„Unter der Drachenwand“ von Arno Geiger

Unter der Drachenwand von Arno Geiger

„Zwei, die für einige Zeit ihre Ruhe gefunden hatten, eine Ruhe, die nicht, wie so oft, mit Verlassenheit zu tun hatte, sondern mit Geborgenheit.“

Dieses Zitat steht für ein ganzes Buch. Es sind Worte, die primär romantisch klingen und auf den ersten Blick den Hauch einer großen Liebesgeschichte verströmen. Jedoch schon beim zweiten Blick auf den Roman aus dem sie stammen, wird klar, was hier als Ruhe und Geborgenheit empfunden wird. „Unter der Drachenwand“ von Arno Geiger spielt im Österreich des Kriegsjahres 1944 und zeichnet das Bild von Menschen, die in schier hoffnungsloser Situation ein Refugium im Auge des größten Sturmes finden, der je über ihre Heimat hinwegtobte. Menschen, die sich aus äußerst unterschiedlichen Gründen genau hier eingefunden haben, um auf das Unausweichliche zu warten. Es ist die Ruhe im Sturm, nicht die Ruhe vor dem Sturm, der sie im Idyll des Salzkammerguts vereint.

Es sind junge Menschen, die in haltloser Zeit und in völliger Ungewissheit neue Wege gehen, um Halt, Zuneigung und letztlich auch Trost in ihrer Einsamkeit zu finden. Es ist der junge Wehrmachtssoldat Veit Kolbe, der nach fünf Jahren im Krieg körperlich und seelisch traumatisiert in der Heimat strandet, um wieder auf die Beine zu kommen. Was nach der Genesung folgen würde liegt auf der nationalsozialistischen Hand. Wieder an die Front. Und so genießt Veit jeden Tag unter der Drachenwand als Aufschub vor dem größten Schrecken, für den er einst freiwillig in den Krieg gezogen ist. Sein Vaterland verhält sich stiefmütterlich zu dem jungen Mann. Nur Pervitin beruhigt seine Seele.

Unter der Drachenwand von Arno Geiger

„Wer auf die Jagd nach einem Tiger geht, muss damit rechnen, auf einen Tiger zu treffen.“

Während aller Idealismus aus Veits Körper herausgeschossen wurde, realisiert er die Aussichtslosigkeit, den unsagbar grausamen Krieg noch gewinnen zu können. Sein Schicksal nimmt er als Chance wahr, sich der tödlichen Vernichtungsmaschinerie nicht mehr ausliefern zu müssen. Von schrecklichen Alpträumen geplagt, verkriecht sich Veit Kolbe immer mehr in seinem Refugium unter der Drachenwand. Hier findet er nicht nur die lange ersehnte Ruhe, hier findet er die Zuneigung von Margot, die mit ihrem Baby auf die Rückkehr ihres Ehemannes aus dem Krieg wartet. Auch sie in Ungewissheit im Angesicht der desaströsen Nachrichten, die sie von der Front und von ihrer Mutter aus Darmstadt erreichen.

Darmstadt zerbombt, die Eltern in ständiger Lebensgefahr, das Baby wächst ohne Vater auf und die Ehe selbst nur als Mittel zum Zweck, damit ihr Mann auch mal Urlaub vom Krieg bekommt – ein situativer Chaos-Mix, der Margot immer mehr in die Arme des jungen Soldaten treibt, der mit ihr im gleichen Haus untergebracht ist. Briefe von Mutter und Ehemann drohen sie in die tiefe Depression zu ziehen. Nur Veit gibt ihr Halt, weil auch er ihren Halt benötigt. Zwei Ertrinkende, die sich aneinander klammern, um nicht unterzugehen. Zwei Betrüger mit reiner Seele. Veit fälscht seine Krankschreibung, um bei Margot bleiben zu können und sie belügt ihren Mann, der für sie schon verloren ist.

