Im Rahmen meiner Auseinandersetzung mit den, für den Bayerischen Buchpreis 2020 nominierten SchriftstellerInnen und Büchern bin ich in der Kategorie „Bestes Sachbuch“ mit Facetten eines politischen Schreibens konfrontiert worden, die für sich genommen allesamt preiswürdig sind. Der Aktualitätsbezug zeichnet diese Bücher aus. Die Spiegelung historischer Personen, die zum Widerspruch animieren, wie ein Karl Kraus, oder die mit neuen Thesen gespickte Neuerzählung der Demokratiegeschichte unseres Landes, in der die politische Basis unseres Handelns sich zur Affäre für jeden Bürger entwickelt, verdienen höchsten Respekt. Last but not least beschäftige ich mich kurz vor der Preisverleihung mit einem Sachbuch, dessen Titel wie der Wake-up-Call für eine Gesellschaft wirkt, bevor man auch nur die erste Seite gelesen hat.
Mit was denn bitte sonst, möchte man sich fragen, wenn man zum Buch von Max Czollek greift? Genau darum dreht sich doch unser tägliches Leben, dem widmen wir unsere Aufmerksamkeit in Diskussionen und hier sehen wir den Grund für die intensive Auseinandersetzung mit Nachrichten, Podcasts und News-Formaten. Nichts anders, als das ist die Maxime unseres Handelns. „Gegenwartsbewältigung“ könnte die Headline dieses Jahres sein, in dem wir alle nicht nur von politischen Verwerfungen, radikalsten Positionsgefechten und demokratischen Verwirrungen betroffen sind. Nein, reicht wohl nicht aus. Ganz nebenbei trifft uns auch noch eine Viruspandemie, die von uns nichts anderes verlangt, als unsere Gegenwart irgendwie – wie auch immer – zu bewältigen. In keiner anderen Frage bin ich den Menschen in meinem Umfeld näher. Wir bewältigen doch gerade. Oder bin ich, sind wir, auf dem Holzweg? Haben wir uns in den Visionen einer leicht erklärbaren Gesellschaft in eine Komfortzone zurückgezogen, die den Blick auf andere Perspektiven kaum zulässt? Machen wir es uns zu leicht?
Ich bin auf der Hut in diesem Buch. Ich bin vorsichtig. Zu oft hat man in letzter Zeit versucht, meine Haltung infrage zu stellen. Ich bin solidarisch, empathisch, habe beide Beine auf dem Boden unserer Demokratie, schreibe seit Jahren gegen das Vergessen der Opfer des Nationalsozialismus an und verweigere mich nicht den Maßnahmen zur Eindämmung dieser Pandemie, auch, wenn es meine Freiheitsrechte einschränkt. Ich bin mittendrin in der Gegenwartsbewältigung und sehe ganz genau, wer sich hier in aller Konsequenz verweigert. Ich schreibe gegen Populisten und Politiker an, die sich als Alternative bezeichnen, uns jedoch nur mit einem Salto Rusticale in eine Ideologie katapultieren wollen, die auf der Unterdrückung von Minderheiten basiert. Hey, werter Herr Czollek, bei mir müssen Sie nicht anfangen mit ihren Thesen. Sage ich und schon bleibt mir das eben Gesagte mitten im Hals stecken. Ich lese kleinlaut, fast ehrfürchtig, zumindest staunend weiter.
