägt erheblich zur Klärung des Falles bei. Jede dieser auskunftsfreudigen Sichtweisen hilft uns dabei, unseren Weg zu finden und aufmerksamer zu werden. Wir lernen die Akteure kennen. Überlebende und eine Tote. Polizisten, Nachbarn, Angehörige. Und wir lernen jene Rahmenbedingungen kennen, die ins fatale Verderben führen. Dies ist eine Geschichte von Leichtgläubigkeit und Verführung. Von der Suche nach dem Sinn im Leben und den Profiteuren alternativ zu lebender Leben. Ernährung durch Licht? Eine Sekte? Glaube an Selbstreinigung im Verlust der eigenen Körperlichkeit? Schwurbelei? All dies findet sich in diesem Roman. Bewegend und erschütternd. Essstörungen prallen auf Nahrungsverweigerung. Harter Stoff in hartem Gewand. Nichts wird beschönigt. Ein Debütroman von einer Wucht, die laut nach Aufmerksamkeit schreit. In jeder Form…

Ich habe den Roman gelesen und bin regelmäßig in die brillante Hörbuchfassung abgetaucht. Hier sind es vier Stimmen in dieser ungekürzten Lesung, die Perspektiven hörbar machen. Es ist kein Stimmgewitter, keine Überlagerung, es ist das konsequente Aufzeigen der einzelnen Sichtweisen, die dann konzentriert ihren Vortrag an uns Hörer richten. Eindringlich. Bemerkenswert und voller Tiefgang. Es waren extrem emotionale Momente, die mich im Hörbuch direkt berührten. Es ist die Autopsie der Toten, die für mich zu den literarischen Highlights des Romans gehört. Diese Sequenz zu hören, ist ein so aktiver Moment der Auseinandersetzung mit diesem Text, dass man sich kaum entziehen kann. Die Begegnung einer Leiche mit dem Pathologen bleibt tief in meiner Erinnerung. Ich las selten etwas Bewegenderes, noch hörte ich es zuvor…

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Wir sind Elisabeths Körper

„Hätte Elisabeth während ihres Lebens nur halb so viel Bewunderung für uns, ihren eigenen Körper, gehabt, wie Theo gerade, dann würden wir hier nicht liegen… Wenn Elisabeth am Leben geblieben wäre, hätten wir nie erfahren,
wie es ist, von einer liebevollen Hand in unserem Inneren berührt zu werden.“

Wie immer man sich diesem Text auch nähert, er bleibt unvergessen. Lesend ist es möglich, sein eigenes Tempo zu finden, Pausen zu machen und alles auf sich wirken zu lassen. Hörend gerät man in einen Sog, den man lesend kaum selbst erzeugen kann. In jeder Beziehung gelingt es beiden Medien für sich (oder eben auch in der Kombination miteinander) zu überzeugen. Gerda Blees hat einen aufregenden Roman geschrieben, in dem wir Leser das Licht sind und die Perspektiven zusammenführen. Im Hörbuch ist es ein Ensemble brillanter Stimmen, das uns einflüstert, wie wir der Wohngemeinschaft begegnen können. Benno Führmann, Jannik Schümann, Sandrine Mittelstedt und Claudia Michelsen erweitern das Erlebnis Licht um die Dimension Klang. Wer das Buch nicht gelesen und / oder das Hörbuch nicht gehört hat, verpasst ein großes Stück Literatur des Jahres 2022…

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Wir sind das Licht von Gerda Blees

Ein kleines PS. Hörbücher stehen bald im Mittelpunkt unserer GlockenbachWelle. Augen und Ohren auf! Ein Special nicht nur für Hörbuchliebhaber… 

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Der perfekte Kreis von Benjamin Myers

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Der perfekte Kreis von Benjamin Myers

Du bist auf der Flucht. Der Alltag ist hinter dir her und du kannst sie nicht mehr hören, all die Parolen aus den Weiten des Internets, all die Nachrichten, Gerüchte und fatalen Aufmerksamkeitserreger, die dir die Kraft rauben. Corona, Wahlkampf, fallende Türme, Kriege und Konflikte. Alles nagt an dir und zieht dich runter. Du willst nur raus aus dem Kreislauf des alltäglichen Wahnsinns und rettest dich in ein Buch. Und schon die ersten Worte wiegen dich in ihren Armen. Sie umfassen dich und lassen dich vergessen…

„Es gibt noch immer Felder in England, die so ungeheuer groß sind, dass du
eine Stunde oder länger an ihnen entlanggehen oder sie überqueren oder durchqueren kannst und es dir so vorkommt, als hättest du dich keinen Zentimeter bewegt.“

Das Tempo entweicht und du lässt dich fallen. Wie eine Saugglocke, die sich leise senkt, schottet dich ein Schriftsteller vor der wahren Welt und ihren Schattenseiten ab. Er ist kein Unbekannter für dich. Du hast ihm schon einmal dein Lesen anvertraut und er hat dich wohlbehalten durch die „Offene See“ getragen. Nun schließt er den Kreis und entführt dich in seine Felder. Du lässt los, entspannst und genießt. Wort für Wort.