Unter der Drachenwand von Arno Geiger

„Die Kindheit ist wie ein Holz, in das Nägel geschlagen werden. Die guten Nägel sind die, die so tief im Holz stecken, dass sie halten, sie beschützen einen wie Stacheln. Oder man kann später etwas daran aufhängen… Schlecht sind die ins Holz gedroschenen Nägel, deren Köpfe tiefer liegen als die Oberfläche, man sieht gar nicht, dass dort etwas Hartes ist, ein vor sich hinrostender Fremdkörper…“

Während die Menschheit ihre Unschuld verliert, wird aus dem Mondsee auch für 35 Schülerinnen und ihre Lehrerin der Zufluchtsort vor den Bomben im heimatlichen Wien. Das Lager „Schwarzindien“ mutiert unter den kinderlandverschickten Mädchen zu der uniformen Erziehungsanstalt, in der Flaggenparaden und Appelle an der Tagesordnung sind. Es bleibt nicht aus, dass Veit den Mädchen und ihrer Lehrerin begegnet. Es bleibt nicht aus, dass er von der immer noch gelebten Verblendung abgestoßen wird. Es sind die Durchhalteparolen, die in Österreich regieren. Es ist die pure Angst vor Bombern über Wien, die das Leben prägt. Es ist der letzte Außenposten, die Bastion inmitten des untergehenden Reiches. Eine Scheinwelt, der nur der „Basilianer„, einer der aufrecht gebliebenen Einheimischen, die Maske vom Gesicht reißt. Er zahlt einen hohen Preis dafür…

Arno Geiger gestaltet einen klaustrophobischen Erzählraum, aus dem es keinen Ausweg gibt. Nur Unter der Drachenwand ist man sicher. Bis hier reicht der Arm der Nazis in den seltensten Fällen. Und doch steht das Leben unter Vorbehalt. Als eins der Mädchen aus dem Lager verschwindet ahnt Veit sofort, was ihr zugestoßen ist. Briefe der Mutter, Briefe ihres knallverliebten Freundes, Vorwürfe über verdorbene Moral und Angst vor einer Zukunft ohne Gefühle breiten sich wie ein trauriger Alpdruck über dem Mondsee aus. Der Sturm nähert sich. Die Nachrichten werden beängstigend und der Krieg kommt näher. Es ist ein Spiel auf Zeit, das den Geflüchteten am Mondsee einen letzten Augenblick der Hoffnung schenkt, während die Welt untergeht.

Unter der Drachenwand von Arno Geiger

Briefe haben Arno Geiger zu diesem Roman inspiriert. Originale Briefe aus jenem Lager Schwarzindien, Elternbriefe, Behördenbriefe und auch Feldpostbriefe waren es, die eine Geschichte in Gang gesetzt haben, die auf wahren Geschichten beruht und in ihrer Fiktionalisierung wirkt „Unter der Drachenwand“ wie ein Befreiungsschlag aus dem Giftschrank der persönlichen Erinnerungen der Betroffenen. Wir kennen zahllose originale Korrespondenzen aus der damaligen Zeit. Wir kennen sie aus dem „Echolot“ von Walter Kempowski. Wir lesen sie nicht als Unbeteiligte, wir werden zu Zeitzeugen des Unbeschreibbaren. Und doch versuchen wir oft vergeblich zwischen den Zeilen zu lesen, Zusammenhänge aufzuspüren und Kreuzungslinien zu erkennen. Hier geht Arno Geiger einen deutlichen Schritt weiter, ohne das Schicksal seiner Protagonisten für einen Roman zu verkitschen.

