GlockenbachWelle – Die HörbuchWelle

Glockenbachwelle - Hörbuchwelle - Astrolibrium

GlockenbachWelle – Die HörbuchWelle

Herzlich willkommen zur neunten Ausgabe der GlockenbachWelle. Diese Welle ist dem gesprochenen Wort gewidmet, das doch seinen Ursprung zumeist in Buchvorlagen hat, die uns im Buchhandel so begeistern. Und doch sind Hörbücher und Hörspiele eine ganz eigene Welt, die sich in den letzten Jahren zu einer Artenvielfalt entwickelt hat, die unsere Ohren erobert.

Die neunte GlockenbachWelle – Die HörbuchWelle

Der Ort: Die Glockenbachbuchhandlung in München
Die Runde: Pamela Scholz (Buchhändlerin), Steffi Sack (Nur Lesen ist schöner), Arndt Stroscher (AstroLibrium), Paul Fink-Gaudernak (Lektor bei Random House Audio) Ana Kohler (Lektorin bei Der Hörverlag) und Tom Dulovits (Radiomoderator und Sprecher) – als Herausforderer – in einem PodCast für Literatur Radio Hörnbahn.

Unterstützt von der Inhaberin der Glockenbachbuchhandlung Petra Schulz.

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GlockenbachWelle – Die HörbuchWelle mit Paul Fink-Gaudernak und Ana Kohler

Schon lange ist nicht mehr von einer Zweitverwertung von Büchern die Rede. Die Hörbücher sind als eigenständige Medien etabliert und erfreuen sich einer ungebrochen hohen Beliebtheit. Die HörbuchWelle trägt dieser Entwicklung Rechnung….

Was haben wir vor?

Es sind unsere Stimmen, die das gute Lesen verkünden. Das Radio ist als Medium allerdings oftmals näher am guten Hören als im gebundenen Buch. Wir wollen Brücken schlagen. Hören und lesen als Allianz – auch für den Buchhandel. Diese HörbuchWelle thematisiert Hörbücher, deren Äquivalente im Buchhandel von sich reden machen. Wir gehen dem Geheimnis Hörbuch und Hörspiel auf den Grund und sind extrem glücklich, die Macher der Hörbuchschmieden von Random House Audio und Der Hörverlag bei uns begrüßen zu dürfen. Hier wird niemandem Hören uns Sehen vergehen. Und nicht nur das. Eine besondere Challenge wartet auf unsere Gäste.

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GlockenbachWelle – Die HörbuchWelle

Heute geht es um:

  • Einleitendes zum Thema Wellenreiten in Zeiten eines Krieges
  • Allgemeine Fragen rund ums Hörbuch
  • Die Bagage, Vati und Löwenherz von Monika Helfer
  • Die Sonnenwächterin von Maja Lunde
  • Wir sind das Licht von Gerda Blees
  • Eine besondere Herausforderung für unsere Gäste:
    Erkennen sie ihre eigenen Hörbuch-Produktionen, wenn diese von „unserem“ Sprecher Tom Dulovits vorgelesen werden? Eine literarische Blindverkostung, bei der ihr natürlich zuhause gerne mitraten dürft…
  • Geheime Beratungen zwischen Verena Reiser (Pressereferentin Der Hörverlag) und Ana Kohler zur Hörbuch-Challenge
  • Eine Machete, Brownie-Points und Nähkästchenplaudereien
  • Ein paar noch geheime Vorschau-Highlights der beiden Hörbuchverlage
  • Buchtipps von Pamela Scholz – aus aktuellem Anlass zum Thema Ukraine
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GlockenbachWelle – Die HörbuchWelle – Tom Dulovits

Jetzt sollten Sie aber einschalten. Hier geht´s lang. Ohren auf!

Wir wünschen uns ein Wiederhören mit Ihnen, wenn es wieder heißt „Ohren auf für eine neue GlockenbachWelle“. Und versprochen. Die zehnte Welle wird sich anfühlen wie die Wiederauferstehung eines Rockstars… 

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GlockenbachWelle – Die HörbuchWelle Verena Reiser und Ana Kohler

GlockenbachWelle bei Literatur Radio Hörbahn - Astrolibrium

GlockenbachWelle bei Literatur Radio Hörbahn – Ein Klick genügt…

TELL von Joachim B. Schmidt

TELL von Joachim B. Schmidt - Astrolibrium

TELL von Joachim B. Schmidt

Die Literatur ist auf ewig mit dem situativen Kontext verbunden, in dem man sich einem Buch annähert. Das persönliche Erleben und die Erzählwelt eines Romans sind für die Zukunft untrennbar miteinander verbunden, weil tagesaktuelle Erinnerungen mit der eigenen Fantasie zu einem Reißverschluss des Denkens verschmelzen. Ich kann mein Lesen nicht vom Alltag lösen. Ebenso wenig gelingt es mir, ein Buch von der Zeit und ihrer (vielleicht sogar) historischen Dimension zu trennen, in der ich mich lesend in und zwischen den Seiten verlor. So darf es nicht verwundern, wenn diese Rezension in der konsequenten Anwendung dieser These die Verbindung zwischen der Ukraine und der Schweiz entstehen lässt. Es ist nur verständlich, dass ich im „TELL“ nicht nur eine Geschichte über einen Freiheitshelden lese, sondern diese Figur in meinem Geiste auf die dramatischen Geschehnisse in Europa spiegle. Nein. Keine Sorge, ich stilisiere hier aus dem neuen Buch von Joachim B. Schmidt keinen globalen Freiheitsroman. Aber: selbst unbeabsichtigte Ähnlichkeiten mit realen oder verstorbenen Personen liegen nie in der Deutungshoheit des Autors, sondern im Herzen seiner Leserschaft verborgen.