„Es gibt Felder, die irgendwo im Nirgendwo liegen, Felder, größer als Dörfer. Felder, die hunderte Menschen ernähren und Lebensraum für Tausende
oder gar Millionen von koexistierenden Geschöpfen und Arten bieten,
von der winzigsten Zecke bis zum größten Hirsch.“

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Der perfekte Kreis von Benjamin Myers

Hier im Nirgendwo atmest du den Rhythmus seiner Worte, inhalierst den Extrakt seiner Beschreibungen und wirst eins mit einer Erzählstimme, die dich bedächtig auf eine Geschichte vorbereitet, die sich in dir festsetzen wird. Eine Geschichte, die keinen Makel hat, die in Schönheit badet, und doch erst erzählt werden konnte, nachdem sich auch ihre Protagonisten in dieses Buch retten konnten. „Der perfekte Kreis“ liegt jetzt vor dir. Du musst ihn nur noch betreten, dich treiben lassen und die Wurzeln spüren, in die er dich verwickelt…

„In diese Felder greifen die Wurzeln einer Insel hinein. Sie greifen und tasten nach Sinn, nach Erkenntnis. Sie sind Teil der Geschichte, die ohne Ende ist.“

Hier spürst du, dass deine Flucht gelungen ist. Der Alltag bleibt als träges Rauschen zurück, das nicht mehr an dir zieht. Die Verantwortung für die Deinen ist noch da, es ist nur so unglaublich angenehm zu fühlen, wie deine Kraft zurückkehrt, wie sich die Akkus in deinem Inneren aufladen und die Bereitschaft wächst, tiefer in die Felder einzutreten.

„Und in einer stillen Sommernacht draußen auf den Feldern, wo der Himmel
ein umgedrehter Spiegel ist…, erhebt sich ein leichter Wind, der ein Meer von Platinnadeln zum Flimmern bringt, und seltsame Geschichten geschehen.“

Lass sie geschehen, diese Geschichten…!

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Der perfekte Kreis von Benjamin Myers

Und genau da beginnt „Der perfekte Kreis“. Im Jahr 1989 im Süden Englands, als in Kornfeldern kreisrunde Muster auftauchen und wilde Spekulationen hervorrufen, ob sie von Menschen oder gar Außerirdischen stammen. Zu gleichmäßig, zu künstlerisch und viel zu ungewöhnlich sind die kreisrunden Muster der Kornkreise, als dass man sie als Alltagsphänomene abhaken könnte. In Wahrheit jedoch sollten diese Kreise die Namen ihrer Schöpfer tragen. Calvert und Redbone. Freunde seit ewigen Zeiten und doch so unterschiedlich, wie zwei Menschen nur sein können. Verschwiegen und geheimnisvoll, wenn es um ihre Vergangenheit geht. Nicht gerade Plaudertaschen, was ihre jeweilige Zukunft betrifft. Und doch ein eingespieltes Team, wenn es darum geht, die mysteriösen Kornkreise in ihre Landschaft zu ziehen. Es gleicht einer perfekten Choreografie, dem nie geprobten und doch blind aufgeführten Tanz zweier bildgewaltiger Visionäre, wenn man sie zu ihren nächtlichen Vorhaben und geheimen Tatorten folgt und ihnen zusieht, wie sie ihre Kreise ziehen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Benjamin Myers erzählt keine Geschichte im ursprünglichen Sinn. Er scheint einer inneren Eingebung zu folgen, die ihn zum aufmerksamen Chronisten jener Kunstwerke seiner Protagonisten macht. Er heftet sich an ihre Fersen, folgt ihnen in die Felder ihrer Heimat und beobachtet sie bei ihrem kreativen Schaffen. Sie verändern die Umwelt und mit dieser Veränderung bewirken sie eine veränderte Wahrnehmung genau dieser Welt in den Augen der Betrachter. Mit feinem Pinselstrich entsteht das Psychogramm zweier Männer, die man auf den ersten Blick niemals mit ihren geheimnisvollen Kornkreisen in Verbindung bringen würde. Jeder Kreis ein eigenes Kapitel. Jedes Kapitel am Ende mit einer Pressemeldung abgerundet. Jeder Kreis ein Kunstwerk. Ihre Schöpfer – anonym. Das haben sie sich geschworen, die beiden Männer, deren Wunden nur heilen können, wenn sie unentdeckt weitermachen können.

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Der perfekte Kreis von Benjamin Myers

Man spürt dieser Geschichte deutlich an, dass sie ihren Autor schlicht überfallen und gezwungen haben muss, sie niederzuschreiben. Es ist eine wortgewaltige Dynamik, die sich hier Raum verschafft. Es sind dynamische Satzkonstruktionen voller Kreativität, die einerseits beruhigen, andererseits aber aufwühlen und antreiben. Es sind die Kreise, in die wir abtauchen. Es sind die Mythen, die sie ausstrahlen und es der pure unmittelbare Schöpfungsakt, dem wir beiwohnen, ohne ihn genau zu verstehen. Benjamin Myers ist es gelungen, weit in den Hintergrund zu treten und seinen Roman für sich sprechen zu lassen. Was fragmentarisch wirkt, erhält seinen Sinn in den Kreisen. Was unvollständig klingt, wächst im Lesen zusammen. Wo manchmal die sogenannten Sidekicks fehlen, in denen man in Romanen so gerne abschweift, erlangen die Kreise die metaphorische und selbsterklärende Reife eines großen Gestaltungsprozesses. Das Innerste wird hier nach außen gekehrt. In der vermeintlichen, tatsächlich jedoch vermiedenen Zerstörung der Kornfelder liegt eine Magie verborgen, die Neues sichtbar werden lässt. Benjamin Myers metaphert nicht. Er tritt nur altbekannte literarische Muster flach und lässt neue entstehen.