Unter der Drachenwandist ein großer Roman über die Verschickten, Verlassenen, Flehenden, Hoffenden, Verzweifelten und Enttäuschten. Arno Geiger beschreibt nicht nur den Schrecken eines aufziehenden Krieges, er thematisiert alles Relevante, was zu seinem Ausbruch beigetragen hat. Opportunismus, Kult und Glaube an einen scheinbar allgewaltigen Heilsbringer. Verblendung und die Automatismen einer Ideologie. Er lässt Ängsten freien Lauf, macht aus Kämpfern kriegsmüde Verweigerer und aus Müttern in letzter Konsequenz die selbstbetrogenen Leidtragenden der Geschichte. Arno Geiger gelingt in erzählerisch brillanter Art und Weise mehr als ein Roman, mehr als nur eine kleine beleuchtete Sequenz aus dem Chaos der menschlichen Abgründe. Er schreibt Geschichte, wie wir sie nur in sehr seltenen Fällen lesen dürfen.

Unter der Drachenwand von Arno Geiger

Hoffnungsbriefe:

… und dann höre ich dich reden auf einem Bahnhof, wo die Züge pfeifen, bitte eine Fahrkarte nach Wien, ich habe mir ein wenig die Welt angesehen, habe den Heiratsantrag eines Maharadschas abgelehnt und fahre jetzt wieder nach Hause.

Diese Worte machen Hoffnung fühlbar, nähren den tiefen Glauben an eine Heimkehr und sind doch so verzweifelt emotional wie nur Liebe verzweifelt sein kann. Würde man Fäden auf eine alte Landkarte spannen, viele von ihnen würden mit Wien verknüpft sein und am Mondsee enden. Ein Bezirk, eine Straße, eine kleine Heimat verbinden, was im Krieg getrennt wird. Kinderlandverschickung. Eines der wohl schrecklichsten deutschen Worte.Sprache kann grausam sein. Nicht so grausam jedoch, wie ein Handlungsfaden, den Arno Geiger auf die Landkarte legt, ohne dass  er jemals den Mondsee berührt.

Es ist die Geschichte eines jüdischen Lebens in Wien. Es ist die Geschichte einer Flucht vor dem Holocaust. Es ist die Geschichte einer Familie, der auf ihrem Weg die Zuflucht unter der Drachenwand nicht gewährt wird. Es ist eine Lebensgeschichte, die mit den anderen Schicksalen kaum verbunden scheint. Nur an einer einzigen Stelle im Roman kreuzen sich die Wege. Es ist ein Gänsehautmoment des Lesens, der in aller Wucht dokumentiert, was wir schon lange zu wissen glauben. Es ist ein Moment, dem wir glauben, gewachsen zu sein. Und doch. Es ist nicht so. Es wird nie so sein. Allein hier liegt eines der vielen Prädikate, die ich diesem Roman zubillige. Lesenswert.

Unter der Drachenwand von Arno Geiger

„Sterndeutung“ und die kleine literarische Sternwarte

Sterndeutung von Jan Himmelfarb

Sterndeutung von Jan Himmelfarb

Manchmal ist man einfach zu blind, um das Naheliegende zu erkennen. Manchmal ist man zu vertieft in den eigenen Ideen, dass man kaum realisiert, was man eigentlich geschaffen hat. Meine kleine literarische Sternwarte folgt seit Jahren einem tieferen Sinn. Buchsterne am literarischen Himmelszelt zu entdecken und Fixsterne zu finden, die auch im wahren Leben der Orientierung in dunkler Nacht dienen, das sind die Ziele, denen ich beharrlich folge. Dabei mein Lesen und Schreiben Gegen das Vergessen der Opfer des Holocaust als moralische Leitlinie zu sehen, war und ist meine wichtigste Intention.