Da wagt sich also jener Joachim B. Schmidt, dessen Islandroman „Kalmann“ nicht nur in der Schweizer Heimat des Schriftstellers und in seiner neuen Wahlheimat Island für Furore gesorgt hat, an die literarische Freiheitsikone seines Landes heran und lässt seine Leserschaft glauben, er würde nur mal eben den Schiller geben. Was sonst sollte man erwarten beim Namen TELL? Zu dieser zweifelsohne rein fiktiven Gestalt kann es keine neuen Fakten geben. Niemand hat in einem Archiv sein Tagebuch gefunden. Die Geschichte muss nicht neu geschrieben werden, weil es plötzlich Augenzeugenberichte gibt, die in Archiven verschimmelten und die bezeugen: „Der Bolzen hat den Apfel gar nicht getroffen„. Nein. Nichts davon ist passiert und wer nach Kalmann geraten hätte, worüber Joachim B. Schmidt nun schreiben würde, Hand aufs Herz, Tell wäre niemals genannt worden. Also, womit haben wir es zu tun, sollte man das Buch lesen und was verbindet Schmidts Tell mit einem wahnwitzigen Krieg in einer wahnwitzigen Zeit?

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TELL von Joachim B. Schmidt

Also frisch hinein in eine urwüchsige Bergwelt des 13. Jahrhunderts. Von einem Land namens Schweiz war noch keine Rede. Andere Mächte hatten ihre langen und gierigen Finger ausgestreckt und Handelswege besetzt oder Dörfer geknechtet. Allen voran das Habsburger Reich. Hier spielt sie nun, die Heldengeschichte von Friedrich Schiller, der seinen Tell als echtes Drama oder Schauspiel veröffentlichte und dem ich als Schüler im Abitur kaum aus dem Weg gehen konnte. Pathos ohne Ende, Figuren aus einfachsten Schablonen, Gut und Böse säuberlich getrennt und nur schwarzweiß gezeichnet, alles gut gestylt bis zum epischen Höhepunkt und auf Effekthascherei mit Armbrust und Bolzen ausgerichtet. Für mich schon immer angestaubt, nicht mehr gut lesbar und sperrig. Trotzdem sicherlich ein Meilenstein der Literatur. Aber bitte. Genau dieser Kosmos wandelt sich und schreit manchmal nach einer Reanimation, nach der Wiederbelebung und nach einer echten Revitalisierung, die diesen Stoff für neue und neugierige Leser zeitgemäß lesbar macht.

Hier hat Joachim B. Schmidt angesetzt. Hier hat er als literarischer Geburtshelfer in die Literaturgeschichte eingegriffen und einen neuen Tell zur Welt gebracht, nach dem sich Lesende seit vielen Jahren gesehnt haben. Keinen heroischen, allzu stereotypen und zweidimensionalen Berghelden mit Freiheitsvisionen, sondern ganz einfach einen urwüchsigen Mann, der aus seiner Zeit in unsere Hände gefallen scheint. Und das mit Wucht. Er stinkt, ist grob, wirkt unzuverlässig, schleppt eigene Leichen im Keller seiner Vergangenheit mit sich herum, ist widerwilliger Bauer, eigenwilliger Vater und versteht sich nicht gut aufs Reden. Ein Mann der Tat, ohne große Visionen. Überlebenskünstler und tatkräftige Urgewalt, wenn es darum geht, das bisschen Hab und Gut verteidigen zu müssen. Nein, man sollte sich wirklich nicht mit ihm anlegen. Er ist hart zu sich und zu anderen. Woher wir das wissen? Von ihm selbst? Nein, weit gefehlt.

TELL von Joachim B. Schmidt - Astrolibrium

TELL von Joachim B. Schmidt

Wie in einem Alpengewitter lässt uns Joachim B. Schmidt die Blitze um die Ohren fliegen, die jenen Wilhelm Tell aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Es sind die Frauen auf dem kleinen Tell-Hof, die Kinder, Dörfler und Menschen, die von ihm gehört haben, auf die wir uns hier verlassen müssen. Das Bild, das wir erkennen ist unscharf und doch ebenso kantig und grobkörnig, wie der Kerl, den es beschreibt. Ein Wilderer, der nicht viel zum Leben braucht. Ein Mann mit geradem Charakter und gutem Gespür für Ungerechtigkeit und ein Mensch, der tief in seinem Inneren fühlt, was falsch ist und was nicht sein darf. Die plündernden Schergen, die Steuern eintreiben und ganze Täler ausbeuten. die Männer des Landvogts, der alle knechtet und die Armut noch schlimmer macht. Nein, das ist dem Tell nicht egal. Er muss sich beherrschen, um nicht wie eine Berglawine abzugehen und alles mit sich zu reißen. Diesen Tell kannte ich so nicht. Er trauert, grübelt und zweifelt an sich selbst. Er würde gerne mehr tun, aber er ist in der Rolle des Mannes gefangen, der auf Haus und Hof zu achten hat. Als er endlich spricht, wird auch dieser Aspekt deutlich.

Schablonen sucht man in diesem Roman vergeblich. Authentische Charaktere sind auf allen Seiten zu finden. Verzweifelte und einfache Bauern, Kirchenmänner am Rand der bäuerlichen Gesellschaft, zweckmäßig denkende und handelnde Frauen, die voller Überlebenstrieb und -gier Haus und Hof in Schuss halten und Habsburger, die in ihren Rollen als Soldaten, Handlangern und Landvogt kaum einem Klischee entsprechen. Es ist die Besetzungsliste des Romans, die eine große Schnittmenge mit Friedrich Schiller aufweist. Das war es dann aber schon. Sucht man nach Spurenelementen des großen Klassikers, so sucht man vergebens. Sucht man bei Schmidt nach der Nacherzählung der Alpensaga, so findet man nichts. Sein Tell ist Wilhelm. Verletzlich, spröde, greifbar und urgewaltig. Die Charakterzeichnung ist die große Stärke dieses Romans. Gessler, der als Landvogt seit jeher in die Hall of Fame der Bösewichte einen Ehrenplatz hat, wird von Joachim B. Schmidt filigran aus einem Felsbrocken herausgemeißelt. Was bleibt, ist keine graue Statue, sondern ein lebendiges Abbild des Mannes, der von der Geschichte in eine hohle Gasse getrieben wird, die Geschichte schrieb.