Die Deutungshoheit überlässt er seiner Leserschaft, was ihn so sympathisch macht. Sein Roman schließt viele Kreise. Wo er zu scheitern droht, befreit er sich mit Urgewalt und Verve aus den Fesseln der Kritik. Die ewige Suche nach dem perfekten Kreis treibt die beiden Kreisläufer an. Ihm gilt ihr ganzes Streben. Ihm ordnen sie alles unter. Jede Panne, jede zufällige Begegnung und ihr eigenes Sein. Unfassbar schön, in einer Welt des Unbeständigen durch unbeständige Kunst den Hauch von Ordnung und Schönheit zu erschaffen. „Die offene See“ erzählte eine geschlossene Geschichte und mutierte in kürzester Zeit zum Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen. Ob es Benjamin Myers auch mit „Der perfekte Kreis“ gelingen wird, seine Leser zu begeistern, liegt an uns ganz allein. Stellen wir uns vor, wir wären ein Kornfeld. Stellen wir uns einfach vor, es wäre Calvert und Redbone gelungen, uns ein ganz klein wenig zu verändern. Und dann stellen wir uns vor, welches Muster wir sehen könnten. Eines, das schon immer in uns ruhte. Nur zu verborgen, es zu sehen. Der perfekte Kreis. Poetisch und eine runde Sache.

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Der perfekte Kreis von Benjamin Myers

A propos runde Sache. Natürlich kann man sich die Geschichte der Kornkreise auch als Hörbuch aus dem Hause Der Audio Verlag zu Gemüte führen. Fast sechseinhalb Stunden dauert die ungekürzte Lesung, in der uns Sprecher Sebastian Rudolph mit seiner Stimmkunst zu gebannten Zuhörern macht. Es fühlt sich an, als würde er ganz langsam Steine in einen See werfen. Die so entstehenden Kreise erreichen das Ufer und versetzen uns in Erstaunen. Auch, wenn dieser Roman sehr polarisieren wird, in seiner klaren Eigenständigkeit und in den Unterschieden zu klassischen Plots wird er Anklang finden. Auch für Hörbuchliebhaber ein echter Ohrenschmaus. Ich empfehle ein Bett im Kornfeld, einen guten Landwein und diese CD. Dann geht´s rund…

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Der perfekte Kreis von Benjamin Myers

SAAL 101 – Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess

SAAL 101 - Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess - Astrolibrium

SAAL 101 – Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess – Astrolibrium

NSU – Der Nationalsozialistische UntergrundKaum eine Wortschöpfung hat uns in den letzten Jahren aus rechtsradikaler Sicht so sehr in Atem gehalten, wie diese. Diese rassistische Gruppierung, die im Jahr 1999 aus fremdenfeindlichen Motiven gegründet wurde und zum Ziel hatte, Menschen mit Migrationshintergrund zu ermorden, schockte unsere Republik nicht nur durch ihre reine Existenz. Es war viel mehr das perfide und hinterhältige Vorgehen von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, ihre Morde über viele Jahre hinweg so aussehen zu lassen, als stünden sie ausschließlich mit dem direkten Umfeld der Opfer im Zusammenhang. Nie wurde im rechtsradikalen Raum ermittelt, immer mussten sich die Familien der Opfer damit auseinandersetzen, dass die Polizei in den Bereichen organisierter Kriminalität und Drogendelikte fahndete und Zusammenhänge zwischen den einzelnen Morden kategorisch ausschloss.

Der Nationalsozialistische Untergrund verübte zehn Morde, drei Bombenanschläge und 15 bewaffnete Raubüberfälle. Die Opfer der Mordanschläge waren ein griechischer und acht türkische Geschäftsmänner sowie eine deutsche Streifenpolizistin. Dem NSU konnten darüber hinaus im gesamten Zeitraum des terroristischen Handelns weitere 43 Mordanschläge zugeordnet werden. Was 1998 mit dem Untertauchen in Chemnitz und Zwickau begann und seine Blutspur durch ganz Deutschland zog, endete im November 2011 in Eisenach. Ein erweiterter Suizid nach einem Raubüberfall bedeutete das Ende von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Die nicht an diesem Überfall beteiligte Beate Zschäpe versuchte am gleichen Tag, die Spuren des NSU zu verwischen, entzündete in der gemeinsamen Wohnung in Zwickau einen Brandsatz und wurde am 8. November bei Jena gestellt und verhaftet. Niemand konnte sich vorstellen, was die Ermittlungen in der Folge ans Tageslicht bringen sollten. Die Verhandlung gegen Beate Zschäpe und einige mutmaßliche Unterstützer des NSU wurde als Jahrhundertprozess bezeichnet und fand von Mai 2013 bis Juli 2018 in München statt.

SAAL 101“ das Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess

SAAL 101 - Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess - Astrolibrium

SAAL 101 – Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess

Ihm ist dieses Hörspiel gewidmet. Die Dokumentation dieses Prozesses auf 12 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 10 Stunden und 23 Minuten wirft schnell die Frage nach dem WARUM auf. Und zwar die Frage: Warum sollte ich mich jetzt mit einem Prozess auseinandersetzen, dessen Urteile längst gefällt, dessen tägliche Horror-Schlagzeilen lange verrauscht und dessen medialer Wirbel seit drei Jahren durch andere Ereignisse abgelöst wurde? Wissen wir nicht genug? Haben wir nicht in Sondersendungen und in Diskussionsrunden alles, aber wirklich alles erfahren? Waren wir nicht fast dabei, wenn sich die Anklage in München auf die Verteidigung der letzten NSU-Überlebenden warf? Waren wir nicht sprachlos, wie man solche Taten überhaupt verteidigen konnte? Waren wir nicht sprachlos, zu erfahren, wie nah der Staatsschutz zeitweise mit diesem Trio in Verbindung stand? Haben wir nicht langsam genug von den Morden und Attentaten in einer nie zuvor dagewesenen Kette rechtsradikal motivierter Taten? Und was bringt es den Opfern, wenn man das alles nochmal hochkocht.