Auf welchen Grundannahmen basiert meine Haltung? Was ziehe ich rechtfertigend für meine Argumentationslinie in die Schlachtformation meines Haltungskrieges? Wieso reagiere ich allergisch, wenn an Haltungsschäden Leidende gegen meine Demokratie in Fahrt kommen und Sturm laufen? „Hallo Deutschland, jemand in der Leitung?“ lautet der Weckruf von Max Czollek. Was zeichnet Erinnerungskultur in Deutschland aus und wer schreit hier eigentlich nach deutscher Leitkultur? Gehen wir sogar Regierenden auf den Leim, weil ihre Argumentationslinie erneut auf einem Ausschluss von Minderheiten aus dem gesellschaftlichen Gefüge basiert? Czolleks Thesen sind gewaltig, sie sind mir im ersten Moment zu gewagt, dann jedoch bleibt mir nichts anderes übrig, als mich mit ihm und seiner Haltung auseinanderzusetzen und nach Symptomen eines Denkens zu suchen, das er für verfehlt hält. Wozu führt ein neu verbreiteter Heimatbegriff? Haben wir dabei all jene aus den Augen verloren, deren Heimat wir nicht bei uns verorten? Ist das Erwachen nationalen Denkens in einer multikulturellen Gesellschaft nicht erneut ein Todesurteil für alle jene, die auf der Strecke bleiben? Und wie kann eine Gesellschaft von deutscher Leitkultur reden, wenn es in der deutschen Geschichte ausschließlich Opfer zu beklagen gibt, wenn wir diese Kultur mal ordentlich sezieren?
Dürfen wir uns wundern, wenn in einem Land, dessen Regierung „Dem deutschen Volke“ dient, erneut Rufe laut werden, die entweder besagen „Wir sind auch das Volk“ oder „Wir sind aber ein anderes Volk“? Zieht nicht die Verbindungslinie: Volksbegriff – Nationalgedanke – Heimat eine deutlich sichtbare Demarkationslinie durch ein Land, in dem eine Gesellschaft deutlich zeigt, dass sie unter sich bleiben will? Was sind Aufrufe zur Solidarität in der Coronakrise wert, wenn wir gleichzeitig Teilen der Gesellschaft in diesem Land zeigen, dass wir sie gar nicht meinen, wenn wir von Heimat reden. Erneut fällt uns die unselige Diskussion auf die Füße, ob der Islam zu Deutschland gehört. Czollek blickt zurück in die Vergangenheit dieser Begriffe, er spannt seinen Bogen bis zu Victor Klemperer, der sich im bombardierten Dresden versteckte und im Tagebuch dokumentierte, wie sehr die Sprache den Holocaust erst möglich machte. Von Adorno bis in die Gegenwart reicht Czolleks relevanter Exkurs. Seine Leitlinie ist klar. Ein Buch zu schreiben, das eine AfD unmöglich macht. Der Kampf gegen den Rechtsruck. Aber seine Argumentationslinie lässt so manchen Demokraten recht dumm aus der Wäsche schauen, weil er längst ähnlichen Denkmustern erlegen ist. Nur werden heute andere aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Flüchltlinge, Muslime, Migranten, Queere u.s.w. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.
Max Czollek begnügt sich nicht damit, Finger in deutsche Wunden zu legen. Sein Text geht tiefer unter die Haut, als man es sich manchmal wünschen würde. Er schildert die nationalsozialistischen Kontinuitäten, die nach dem Untergang des Dritten Reichs in beiden neuen deutschen Staaten überlebt haben. Seine Analyse zur Erfolgsgeschichte einer deutsch-nationalen Partei in den neuen Bundesländern ist stichhaltig und hält uns Wessis vor Augen, was nach dem Mauerfall versäumt wurde. Wer Ost-Biografien nach der Wende diskriminiert und ein Gedankengut vom „besseren Westen“ kultiviert, darf sich nicht wundern, wenn der Überlebende einer sozialistischen Gesellschaft sich auf die Suche nach neuen Identifikationsmustern begibt. Hier haben wir wenige Antworten geliefert. Die AfD hat das bessere Narrativ zur Wiedervereinigung gefunden. Auch die Sichtweisen zu den Gefahren aus dem Inneren sind profund und scharf formuliert. Wer Terror von RECHTS toleriert, weil ja auch von LINKS Gefahr droht, verkennt, dass es eben keinen „gezielt Menschen mordenden linken Terror in Deutschland gibt“. Gefahr droht nur von jenen, die eine Ausgrenzungsdoktrin vorleben, Hass säen und erneut in Kauf nehmen, dass die nächste Gruppe unserer Gesellschaft ins Abseits gerät.