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TELL von Joachim B. Schmidt

Schiller war gestern, Tell ist heute. Das ging mir leicht von der Hand, weil ich weiß, was ich schreibe. Mein Schiller liegt neben dem Schmidt und scheint gar nicht so sehr eifersüchtig zu sein. Die beiden Werke bedingen einander und werden wohl auf ewige Zeit miteinander verbunden sein. Schüler dürfen sich allerdings darauf freuen, sich im Abitur mit lebendiger Literatur auseinandersetzen zu dürfen. Der Diogenes Verlag hat diesen Tell mit Vorschusslorbeeren gepriesen, die angemessen waren und dem Status des Erfolgsschriftstellers gerecht wurden: „Ein Blockbuster in Buchform, The Revenant in den Alpen, Game of Thrones in Altdorf.“ Was für Prädikate und Vergleiche. Mir hätte schon „Von Joachim B. Schmidt, dem Autor von Kalmann“ gereicht. Sagt alles, hat alles, eindeutiges Prädikat. Diesen Tell sollte man lesen, um der Legende der Schweiz auf die Fährte zu kommen. Das ist eine große Geschichte von Loyalität, Verantwortung und Vaterliebe. Es ist der Urquell eines Freiheitskampfes, obwohl der erste Impuls des Kämpfenden nicht die Allgemeinheit ist. Tell steht für dieses nicht zu verbiegende Ego. Er ist das leuchtende Vorbild, das ausstrahlt und Beispiel gibt.

Und schon bin ich bei meiner eingangs gestellten Frage. Was verbindet Tell mit der Ukraine? Warum schmerzt es so sehr, dieses Buch gerade jetzt zu besprechen? Wäre es nicht möglich, die Armbrust zu nehmen? Könnte man nicht einfach…? Wo sind die Gerechten von heute und wie erkennt man die scheinbar seit langer Zeit vergebenen Rollen? Wen schieben wir jetzt in die Hall of Fame des Bösen? Und wie viel Rückgrat gehört bald dazu, sich nicht vor dem Hut eines neuzeitlichen Despoten zu verbeugen? Joachin B. Schmidt hat einen zeitlosen Roman geschrieben, der unseren moralischen Kompass nicht hohl drehen lässt. Das ist der Nordpol. Daran kann man sich ausrichten.

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TELL von Joachim B. Schmidt

Mehr von Joachim B. Schmidt? Gerne doch:

Herzlich willkommen in Island. In Raufarhöfn, um ganz genau zu sein. Das beinahe ausgestorbene Fischerdorf ist auf unseren Landkarten kaum zu finden und doch ist es eine Reise wert. Das behauptet zumindest Joachim B. Schmidt, der Schriftsteller und ausgebildete Reiseleiter, der selbst seit dreizehn Jahren in Island lebt. Eigentlich sollte er es ja wissen, und so kann man sich diesem literarischen Auswanderer bedenkenlos anvertrauen, um ihm in die eisige Kälte am Rande der Zivilisation zu folgen. Dachte ich zu Beginn seines Romans „Kalmann“ zumindest. (Rezension weiterlesen)

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TELL von Joachim B. Schmidt

Wir sind das Licht von Gerda Blees

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Wir sind das Licht von Gerda Blees

Oh ja, wir lieben das schon sehr. Perspektivwechsel sind in der Literatur oftmals das Salz in der Suppe, wenn es darum geht, ein Szenario von mehreren Seiten einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Hier sind unerwartete Wendungen verborgen, hier klärt sich so manches Geheimnis auf und genau mit diesem Stilmittel wird mit den großen Klischees innerhalb einer Geschichte aufgeräumt. Und wenn es einen Roman gibt, der sich diesem Vexierspiel der Sichtweisen zu einhundert Prozent verschrieben hat, dann ist es „Wir sind das Licht“ der niederländischen Autorin Gerda Blees. Wer jetzt denken sollte: „Hatten wir doch schon…“, „Muss man doch nicht so hervorheben“, oder „Nicht schon wieder vier Protagonisten und ihre Doppelsicht auf ein altbekanntes Setting“, sollte unbedingt weiterlesen. Denn genau das ist dieser Roman nicht. Gerda Blees bricht mit allen Konventionen, wirft viele Erzähltraditionen über den Haufen und besticht literarisch, indem sie sich dem Sprachlosen, Immobilen und nicht Lebendigen des Settings annähert und ihnen Stimme, Ausdruck, Charakter und Leben verleiht.

Neugierig geworden? Fein. Das war das Ziel. Also, worum geht es augenscheinlich in diesem schon auf den ersten Blick ungewöhnlichen Plot? Versetzen wir uns mal in eine ganz normale Wohnung. Die Heimat der Wohngruppe „Klang & Liebe“ in der sich vier Menschen auf ein besonderes Miteinander eingelassen haben. Wir würden es vielleicht als alternativ bezeichnen. Mag man sehen, wie man will, jedenfalls muss etwas passiert sein, denn bei Licht besehen stimmt hier gerade gar nichts mehr. Eine Bewohnerin lebt nicht mehr. Oder besser gesagt: Sie ist in der letzten Nacht verstorben. Oder, um es im Klartext auf den Punkt zu bringen, sie ist verhungert. Der Rest der Wohngemeinschaft erlebt den Morgen nach dem Tod von Elisabeth aufgewühlt und voller Zweifel. Es sind noch drei weitere Personen in der Wohnung. Ein Mann und zwei Frauen. Melodie van Hellingen, die Schwester der Toten und das Pärchen Muriel und Petrus. Wie kann ein Mensch, der nicht alleine lebt, verhungern? Das mögen wir uns fragen. Aber glaubt mir, das ist nur eine von tausend Fragen, die uns bereits im ersten Kapitel dieses Romans in den Sinn kommen. Denn auch die anderen Mitbewohner sind ausgehungert und fast am Ende ihrer Kräfte…