Ja, genau, wird man sagen. Den Opfern. Die Hinterbliebenen jener grausamen Taten leiden sicher immer noch. Und jetzt hat man doch Recht gesprochen. Recht so. Deckel zu und weg mit den ganzen Akten, Protokollen und Niederschriften des Prozesses. Was schreibe ich hier eigentlich? Habt Ihr das gelesen? Von welchen Protokollen ist hier die Rede in einem Justizsystem, das solche Protokolle nicht vorsieht. Da bleibt nichts übrig nach dem Urteilsspruch. Keine offiziellen unterlagen zum Recherchieren. Null. Nur die Niederschriften der zugelassenen Gerichtsreporter und -reporterinnen. Ihre Dokumente erlangen einen Stellenwert, der sie zu zeitgeschichtlichen Unterlagen erhebt. Hier liegt einer der Gründe für das ZUHÖREN. Nein, wir waren eben nicht dabei. Wir erlebten in weiten Teilen nur das mediale Blitzlichtgewitter und kurze Sequenzen. Einen Überblick über den Prozess erhielten wir nie. Und jetzt zurück zu den Opfern. Die Täter sind uns im Gedächtnis geblieben. Kennt ihr noch die Namen der Ermordeten? Einen?

SAAL 101 - Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess - Astrolibrium

SAAL 101 – Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess

ENVER ŞIMŞEK
ABDURRAHIM ÖZÜDOĞRU
SÜLEYMAN TAŞKÖPRÜ
HABIL KILIC
MEHMET TURGUT
ISMAIL YAŞAR
THEODOROS BOULGARIDES
MEHMET KUBAŞİK
HALIT YOZGAT und
MICHÈLE KIESEWETTER

SAAL 101 - Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess - Astrolibrium

SAAL 101 – Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess

Hier kommen wir zum eigentlichen Punkt. Hier sollten wir zuhören. Hier werden die Menschen in den Mittelpunkt gestellt, die im Prozess nur Randfiguren waren. Hier werden ihre offenen und bohrenden Fragen schonungslos gestellt. Hier werden wir in einer schmerzhaften Aufarbeitung durch Themenkomplexe geführt, die sich die Hand reichen, ohne dass dies jemals jemand wahrhaben wollte. Nach außen wirkte damals vieles wie eine inszenierte Show. Nur ohne Blick in den SAAL 101. Nebelkerzen zur Ablenkung wurden gezündet, Nebenkriegsschauplätze wurden eröffnet und oft dachte man, es sei Absicht, wenn man den Überblick verlor. Hier setzt dieses Hörspiel an. Es hat sich dem Ordnen und der Struktur verschrieben. Es bietet diesen Überblick, ohne dabei an ein verstaubtes Gerichtsdokument zu erinnern. Es lässt Opferangehörige in der Konfrontation mit der Verteidigung zu Wort kommen. Es legt Finger in die Wunden unseres Rechtssystems und hebt hervor, wo die wesentliche Leistung des Richters zu finden ist, und wo er versagte. Man muss kein Jurist sein, um dem folgen zu können.

Es bleibt so vieles im Gedächtnis nach dem Hören dieser Inszenierung. Es ist und bleibt grotesk, wenn man darüber nachdenkt, dass die Verteidiger der Neonazis Namen tragen, die wie eine Ironie des Schicksals klingen. Heer, Sturm, Stahl. Kann man sich das ausdenken? Nein. Unvergessen bleiben die Anklagen der Hinterbliebenen und die Unklarheiten, warum man keine Zusammenhänge erkannte. Das ragt über das Hörspiel hinaus in die gelebte Realität unserer Zeit. Ich werde hellhörig, wenn nach einem Mord sofort Schlussfolgerungen in den Raum gestellt und Zusammenhänge verneint werden. Man beobachtet die „Rechte Szene“ aufmerksam, weil man die Netzwerke erst erkennt, wenn man sie sehen möchte. Wollte der Staatsschutz das damals? Es bleiben sicher Fragen offen, aber es werden auch viele Fragen geklärt. Die Psychologie der Täter und ihre Begabung, harmlos im Untergrund zu leben werden hell erleuchtet. Man fragt sich, ob man dieses Mördertrio auf einem Campingplatz an der Ostsee wirklich erkannt und mit den Taten in Verbindung gebracht hätte. Nein, sicher nicht.

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SAAL 101 – Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess

Man sollte dieses Hörspiel hören. Man sollte sich diesen Prozess dokumentieren lassen. Man sollte endlich den Saal 101 betreten, der nur wenigen Beobachtern des Prozesses zugänglich war. Hier wird begreifbar, wie sich der NSU aus dem Untergrund an die Oberfläche einer freien Gesellschaft mordete und dabei mehr als nur Hass und Zwietracht säte. Hier werden die Automatismen der Fremdenfeindlichkeit sichtbar, die so verheerend wirken, wenn man ihnen auf den Grund geht. Hier wird das perfide Spiel mit den Vorurteilen erkennbar, weil es so gut funktioniert, wie vor 70 Jahren. Hier sind es die Opfer und die Hinterbliebenen, denen (vielleicht endlich) Recht widerfährt, weil wir ihnen zuhören können. Für mich ist das die größte Leistung einer Inszenierung, die Maßstäbe setzt und mit ihren Stilmitteln überzeugt. Hier löst sich diese Produktion von der Dogmatik einer klar definierten Rollenzuordnung und befreit die brillanten Stimmen von den Zwängen einer klischeehaften Interpretation. Das Ensemble stellt sich in den Dienst eines Prozesses. Das persönliche Brillieren steht weit im Hintergrund. Ein ganz großes Kompliment an:

Michael Rotschopf, Katja Bürkle, Thomas Thieme, Bibiana Beglau,
Barbara Nüsse, Martina Gedeck, Florian Fischer, Thomas Schmauser,
Ercan Karacayli, Gonca de Haas, Gabriel Raab, Kathrin von Steinburg

SAAL 101“ das Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess geht über die Rolle einer dokumentarischen Aufarbeitung hinaus. Es ist Zeitgeschichte und Lehrstück einer im tiefsten Herzen demokratischen Gesellschaft. Deshalb müssen Fragen offen bleiben. Das ist das Schmerzhafte in einem Rechtsstaat, weil er seinem juristischen Rahmen verpflichtet ist. Das unterscheidet ihn von seinen Gegnern. Das wird hier sehr klar.