Max Czollek bleibt keine Beweise für seine Thesen schuldig. Wer auch immer im Moment behauptet, Assimilation sei die eigentliche Voraussetzung, um integriert und wertgeschätzt zu werden, den zieht er mit gezieltem Griff in die Geschichte von Ulrich Alexander Boschwitz. Unsere Vergangenheit hat gezeigt, dass man Integration nicht durch Anpassung erreichen kann. „Der Reisende“ spricht eine klare Sprache. Es ist die Blaupause des deutschen Denkens, dass die Existenz eines Underdogs der Kitt ist, der eine fragile Gesellschaft zusammenhält. Man beweise das Gegenteil! Nur so lassen sich Islamfeindlichkeit und geschürte Ängste in den Treibstoff verwandeln, den rechte Populisten benötigen, um Machtkämpfe zu gewinnen. Wir brauchen, nach Czollek, ein neues Denken. Wir müssen uns auch neu orientieren. Unser Wertevorrat gibt alles her, was in einer neuen Gesellschaft der Teilhabe und Gleichberechtigung aller erforderlich ist, um national-völkisches Gedankengut obsolet zu machen. Die deutsche Leitkultur ist im geschichtlichen Rückblick immer eine Leidkultur gewesen.
Hallo Deutschland, jemand in der Leitung? Das wird sich zeigen. Es wird sich auch zeigen, welche Schlagkraft die Streitschrift von Max Czollek entwickelt. In ihrer jetzigen Form besteht die Gefahr, dass sie eben nur von Aufnahme-willigen Resonanzkörpern zur Kenntnis genommen wird. Um auch Andersdenkende zu erreichen bedarf es eines Ruckes, der sich durch die Gesellschaft zieht. Max Czollek bietet Visionen und Thesen an, die einen solchen Ruck fördern können. Toleranz, das aufmerksame Zuhören, viel Empathie und eine Neupositionierung der Selbstkritik, können Auswege sein, die einer multikulturellen Gesellschaft die Tore öffnen. Hier ist jetzt Rückgrat gefordert. Jeder von uns kann sich an einem solchen Veränderungsprozess beteiligen. Einer der Wege ist für mich schon der Königsweg für eine solche Veränderung: „Schreibe so, dass die Nazis dich verbieten würden!“
„Gegenwartsbewältigung“ von Max Czollek ist für den diesjährigen Bayerischen Buchpreis in der Kategorie „Sachbuch„ nominiert. Da ich dieses Literatur-Event als Literaturblogger begleiten darf, habe ich mich intensiv mit diesem Buch beschäftigt. Die Preisverleihung erfolgt am 19. November 2020. Die bis zu diesem Tag veröffentlichten Artikel finden Sie auf meiner Projektseite zum weißen Porzellanlöwen. Gemeinsam mit den Buchbloggern Sophie Weigand von „Literaturen„ und Thomas Hummitzsch von „Intellectures“ wage ich erneut den Versuch, mich den Nominierten neutral zu nähern. Nominiert sind:
Max Czollek: Gegenwartsbewältigung (Hanser Literaturverlage)
Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher (Zsolnay Verlag)
Hedwig Richter: Demokratie. Eine deutsche Affäre (C.H.Beck Literatur)
Warum ich denke, dass Gegenwartsbewältigung das Zeug hat, den Bayerischen Buchpreis zu gewinnen? Weil es an der Zeit ist, diesen Text nicht nur zu lesen. Weil es jetzt an der Zeit ist, dem neuen vorbehaltlosen Denken Schub zu verleihen. Und weil es gerade Bayern, einem der wohl national-konservativsten Bundesländer, sehr gut zu Gesicht stehen würde, als Impulsgeber der Gegenwartsbewältigung zu fungieren.