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Wir sind das Licht von Gerda Blees

Ihr denkt nun, dass ihr durch die Perspektiven der Überlebenden in diese Geschichte hineingesaugt werdet. Ihr denkt, ihr würdet nun durch wechselnde Sichtweisen auf die Ursachen der Ausgangssituation stoßen. Ihr denkt, nun würden die Menschen zu Wort kommen und vom Hunger, vom Sterben, von der gemeinsamen Philosophie und jener Wohngemeinschaft erzählen, die uns so fremd erscheint? Falsch! Ganz falsch. Es sind die wohl außergewöhnlichsten Perspektiven, die Gerda Blees hier ins literarische Feld führt, um uns die Augen zu öffnen. Um unser atemloses Staunen in einem Zustand der Dauererregung zu versetzen und uns als Augen- und Ohrenzeugen zu fesseln. Es sind Perspektiven, die in dieser Form noch niemals zuvor ihre Stimme erhoben haben. Hier sind einige von ihnen, die sich zu Beginn der jeweiligen Kapitel höflich vorstellen:

Wir sind die Nacht,
Wir sind der Tatort,
Wir sind die Nachbarn,
Wir sind ein Orangenduft,
Wir sind ein Cello,
Wir sind die Fakten,
Wir sind die Zweifel,
Wir sind Elisabeths Körper
und natürlich und ganz zuletzt

Wir sind das Licht..

Es wird emotional, unheimlich, weltbewegend und kurios, wenn wir uns auf diese Perspektiven einlassen. Wann hat uns jemals ein Tatort erzählt, wie er sich fühlt, was ihn selbst zum Tatort werden lässt und wie verletzt er sich in all diesem Durcheinander fühlt. Vom Tatort erfahren wir viel, werden Zeugen der ersten Dialoge der Ermittler und bekommen ein Gefühl für einen Raum. Das ist literarisch mehr als brillant…

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Wir sind das Licht von Gerda Blees

Wir sind der Tatort:

„Sie passen nicht hierher, diese Menschen. Sie sind zu groß, zu breit, zu laut. Unsere Treppenstufen sind so stampfende, schwere Körper gar nicht mehr gewöhnt. Weder das Gewicht noch das Geräusch. Sie könnten ruhig etwas vorsichtiger mit uns umgehen, wenn man bedenkt, dass wir der Ort sind,
an dem die Antwort liegt.“

Es sind die beiden Elemente, die uns zu Süchtigen machen. Es ist die Geschichte, die sich immer weiter erklärt, und es sind die Sichtweisen, die uns faszinieren und die uns nachhaltig beschäftigen. Jeder Perspektive können wir Details abgewinnen, jeder Sichtweise, jedem Gegenstand, jedem Gefühl, jedem Begriff fühlen wir uns nach dem letzten Wort verbunden. Dabei gelingt es Gerda Blees, die Personen nicht zu Figuren zu degradieren, die kaum eine eigene Rolle spielen. Ganz im Gegenteil. „Wir sind das Licht“ lebt von der morbiden Vitalität der Protagonisten. Der Roman erzählt sich selbst. Im wahrsten Wortsinn. Spätestens, wenn sich die Erzählung selbst an uns richtet, ist es die Gänsehaut des Angesprochenen, der hier verweilt und sich hinterfragt.

Wir sind die Erzählung

„Und das wird uns als Erzählung nicht gerecht, vor allem nicht in Kombination mit Ihnen, dem Leser, denn beabsichtigt oder unbeabsichtigt haben Sie genauso viel Schuld an allen Unklarheiten wie die Autorin. Wie oft haben sie beim Lesen an etwas anderes gedacht? Und wie oft haben sie etwas in uns gelesen, was da gar nicht stand?

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Wir sind das Licht von Gerda Blees

Jede einzelne Perspektive weiß zu überzeugen. Jede trägt erheblich zur Klärung des Falles bei. Jede dieser auskunftsfreudigen Sichtweisen hilft uns dabei, unseren Weg zu finden und aufmerksamer zu werden. Wir lernen die Akteure kennen. Überlebende und eine Tote. Polizisten, Nachbarn, Angehörige. Und wir lernen jene Rahmenbedingungen kennen, die ins fatale Verderben führen. Dies ist eine Geschichte von Leichtgläubigkeit und Verführung. Von der Suche nach dem Sinn im Leben und den Profiteuren alternativ zu lebender Leben. Ernährung durch Licht? Eine Sekte? Glaube an Selbstreinigung im Verlust der eigenen Körperlichkeit? Schwurbelei? All dies findet sich in diesem Roman. Bewegend und erschütternd. Essstörungen prallen auf Nahrungsverweigerung. Harter Stoff in hartem Gewand. Nichts wird beschönigt. Ein Debütroman von einer Wucht, die laut nach Aufmerksamkeit schreit. In jeder Form…

Ich habe den Roman gelesen und bin regelmäßig in die brillante Hörbuchfassung abgetaucht. Hier sind es vier Stimmen in dieser ungekürzten Lesung, die Perspektiven hörbar machen. Es ist kein Stimmgewitter, keine Überlagerung, es ist das konsequente Aufzeigen der einzelnen Sichtweisen, die dann konzentriert ihren Vortrag an uns Hörer richten. Eindringlich. Bemerkenswert und voller Tiefgang. Es waren extrem emotionale Momente, die mich im Hörbuch direkt berührten. Es ist die Autopsie der Toten, die für mich zu den literarischen Highlights des Romans gehört. Diese Sequenz zu hören, ist ein so aktiver Moment der Auseinandersetzung mit diesem Text, dass man sich kaum entziehen kann. Die Begegnung einer Leiche mit dem Pathologen bleibt tief in meiner Erinnerung. Ich las selten etwas Bewegenderes, noch hörte ich es zuvor…

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Wir sind das Licht von Gerda Blees