Nachtrag: Nachdem heute der Bundesgerichtshof die Revisionsanträge gegen die Urteile des NSU-Prozesses zurückgewiesen hat, ist natürlich auch diese Rezension in jeder Hinsicht rechtskräftig und unanfechtbar. Die Urteile gegen Beate Zschäpe und ihre NSU-Unterstützer wurden bestätigt. Recht gegen Rechts. Das hat was. Danke.

SAAL 101 - Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess - Astrolibrium

SAAL 101 – Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess

Das gesamte Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess ist derzeit noch in der ARD-Audiothek verfügbar – Hier geht´s zum vollständigen PodCast in 24 Teilen.

Die Produktion wurde inzwischen von der Jury der hr2-Hörbuchbestenliste zum Hörbuch des Jahres 2021 gewählt.

„Eine dokumentarische Glanzleistung mit historischem Wert.“

Ruslan aus Marzahn von Sebastian Stuertz

Ruslan aus Marzahn - Sebastian Stuertz - Astrolibrium

Ruslan aus Marzahn – Sebastian Stuertz

Menschen mit seinem Schreiben zum Lachen zu bringen gehört wahrlich zu den Königsdisziplinen der Literatur. Nichts ist wohl schwerer, als ein Buch zu schreiben, das seine Leser nicht nur unterhalten soll, sondern sie mit einem Brillantfeuerwerk der humorig abgefeuerten und gut gezielten Gags bei bester Laune zu halten. Satire und Comedy gehen hier Hand in Hand, wenn es um Stilmittel des Humors geht, mit denen wir angeregt werden sollen, den Ernst des Alltags einfach mal hinter uns zu lassen. Es ist kein leichtes Unterfangen, dieses Lachen-Machen, weil nichts so individuell geprägt ist, wie unser Humor. Situationskomik (neudeutsch Sitcom) auch literarisch greifbar zu machen, ist eine Sache des perfekten Timings, komplex konstruierter Situationen und einer Dialogregie, mit der man alles gewinnen oder verlieren kann. Und dann steht da auch noch das geflügelte Wort von Wolfgang Herbst im Raum, das als Schlüssel zum Erfolg zu sehen ist:

„Moderne Literatur ist die Kunst, den richtigen Interpreten zu finden.“
(Wolfgang Herbst)

Ruslan aus Marzahn - Sebastian Stuertz - Astrolibrium

Ruslan aus Marzahn – Sebastian Stuertz

Humor ist also eine ernste Sache, zumindest was seinen Schöpfer betrifft. Nichts ist schlimmer, als ein stoisch nicht lachendes Publikum, das den Rohrkrepierer aus der Feder eines gut aufgelegten Schriftstellers nur mit wohlmeinendem Applaus goutiert. Es ist also ein gewagtes Unterfangen, ein solches Projekt anzugehen. Warum ich dies der Rezension zu Ruslan aus Marzahn“ von Sebastian Stuertz voranstelle? Ich denke, es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, auf welche Gratwanderung man sich im Schreiben begibt, wenn man uns zum Lachen bringen möchte… Das ist kein Spaß.

Herzlich willkommen also auf dem schmalen Grat dieser Hörbuchvorstellung. Ja, richtig gelesen. Es geht ausschließlich um das Hörerlebnis eines Audio-Originals, weil der Autor diese Geschichte so konzipiert hat, dass man sie unbedingt hören muss. Und das kam so: Bei einer früheren Zusammenarbeit mit dem bekannten Schauspieler und Sprecher Shenja Lacher erlebte der Autor in den Pausen ein Feuerwerk an Anekdoten über die russische Verwandtschaft des Sprechers. Der Inspirationsfunke hat gezündet. Lachers facettenreiche Stimme im Kopf, die Anekdoten im Hinterkopf und eigene Ideen auf den Lippen, entstand die Idee zu einem Hörbuch, das Shenja Lacher auf den Leib geschneidert werden sollte. Das Ergebnis: ein literarischer Maßanzug, eine Symbiose zweier Künstler, der man nun satte viereinhalb Stunden lang hörend folgen kann. Aber Vorsicht. Eure Lachmuskeln sollten gestählt sein. Für Spätfolgen wird keine Haftung übernommen.

Ruslan aus Marzahn - Sebastian Stuertz - Astrolibrium

Ruslan aus Marzahn – Sebastian Stuertz

Denn, wenn es um das perfekte Pointen-Timing und garantiert Lachflash-sichere Dialoge in einer perfekten konstruierten Story geht, sind wir bei Sebastian Stuertz an der richtigen Adresse. Sein Protagonist ist der absolute Schlüssel zum Erfolg. Sein Ruslan hat sich freigestrampelt, seine russische Herkunft hinter sich gelassen und im Berliner Stadtteil Marzahn ein neues Leben begonnen. Es läuft. Seine kleine Karriere als Schauspieler macht echte Fortschritte. Er hat es inzwischen vom Theater bis zum Hauptdarsteller einer Krimiserie geschafft. Sogar die Beziehung zu seiner Ex-Frau ist auf einem guten Weg und mit ein wenig Glück darf er den gemeinsamen Sohn Jonny bald mal wieder unbeaufsichtigt treffen. Dass er ihn mal im IKEA-Bällebad vergessen hat, gehört genauso der Vergangenheit an, wie die nächtlichen Touren und Eskapaden. Ja, Ruslan Blinow hat es geschafft und die Erinnerungen an seine Jugendzeit sind auf dem besten Weg zu verblassen.

Fast hätte er es geschafft, sein Leben zu ordnen. Fast. Wäre da nicht plötzlich sein Bruder Tasho aufgetaucht. Genau der Bruder, mit dem ihn nur die Streiche verbinden, mit denen sie sich in der Jugendzeit bis an den Rand des Wahnsinns getrieben haben. Aber Tasho hat keinesfalls nur üble Streiche im Gepäck, sondern dazu auch noch die komplette Verwandtschaft des bodenständigen Ruslan. Es kommt, wie es ja kommen musste. Statt sich um seinen Sohn und die Karriere kümmern zu können, drängen sich nun Menschen in seinen Alltag, auf die er besser verzichten könnte. Allein „Zwergej„, sein kleinwüchsiger kleinkrimineller Onkel hat es faustdick hinter den Ohren, wenn es darum geht, Ruslans Leben aus dem Lot zu bringen. Hier sitzt jede Pointe, hier landet Sebastian Stuertz mit jeder Situation einen Volltreffer in unserem Lachzentrum. Sind wir eben noch mit heiler Haut aus dem einen Desaster entkommen, stürzen wir an der Seite von Ruslan in die nächste chaotische Situation..

Ruslan aus Marzahn - Sebastian Stuertz - Astrolibrium

Ruslan aus Marzahn – Sebastian Stuertz

Strenggläubige Polizisten, eine kontrollbesessene Exfrau, Schlägertypen, ein Priester mit unglaublich feingliedriger Holzhand, ein zugelaufener Kampfhund, der sich fast auf Knopfdruck in ein Monster verwandeln kann, fatale Cousinen und eine neue Liebe im Leben von Ruslan machen es nicht einfacher. Die gemeinsame Zukunft mit Jonny steht auf dem Spiel, die große Premiere seiner Fernsehserie steht auf dem Programm und genau jetzt gerät alles in Gefahr. Aus Rückblicken wissen wir, wozu allein Tasho fähig ist, wenn es darum geht aus normalen Situationen Dramen zu generieren. Wer nur ein einziges Mal mit Ruslan und Tasho in der Alten Försterei bei einem Fußballspiel war, den Sieg der eisernen Hausherren bejubeln durfte und im entscheidenden Moment für Ruslans Beziehungsstatus ein Flugzeug mit Werbebanner im Schlepptau am Berliner Himmel entdeckt, weiß genau, wozu Tasho fähig ist. Die Lawine, die auf Ruslan zurollt hat es mehr als in sich. Ob er sie aufhalten kann?

Sebastian Stuertz definiert den Begriff Situationskomik neu, lässt skurrile Dialoge vom Stapel und Hunde von der Leine. Der Spannungsbogen reißt nicht ab. Er hält in jeder Beziehung sein Niveau und hält die Geschichte des verzweifelt um Gelassenheit und Normalität kämpfenden Ruslan auf der nach oben offenen Richterskala des guten Lachens auf einer stabilen Neun. Das ist allerdings auch insbesondere Shenja Lacher zu verdanken. Er ist der richtige Interpret, der sich in seinem Maßanzug sehr trittsicher durch diese Story bewegt. Wenn Shenja Lacher erzeugt (kleines Wortspiel), dann mit der Brillanz seiner Interpretationsfähigkeit von Charakteren. Er berlinert, bedient sich in seinem Vortrag sämtlicher russischer Dialekte, die jeder Figur Leben einhauchen und gerät in seinem Vortrag in einen solchen Flow, dem man kaum entrinnen kann. Shenja Lacher macht aus diesem Hörbuch ein Hörspiel. Die Ein-Mann-Besetzung ist filmreif!

Ruslan aus Marzahn - Sebastian Stuertz - Astrolibrium

Ruslan aus Marzahn – Sebastian Stuertz

Der Hörverlag hat meinem Rezensionsexemplar von „Ruslan aus Marzahn“ eine Flasche JESCHOW-Vodka beigelegt. Ich denke nicht, dass sie meine Sinne benebeln oder meine Meinung beeinflussen sollte. Vielmehr spielt dieser hochprozentige Vodka eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Story. Wenn man jedes Mal, wenn das Wort JESCHOW erwähnt wird, einen Schluck zu sich nimmt, überlebt man das Hörbuch auf keinen Fall. Ich blieb standhaft und bewahre ihn als Andenken auf. Vielleicht trinke ich meinen ersten Schluck, wenn Ruslan in eine Fortsetzung geschickt wird. Hier ist noch viel Potenzial, es ist noch viel zu erzählen und man darf gespannt sein, ob das geniale Duo Stuertz-Lacher zu weiteren Schlägen in die Zentrale meines Bauchmuskelkaters ausholen wird. Ich würde es mir wünschen und Freunde bester Hörbuch-Unterhaltung werden mir sicher zustimmen.

Wenn ich einen Vergleich wagen müsste, würde ich behaupten, dass all jene, die im Hörbuch „Achtsam morden“ von Karsten Dusse gelesen von Matthias Matschke das Non plus ultra der Dramedy-Comedy-Hörbuchgeschichte sehen, sich auch bei „Ruslan aus Marzahn“ sehr wohlfühlen werden. Dafür lege ich meine Hand in den Vodka. Das Flambieren lasse ich mal… Hab` ja keine Lust auf eine gelenkige Holzhand. Ihr werdet schon hören, warum… Oder?