Wir sind Elisabeths Körper

„Hätte Elisabeth während ihres Lebens nur halb so viel Bewunderung für uns, ihren eigenen Körper, gehabt, wie Theo gerade, dann würden wir hier nicht liegen… Wenn Elisabeth am Leben geblieben wäre, hätten wir nie erfahren,
wie es ist, von einer liebevollen Hand in unserem Inneren berührt zu werden.“

Wie immer man sich diesem Text auch nähert, er bleibt unvergessen. Lesend ist es möglich, sein eigenes Tempo zu finden, Pausen zu machen und alles auf sich wirken zu lassen. Hörend gerät man in einen Sog, den man lesend kaum selbst erzeugen kann. In jeder Beziehung gelingt es beiden Medien für sich (oder eben auch in der Kombination miteinander) zu überzeugen. Gerda Blees hat einen aufregenden Roman geschrieben, in dem wir Leser das Licht sind und die Perspektiven zusammenführen. Im Hörbuch ist es ein Ensemble brillanter Stimmen, das uns einflüstert, wie wir der Wohngemeinschaft begegnen können. Benno Führmann, Jannik Schümann, Sandrine Mittelstedt und Claudia Michelsen erweitern das Erlebnis Licht um die Dimension Klang. Wer das Buch nicht gelesen und / oder das Hörbuch nicht gehört hat, verpasst ein großes Stück Literatur des Jahres 2022…

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Wir sind das Licht von Gerda Blees

Ein kleines PS. Hörbücher stehen bald im Mittelpunkt unserer GlockenbachWelle. Augen und Ohren auf! Ein Special nicht nur für Hörbuchliebhaber… 

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Wir sind das Licht von Gerda Blees

Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie - Astrolibrium

Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Oh natürlich. Gerade in den letzten Tagen, besonders am Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, las und liest man immer wieder, ob es nicht langsam genug sei. Ob man nicht andere Probleme habe. Ob es nicht an der Zeit sei, das Vergangene ruhen zu lassen. Den Holocaust zu den Akten zu legen. Oh natürlich. Bevorzugt fragen dies die Erben der rechten Ideologie, die heute nur von Hass und Spaltung leben. Jene, die sich als harmlose  Alternative bezeichnen, gegen Flüchtlinge und Migration ins Feld ziehen, und dann in plötzlicher Ermangelung ihrer eigentlichen Kernthemen, für Freiheit und gegen Diktaturen spazieren gehen.

Und genau hier stehe ich auf und halte die Stellung: Nein, es ist nicht genug. Jetzt fragen uns Kinder und Jugendliche, die Montagsspaziergänge erleben: Warum sagen die Leute „Man geht nicht mit Nazis“? Gerade jetzt braucht es Haltung, Meinung und relevante Literatur für Kinder und Jugendliche. Jetzt müssen sie kapieren, dass die ideologischen Wölfe von einst im Schafspelz von heute unterwegs sind, und andere als schlafende Schafe bezeichnen. Darum lese ich. Darum schreiben unsere Schriftsteller und Schriftstellerinnen Gegen das Vergessen und darum wird von mutigen Verlagen verlegt. Schließt euch an. Bewahrt Haltung und helft anderen dabei, sich zu orientieren. Lest und geht raus ins Leben. Erzählt von diesen Geschichten. Das ist meine Message in diesen Tagen. Bringt diese Erzählungen mit in die Schulen, macht sie zur Lektüre in den Fächern, die nicht ausgehöhlt werden dürfen. Ich habe euch vor wenigen Wochen „Dunkelnacht“ von Kirsten Boie ans Herz gelegt. Ich schrieb in meiner Rezension:

Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie - Astrolibrium

Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Dunkelnacht sprengt den Rahmen eines Jugendbuches. Dunkelnacht fordert viel von seinen Lesern und Leserinnen. Wer verstehen will, muss wissen, wer wissen will muss lesen. Wer liest, wird sich erschrecken, angewidert den Kopf abwenden und sich fragen, wie das nur geschehen konnte. Kirsten Boie hat viele Antworten in diesem Text verborgen. Manche augenscheinlich, andere wieder gut versteckt. Es ist gerade an der Jugend von heute, diese Antworten zu finden, und eigene Antworten für die Zukunft zu entwerfen. Und dann heißt es, dafür einzustehen.

Was in den letzten Kriegstagen in Memmingen geschah, gehört zu den sogenannten Endphasenverbrechen. In einer Phase der Auflösung war alles denkbar und erlaubt. In wenigen Wochen jedoch wäre der Krieg Geschichte. Dann, ja dann wäre doch alles im Lot. Das war die Hoffnung und so sieht heute unser Denken aus. Am Ende des Krieges steht der Frieden. In welchen menschlichen Verwerfungen sich dieser Nichtmehrkrieg allerdings abspielt, wird selten erzählt. „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ bildet hier eine literarische Ausnahme. Kirsten Boie hat keinen Trümmerfrauenroman für Kinder und Jugendliche geschrieben. Sie hat sich nicht ins mehrfach ausgebombte Hamburg hineinversetzt, um den Aufbruch in eine neue Zeit zu erzählen. Nein, Kisten Boie lässt uns eine Trümmerwoche unmittelbar nach der deutschen Kapitulation erleben. Es sind die Tage vom 22. Juni bis zum 29. Juni 1945, die wir an ihrer Seite erleben. Tage, die wir in der Realität niemals erleben wollten. Glaubt mir.

Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie - Astrolibrium

Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Wer auf der Suche nach altersgerechten Antworten auf die oben genannte Frage ist, warum man nicht mit Nazis spazieren geht, dem sei dieser Roman empfohlen. Ja, zugegeben, es ist auch für 14jährige Lesende harter Stoff, weil Kirsten Boie keinen leichten Weg mit uns geht. Dieses Buch stinkt, es ekelt uns an, wir haben Angst, sehen einer ungewissen Zukunft ins Auge, vertrauen niemandem, sind chancenlos und tragen dabei auch noch eine Vergangenheit in uns, die wir wohl nicht wieder loswerden. Wenn man sich auf diesen Roman einlässt, wird man selbst zum Jugendlichen in einer Stadt, die einer Trümmerwüste gleicht. Die tägliche Versorgung gleicht einem Glücksspiel und ein unbeschwerter Alltag findet nicht statt. Keine Schule, keine Hoffnung, keine Zukunft. So sieht es aus für die Teenager, die uns Kirsten Boie an die Seite schreibt. Da ist der ehemalige Hitlerjunge Hermann, der in den schäbigen Resten einer Uniform die Reste seiner einstigen Autorität zu finden sucht. Sein Vater, Kriegsinvalide, zerstört die Idylle des Friedens und macht aus Hermann einen Jungen, der nur dazu taugt, seinen Vater in der Ruine des Hauses zur Toilette zu tragen. Oftmals zu spät. Alles stinkt. Da bleibt der burschikosen Traute nichts anders übrig, als zu stehlen, um von den Jungs in der Straße wahrgenommen zu werden. Sie, die kaum noch Platz für sich hat, weil doch in der Wohnung der Eltern Flüchtlinge aus dem Osten einquartiert sind.

Da sind Jungs, die auf der Flucht nach Hamburg ihre Geschwister verloren haben. Da wird mit einem Fußball des großen Bruders gespielt, der inzwischen gefallen ist und da sind die amerikanischen Soldaten, die in der Trümmerwüste Patrouille fahren. Nichts in Hamburg fühlt sich normal an, nichts schmeckt nach Frieden. Und über allem hängt der Beigeschmack des verlorenen Krieges. In Hermann toben die Schlachten intensiv, hat er doch so an alles geglaubt, was die Partei und alle ihm vorgebetet haben. Aus seiner Sicht werden wir mit dem Vokabular des Dritten Reichs konfrontiert. Schmarotzer am Volkskörper, Untermenschen, Volkssturm. Schwer zu ertragen. Es ist eine Gruppe, die sich langsam in das neue Leben findet. Mit allen Verletzungen, offenen Wunden in ihren Seelen und in den Seelen ihrer Familien und vor dem Hintergrund einer Stadt, in der man kaum noch überleben kann. Als dann ein Junge zu ihnen stößt, der in keines der Bilder passt, die hier ständig aus dem Rahmen fallen, bricht ein emotionaler Krieg im Frieden aus.  Die letzten Wände beginnen zu wanken. Jakob taucht auf. 

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Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Es ist dieser Jakob, den gerade jetzt niemand wahrhaben will. Er hat sich in den Trümmern versteckt. Er wurde von den Nazi-Tätern an den Rand einer Gesellschaft gedrängt, die sich als reinrassig bezeichnete. Sein Fehler: Die jüdische Mutter. Hier zeigt sich das Opferbild des Nationalsozialismus in der Trümmerwelt einer Ideologie, die gescheitert ist. An Jakobs Familie zeigt sich die schrittweise Entrechtung und die gnadenlose Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Rassegesetze, Rassenschande und jüdische Versippung lesen sich hier wie Todesurteile. Jakobs Vater stirbt, seine Mutter wird deportiert. Er bleibt zurück. Er macht sich unsichtbar. Fürchtet sich täglich davor entdeckt zu werden und doch treibt ihn der Hunger zurück ans Licht und in die Arme der Jugendlichen, die hier Fußball spielen. Hier zieht Kirsten Boie alle Register der Verdrängung und des Nichtwissens über die Opfer. Hier geht sie mit der Jugend und mit der Geschichte ins Gericht. Wie konnte man nur glauben, wie konnte man nicht sehen… wie konnte man wegschauen… wie konnte man mithelfen… Diese Fragen brennen diesem Roman ihren Stempel auf.

Es ist bewegend, den Weg dieser Jugendlichen zu verfolgen. Es ist erschütternd zu sehen, wie tief Vorurteile und Hass sich verankern können. Es ist grandios zu erkennen, welche Auswege es aus der Ausweglosigkeit gibt. Es macht Mut zu lesen, dass es auch in dunkelsten Zeiten Hoffnung geben kann. Und es ist ein Beispiel für uns alle, nicht zur Seite zu schauen, wenn Menschen ausgegrenzt, beschimpft und verfolgt werden. Kein Grund rechtfertigt das. Weder die Herkunft, noch die Religion, noch Geschlecht der die sexuelle Neigung. Diejenigen, die diesen Hass verbreiten, haben kein anderes Thema. Sie sind klein, wenn sie niemanden finden, den sie zum Underdog machen können. In all ihren Worten schwingt diese Ausgrenzung mit. Die Jugendlichen von heute müssen lernen, was wirklich gesagt wird, wenn die alten Begriffe wieder salonfähig werden. In diesem Roman finden sie Klartext zu damals und damit auch einen Leitfaden für heute. Macht euch eure eigenen Bilder. Lasst nicht zu, dass die Hermanns von heute erneut ihr Unwesen treiben können. Geht euren Weg.

Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie - Astrolibrium

Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Wer nach diesem Roman immer noch glaubt, alternative Patrioten würden gerade und ausgerechnet gegen eine Diktatur auf die Straße gehen, dem ist kaum noch zu helfen. Wer darüber hinaus auch noch der Meinung sein sollte, Impfgegner hätten das Recht, das nationalsozialistische Kennzeichen für Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 rechtlich als Juden galten, zu tragen, sollte sich einfach überlegen, welche Chancen die Opfer von damals hatten, sich selbst zu retten? KEINE. Es ist die Verharmlosung der Taten der Nazis, es ist das Aneignen eines Opfer-Narratives, das im Moment salonfähig wird. Augen auf.

Heul doch nicht, du lebst ja noch“ – Prädikat besonders empfehlenswert – Ein Buch, das seinen Weg in die Schulen finden sollte, damit nicht wieder Länder in Brand gesetzt werden müssen, bevor man bereit ist, umzudenken. Danke, Kirsten Boie. 

Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie - Astrolibrium

Heul doch nicht, du lebst ja noch von Kirsten Boie

Blicke ich am Ende dieser Zeilen in die Ukraine, dreht sich mir der Magen um. 