Ruslan aus Marzahn - Sebastian Stuertz - Astrolibrium

Ruslan aus Marzahn – Sebastian Stuertz

Der Astronaut von Andy Weir

Der Astronaut von Andy Weir - Astrolibrium

Der Astronaut von Andy Weir

Glaubt mir, ich kenne mich aus. Wenn ich allein schon den Namen Andy Weir lese, greife ich reflexartig zum Weltraumanzug für Extra-Vehikulare-Aktivitäten, aktiviere alle Notfallsysteme in der kleinen literarischen Sternwarte, überprüfe meine Notfall-Vorräte, checke das Wetter und die Treibstoffanzeigen, verabschiede mich von meinen Lieben und besteige erwartungsvoll ein Science-Fiction-Weltraum-Shuttle, um mich erneut mit all meiner Fantasie in den Weiten des Alls zu verlieren. Die letzten Missionen an seiner Seite habe ich wirklich nur mit Mühe und Not überlebt. Ich war mit dem „Marsianer“ auf dem Roten Planeten, habe in aussichtsloser Situation die Wissenschaft neu erfunden und eine unbewohnbare Landschaft kultiviert. In „Artemis“ verstrickte ich mich in üblen Machenschaften auf dem Mond. Die Sonderhandelszone und Weltraummetropole war fast mein Untergang, hätte mich Andy Weir nicht mit einem fulminanten Feuerwerk im letzten Moment aus der Schwerelosigkeit gerettet… Glaubt mir, ich kenne mich aus…

Viel Zeit zum Lecken meiner interstellaren Wunden jedoch bleibt mir nicht. Es ist „Der Astronaut“ mit dem Andy Weir seinen Weltraum-Zyklus fortsetzt und mich nicht nur lesend, sondern auch hörend aus meiner irdischen Komfortzone herauskatapultiert. Dabei sollte man ganz genau hinschauen, was sich hinter dem Titel des neuen Romans verbirgt, bevor man sich dieser Mission anschließt. Der Originaltitel lautet „Project Hail Mary„, also ganz direkt übersetzt „Projekt Ave Maria„, und spätestens jetzt sollte jedem noch so großen Fan von Andy Weir klar sein, worauf man sich einlässt. Hier wird nicht gesungen, hier geht es definitiv um ein Himmelfahrtskommando. Waren die Ausflüge zum Mars und zum Mond zuvor zumindest noch mit der Chance auf eine Rückkehr zur Erde verbunden, so sollte man hier der Wahrheit ins ungeschminkte Gesicht schauen. Nach einem Rückflugticket werdet ihr vergeblich suchen. Na, noch dabei?

Der Astronaut von Andy Weir - Astrolibrium

Der Astronaut von Andy Weir

Dann los. Der Astronaut Ryland Grace schlägt die Augen auf und befindet sich in einer Situation, die ihn ziemlich befremdet. Die Begleitumstände seines Erwachens sind mehr als unerfreulich. Er kann sich an absolut nichts erinnern. Er ist von Kopf bis Fuß verkabelt und wird von Roboterarmen medizinisch versorgt. Eine Computerstimme folgt seinen Anweisungen. Er ist allein. Die Umgebung ist ihm fremd. Das Bewusstsein beginnt Fahrt aufzunehmen und der analytisch geschulte Wissenschaftler beginnt sich zu orientieren. Er befindet sich an Bord eines Raumschiffs. Von der einst dreiköpfigen Besatzung ist er der letzte Überlebende. Er lag lange Zeit im Koma und wurde nun von einem Programm geweckt. Wozu? Hatte er sein Ziel erreicht? Wo war er? Wer war er und warum war er überhaupt hier? Fragen über Fragen…

Atemlos folgen wir dem inneren Monolog eines Mannes, der sich Schritt für Schritt mit seiner Umgebung auseinandersetzt, um Antworten auf seine Fragen zu finden. Nie zuvor sind wir mit einem ahnungsloseren Protagonisten in ein Abenteuer gestartet. Und dabei lastet eine unglaubliche Verantwortung auf ihm, wie wir nach und nach erfahren. Mit jedem Fetzen des Erkennens erwachen punktuelle Erinnerungen. Mit jedem Knopf, den er betätigt, mit jeder Information, die er sich erarbeitet strukturiert sich das Mosaik seiner Mission. Er, der Wissenschaftler und Lehrer Ryland Grace befindet sich nicht mehr in unserem Sonnensystem. Seine Reise muss Jahre gedauert haben und an ihm hängt das Schicksal des gesamten Planeten Erde. Er ist an Bord der „Hail Mary„, der letzten Hoffnung der Menschheit…

Der Astronaut von Andy Weir - Astrolibrium

Der Astronaut von Andy Weir

Es ist die brillante Ausgangssituation, aus der Andy Weir auf den folgenden 550 Seiten schöpfen kann. Es ist das psychologische Drama im Inneren des Antihelden, der alles zu sein scheint, nur nicht der verwegene und mutige Weltenretter. Er begibt sich bewusst in den Funktionsmodus, analysiert seine Lage, das Problem und beginnt mit seinen Forschungen. Wer schon ein Buch aus der Feder dieses Science-Fiction-Autors gelesen hat, der weiß, dass der Begriff Science, also Wissenschaft, in seinen Geschichten sehr viel Raum einnimmt. Man könnte ihn auch als einen „Erklär-Bären“ bezeichnen, der uns alles, was bei drei nicht auf dem Baum ist, bis ins kleinste Detail plausibel macht. Was beim „Marsianer“ schon ausuferte, wird in „Der Astronaut“ zur Geduldsprobe für Leser:innen, die manchmal einfach denken „Boah, drück jetzt auf den Knopf, aber hör auf, mir zu erklären, wer ihn erfunden hat und was sich im Hintergrund alles ereignet.“  

Aber so ist er eben. Wissenschaftliche Fiktion soll aus seiner Sicht wasserdicht und plausibel erzählt werden. Und da es in jener Geschichte kaum etwas Selbsterklärendes gibt, sind wir unserem Lehrer an Bord schutzlos ausgeliefert. Er hat dabei Probleme zu lösen, die jeder Forschungskommission Grenzen aufzeigen würden. Warum verdunkelt sich die Sonne? Wie kann dieser Prozess aufgehalten werden? Wie bewältige ich alle Aufgaben an Bord, für die man drei Astronauten gebraucht hätte? Wie funktioniert der Antrieb, wie kann ich Schwerelosigkeit erzeugen, wie wandle ich die Hail Mary in eine funktionierende Zentrifuge um? Oh ja, Andy Weir erklärt alles aus der Perspektive des Weltraumpioniers, der einige Nackenschläge zu verkraften hat. Spätestens als er sich darüber im Klaren wird, dass keine Rückkehrmöglichkeit vorgesehen ist, wird aus dem Roman ein emotionales Himmelfahrtskommando.

Der Astronaut von Andy Weir - Astrolibrium

Der Astronaut von Andy Weir

Es sind überraschende Twists in seinen Handlungssträngen, die diesen Roman zu einem Pagetruner machen. In Rückblenden erfahren wir alles über die Entstehung der Mission, erfahren, warum und wie ausgerechnet ein Lehrer an Bord gelangte und nicht zuletzt ist es eine unglaubliche Erkenntnis, die dieses Weltraumabenteuer in eine völlig neue Richtung lenkt. Ja, Ryland Grace ist der einzige Mensch im All, der versucht, die Erde zu retten. Nein, er ist nicht die einzige Lebensform im Universum, die ausgesandt wurde, um ihre Heimat zu retten. Erstmals in seinem Schreiben betritt Andy Weir das Neuland, uns mit außerirdischem Leben zu konfrontieren. Das ist bewegend, emotional und ist als Alleinstellungsmerkmal unter seinen Büchern allein schon diese weite Reise wert. Die Spannungsbögen reißen nicht ab. Die Probleme potenzieren sich. Und unser Wissensschatz um biochemische, physikalische und elektronische Details wird bald so groß, dass wir die Hail Mary allein fliegen könnten…

Wer den „Marsianer“ liebt und im unendlichen Weltall gerne in Gesellschaft ist, dem sei „Der Astronaut“ dringend ins Raumschiff gelegt. Andy Weir lässt hier keine Fragen offen. Das Ende des Romans gehört zu den besten SciFi-Enden ever, weil es zum Wesen der Mission passt. Ein ehrfürchtiges „Ave Maria“ kam mir in den Sinn, als ich das letzte Kapitel erreichte. Am Ende einer Mission, die mir einiges abverlangt und doch viel gegeben hat. Wer immer denkt, im wissenschaftlichen Bereich der Story sei weniger oft mehr, der sollte sich überlegen, wie viele Fragen wir gehabt hätten. Und im Vergleich zu unserem Astronauten ist die Geduld, die wir aufzubringen haben nichts im Vergleich zu den Anstrengungen eines Lehrers im All, der nicht mehr nur noch das Schicksal der Erde in seinen Händen spürt…

Der Astronaut von Andy Weir - Astrolibrium

Der Astronaut von Andy Weir

In Missions-Phasen mit Schwerkraft habe ich den Roman aus dem Heyne Verlag gelesen. Hilfreich sind die Konstruktionszeichnungen der Hail Mary, obwohl ich schon sagte, dass Andy Weir auch die Bauart des Raumschiffs sehr ausführlich beschreibt. Ich war trotzdem dankbar, die Details zusätzlich vor Augen zu haben. Und immer dann, wenn es schwerelos wurde an Bord, bin ich zum Hörbuch von Random House Audio übergegangen. Richard Barenberg überzeugt in seiner unaufgeregten Vortragsweise, weil er einfach die stoische Ruhe behält, egal wie sehr ihm das Wasser bis zum Halse steht – oder der Treibstoff. Die wahre Stärke spielt er ab dem Moment aus, in dem aus Monologen an Bord die ersten Dialoge mit einem Außerirdischen werden. Hier paaren sich Staunen, wissenschaftliche Kommunikation, zunehmender Sarkasmus und echtes Gefühl zu einem Mix, den man nicht mehr so schnell vergessen wird.

Die gekürzte Fassung ist leider nur als Download verfügbar und ich muss meine Andy-Weir-Sammlung um einige Dateien auf meinem Smartphone ergänzen. Schade. Die Mission dauert im Hörbuch 15 Stunden und 30 Minuten, und doch vergeht sie wie im Flug. Einfach zu spannend. Die Kürzungen betreffen hierbei leider in weiten Teilen die Missionsvorgeschichte im Kontrollzentrum auf der Erde. Das wirkt sich schon ein wenig auf den Hörgenuss aus, da es genau diese Kapitel sind, die den „Erklär-Bären“ Andy Weir im Weltraum ein wenig einbremsen. Die Abwechslung fehlt hier ab und an. Dem Abenteuer selbst tut das keinen Abbruch. Und, mit Verlaub, schwereloses Lesen ist machmal einfach zu gefährlich. Welchen Weg Ihr auch wählt, „Der Astronaut“ hat das Potenzial zum unterhaltsamsten Himmelfahrtskommando des Sommers.

Der Astronaut von Andy Weir - Astrolibrium

Der Astronaut von Andy Weir

Ich bin schon gespannt auf die Verfilmung von Der Astronaut mit Ryan Gosling in der Hauptrolle. Ich denke, der Film wird ähnlich erfolgreich wie Der Marsianer mit Matt Damon. So, ich desinfiziere jetzt mein Lese-Raumschiff und hoffe, dass ich keine Astrophagen mehr an Bord habe. Die kleinen Sternenfresser passen so gar nicht zur kleinen literarischen Sternwarte… Guten Flug, Euch…

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Der Astronaut von Andy Weir