Einer von euch von Martin Suter

Einer von euch von Martin Suter - Astrolibrium

Einer von euch von Martin Suter

Hallo Bücherwelt. Achtung festhalten, es geht diesmal um ein Buch, das genau in die aktuelle Phase einer kritischen Auseinandersetzung mit Literatur passt. Da schreibt ein vom Erfolg verwöhnter Autor aus der Schweiz über einen Fußballer, ohne jemals selbst auf dem Platz gestanden oder Champions League gespielt zu haben. Martin Suter. Da erzählt er von einer lebenden Legende ihres Sports, einem modernen Helden und einer Kultfigur der Fußballszene: Bastian Schweinsteiger. Weltmeister, mehrfacher Meister in nationalen und internationalen Ligen, Pokalsieger und Identifikationsfigur. Allerdings wirklich und weitgehend nur am runden Leder. Hört man Basti Schweinsteiger in seinen Interviews oder als TV-Experten zu, dann fällt einem das Prädikat „eloquent“ für seine Ausdrucksweise, gewählte Satzkonstruktionen oder für die Verwendung von passenden Synonymen eher nicht ein. Wer Basti Fantasti durch seine Karriere beim FC Bayern München gefolgt ist (ICH!), würde ihn angesichts seiner Interviews zu Life & Style eher nicht als belesenen Menschen beschreiben. In der Kategorie Lieblingsbuch klaffen hier deutliche Lücken.

Was haben wir also zu erwarten, wenn ein Nicht-Fußballer einen Kaum-Leser in den Mittelpunkt eines biografischen Romans stellt? Nun, völlig unabhängig von der Qualität der literarischen Begegnung, ganz sicher den kollektiven Aufschrei des Feuilletons. Zu banal, zu flach, zu irrelevant für die heutige Zeit. Zu wenig überprüfbar, nicht an Fakten orientiert und spekulativ und letztlich auch kaum von Interesse für die Leserschaft. Gut, die Frage, wer über was schreiben darf zirkuliert gerade wie ein Damoklesschwert über der Literaturszene und ich als Nicht-Fußballprofi aber Vielleser darf zumindest vielleicht noch über einen Teilaspekt des Buches schreiben. Als männlicher Tennislaie dann aber wohl schon nicht mehr über die zweite Hauptfigur des biografischen Romans, die Frau von Bastian Schweinsteiger, die ehemalige Nummer 1 der Weltrangliste Ana Ivanović. Ich breche allerdings mit den auferlegten Tabus und schreibe als Nicht-Schweizer und Kaum-Fußballer mit wenigen Tenniskenntnissen über genau dieses Buch, weil es mich bestens unterhalten hat. Und erst dann äußere ich Kritik zu: „Einer von euch.“

Einer von euch von Martin Suter - Astrolibrium

Einer von euch von Martin Suter

Als bekennender Fan des FC Bayern München habe ich natürlich eine besondere Affinität zu „meiner“ Nummer 31, Bastian Schweinsteiger. Das macht es dem Buch jedoch nicht leichter, da ich kritisch beleuchte, was ich aus eigener Erfahrung weiß, was ich sah, las und hörte. Ich sah unseren „Schweini“ spielen, sah ihn zweifeln, leiden und jubeln. Ich war im Stadion, wenn er gewann, verlor, gefoult und ausgepfiffen wurde. Ich  war dabei, wenn die Südkurve in Ekstase erbebte, las die bitterbösen Kolumnen, wenn er mal wieder alle Regeln verletzte, feierte unseren blutenden Weltmeister und war am Ende seiner Zeit in München dankbar für eine strahlende Vergangenheit. Was mich am Roman aus der Feder von Martin Suter reizte, war nicht die Decodierung eines Helden oder gar ein Sachbuch zu dieser allzu bekannten deutschen Biografie. Nein, ich wollte mich auf die Sicht Martin Suters einlassen, ungewohnte Perspektiven erlesen und mich in Form von 370 Seiten an meiner Vergangenheit reiben. Natürlich fand ich es mehr als spannend, auf diesem Wege auch Ana Ivanović ein wenig besser kennen zu lernen.

Wenn also Martin Suter das Leben Bastian Schweinsteigers vor uns aufblättert und in der Tiefe des Raums nach wegweisenden Begegnungen und Entscheidungen sucht, in  Zufall und Bestimmung stochert und Bastian selbst in Dialogen zu Wort kommen lässt, dann war ich darauf gefasst, diesem Menschen so zu begegnen, wie ich ihn selbst im Verlauf seiner Karriere erlebt habe. Ein recht typischer Bayer, der nicht dazu neigt, im Stile eines elitären Debattierers Akzente zu setzen. Er spricht und sprach Klartext. Wir können uns von seiner doch eher einfach gestrickten Redegewandtheit als TV-Experte überzeugen und sicher wird im Buch niemand erwarten, dass Martin Suter jetzt und an dieser Stelle einen Sprachhelden aus der Fußballikone machen wird. Der limitierende Faktor „Schweinsteiger“ ist da omnipräsent. Und doch gelingt es dem Erfolgsautor mit seinem Projekt in der Spur zu bleiben. Es ist Lokalkolorit und Münchner Ambiente, das die Seiten durchströmt, es ist ein spürbarer Coming-of-Age-Ansatz, dem er treu bleibt und es sind die Rahmenbedingungen, die nachvollziehbar beschrieben sind. Wem es hier allerdings an philosophischem Tiefgang mangelt, dem sei gerne wiederholt, dass es einen limitierenden Faktor im Projekt gibt. Den Jetzt-Menschen Schweinsteiger, der in seinen Entscheidungen und in seiner Selbstbetrachtung genau so beschrieben wird, wie man dies erwarten durfte und musste.

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Einer von euch von Martin Suter

Martin Suter ist kein Menschen-Tuning-Unternehmen. Er kann nicht mehr aus einer Situation herausholen, als derjenige, den sie betraf, investiert hatte. Entscheidungen im Hause Schweinsteiger wurden mit dem Bauch getroffen. Diskutiert wurde nicht so lange und wenn, dann waren die Entscheidungsparameter zu Beginn der Karriere doch recht überschaubar. Mir gefällt diese Annäherung an den Menschen Schweinsteiger, weil sie eben so authentisch gelingt. Ungekünstelt und nachvollziehbar. Nur so lassen sich jene Schritte, Fluchten und Entscheidungen erklären, die der Sportler später treffen musste, als es schwieriger wurde. Als die Akzeptanz schwand, die Zuneigung in kleinerer Dosis akzeptiert werden musste und die Ikone hinter ihre Kulissen blicken musste. Gelungen ist dieser Spagat. Gelungen sind auch die Aufschläge, die plötzlich einen Tennisball auf dem heiligen Rasen der Fußballgötter einschlagen lassen. Die Perspektive Ivanović ist eine wahre Bereicherung für diesen biografischen Roman. Die wahren Geheimnisse in der Beziehung zweier Weltstars seien ihnen vergönnt. Was Martin Suter sich erdachte oder in welche Bilder er Spurenelemente der Wahrheit integrierte, das mag sein großes Geheimnis bleiben. Oder eben das von Bastian und Ana.

Natürlich ist das ein Fußball-Buch. Ebenso, wie es ein Tennis-Buch ist. Natürlich darf man nicht erwarten, zwei Sportikonen losgelöst von ihren eigentlichen Welten zu erleben. Natürlich ist das eine Lovestory im klassischen Sinn. Es ist schlicht romantisch weil es einfach so romantisch schlicht ist, wie sich diese Wege kreuzen und nicht mehr trennen. Und doch ist es keine Boulevard-, keine Klatschgeschichte, weil es genau dies zuletzt ist, was wir von Martin Suter erwarten dürfen. Vielleicht spielt er dann und wann mit der Wahrheit. Mit den Gefühlen der beiden Menschen, die er hier beschreibt, spielt er nicht. Ein mehr als sympathischer Aspekt am Roman ist, dass wir dieser Geschichte weiterhin folgen dürfen und können. Der Fußballer, der am Ende seiner Karriere sagte „Ich bin einer von euch“ hat sich an sein Mantra gehalten. Er ist verbindlich und stets aufrichtig. Er sagt seine Meinung und zeigt klare Kante. Wenn er mit Frau und Kindern unterwegs ist, erleben wir ihn anders. Fast ungeschminkt, weich, nicht heldenhaft. Wer also nicht gerade die literarische Erleuchtung vor dem Herren erwartet, wird hier sehr gut unterhalten. Was will man mehr? „Einer von euch“ besticht das Publikum und ist Tabellenführer der Bestsellerlisten. (PS. Schweinsteiger war nie Vizemeister…)

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Ein kritisches Wort zum Schluss. Was erwartet der Fußballfan von diesem Buch? Das ist eine Frage, die man sich stellen muss und darf. Authentisch soll es schon sein, wenn es den Kern der Biografie betrifft. Der Sport ist messbar, faktischer Rahmen und nicht zu diskutieren. Angesichts der Karriere von Bastian Schweinsteiger ist es daher vorhersehbar und kalkuliert, dass dieses Buch eben genau von den Menschen gelesen wird, denen sein Name etwas sagt. Und unter denen befinden sich Fußballfans, die in und zwischen den Zeilen die schärferen Kritiker sind, als es das Feuilleton je sein kann. Es hat mich sehr gewundert, genau hier auf die zentralen Schwächen des Romans zu stoßen. Wenn ich die Hauptfigur an anderer Stelle als limitierenden Faktor bezeichnet habe, dann ist er in Sachen Fußballsachverstand der wahre Trumpf dieser Biografie. Und doch stockte mein Lesen bei einer Vielzahl von Fehlern im Fußballjargon, die ich mir auch nicht mit der neutralen Herkunft des Schweizer Autors erklären konnte, Wenn ein Basti Schweinsteiger das gelesen hätte, er hätte einigen Begriffen die rote Karte gezeigt.

Ich möchte das belegen, weil es den positiven Gesamteindruck des Buches für mich ein wenig geschmälert hat. Aus dem Suter-Schweini-Dreamteam der Pressekonferenz wird beim Lesen dann doch das Buch Suter, das wie so viele andere Werke im Hause Schweinsteiger nur Zierrat ist.

Zum Fußball-Sachverstand:

Schuhsenkel sind bei mir Schnürsenkel,
Der Spielrand ist mein Spielfeldrand,
Der Schuss ins weite Eck ist eigentlich der Schuss ins lange Eck,
Man wird nicht gegen, sondern für einen Mitspieler eingewechselt,

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Einer von euch von Martin Suter

Der Satz:

Doch dann, endlich, in der achtundsechzigsten Minute
wechselte Völler Schneider durch Schweinsteiger ein.
Zwei Minuten später schoss Basti aufs Tor.

ergibt einwechslungstechnisch einfach keinen Sinn.

Und zu unguter Letzt. Den Lebenshöhepunkt einer Fußballerkarriere mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft so krachend in den Sand zu setzen, indem man die Mannschaft zur „PREISVERLEIHUNG“ antreten lässt, verursachte bei mir Gänsehaut. Hier drängt sich mit der Verdacht auf, dass der eigentliche Trumpf dieses Buches nicht als Trumpf herangezogen wurde. Die Siegerehrung hätte ich mir gewünscht.

Mein Fazit: Ein gelungener Sturmlauf, tolle Tore und ein Trainer, der dem Spiel seinen Stempel aufgedrückt hat. Erst in der Zeitlupe kann man ein paar technische Probleme erkennen, die für ein paar Abseitsentscheidungen verantwortlich waren. Das Publikum auf der Tribüne hat viele dieser Feinheiten übersehen und jubelt immer noch. Schweini Schweini Fußballgott… dröhnt es durchs weite Rund. Abpfiff. Suter raus-Rufe waren vereinzelt zu hören, werden jedoch vom Verein wegmoderiert. Vertrag verlängert…

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