Bisher betrachtete ich beides voneinander losgelöst. Ich war zu blind zu erkennen, was ich hier im übertragenen Sinne schon mit meiner Blog-Philosophie aufgebaut und umgesetzt habe. Literarischer Sternwärter wollte ich sein. Sternbilder entdecken, in der Weite des Bücheruniversums jene Gestirne finden, die immer leuchten und dabei mein Lesen unter den Stern des Erinnerns stellen. War ich wirklich zu blind um erkennen zu können, dass ich schon mit den ersten Gedanken an meinen Blog etwas ganz anderes verwirklicht habe? Ein Buch musste mir die Augen öffnen. Ein Buch, das meinem Blog eine völlig neue Bedeutung verleiht, obwohl sie unterschwellig seit den ersten Stunden meines Schreibens hier existierte. Ich habe sie nur nicht erkannt.

Sterndeutung von Jan Himmelfarb

Sterndeutung von Jan Himmelfarb

Sterndeutung“ von Jan Himmelfarb (C.H. Beck Verlag) ist ein facettenreicher und tief angelegter Genre-Hybrid aus historischem Familienroman, Bewältigungsliteratur und aktueller Reflexion zur Integration von Menschen mit Migrationshintergrund. Dabei blickt der Autor aus der Perspektive des russlanddeutschen Aussiedlers Arthur Segall in eine Vergangenheit zurück, die von Sternen geprägt war. Ein vergangenes Leben, das unter keinem gutem Stern begann und in dem Arthur Segall nur durch Glück und Zufall davor bewahrt wurde, mit Abermillionen anderen Sternträgern im endlos erscheinenden Treck der Sterne an Sternorte gebracht und dort ausgelöscht zu werden.

Denn Arthur Segall ist Jude. Sein Geburtsort steht nicht so genau fest, da er in einem Zug die Dunkelheit der Welt erblickte. Von Licht konnte keine Rede sein, da sich dieser Zug im Oktober 1941 auf der Flucht ins russische Hinterland befand. Das Unternehmen Barbarossa hatte begonnen und die Nazis begannen ihren Feldzug mit unglaublichem Tempo und ebensolcher Brutalität. Arthur Segall ist ein Kind des Zuges. Flüchtling in einer Zeit, in der andere Züge zu rollen beginnen. Der systematische Massenmord an der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten beginnt und Deportationszüge in unvorstellbarer Zahl bestimmen den Fahrplan des Holocaust.

Sterndeutung von Jan Himmelfarb

Sterndeutung von Jan Himmelfarb

Für Arthur Segall sind es die Jahre, in denen die Nazis Menschen zu Sternträgern machen, sie danach als Sternschnuppen betrachten, um sie an den dunklen Sternorten Auschwitz, Treblinka und Sobibor für immer auszulöschen. Für Arthur sind es Jahre, an die er sich nicht eigenständig erinnern kann. Deshalb beginnt er im Alter von 51 Jahren zu recherchieren, niederzuschreiben und zu archivieren, was ihm und seiner Mutter auf der Flucht geschah, wer überlebte und wo die Wurzeln seiner Familie zu finden sind.

Er zeichnet ein Bild einer zum Tode verurteilten Generation. Er skizziert die Sterne seiner Familie, die erloschen sind, begreift das Glück, das ihm zum Überleben verhalf und beschreibt in quälenden Beschreibungen, was ihm und seiner Mutter erspart blieb. Die Abläufe der Sternenauslöschung. Die systematische und industrielle Vernichtung in einem Ausmaß, das noch immer unvorstellbar ist. Er beschreibt die Tilgung der ganzen jüdischen Galaxie vom Sternenhimmel.

„Ich habe einmal gelesen: Für die einen sind die Sterne Führer. Für andere sind sie nichts als kleine Lichter. Welche Sterne sah ich? Welche hörte ich? Alle, alle schwiegen.“

Sterndeutung von Jan Himmelfarb

Sterndeutung von Jan Himmelfarb

Der Ausgangspunkt seiner Betrachtung stellt den Bruch der Geschichte dar. Das Land der Täter wurde zur neuen Heimat des damaligen Flüchtlings und nun lebt er seit der Wiedervereinigung Deutschlands in dem Land, das damals die Sterne vom Himmel holte. Und Arthur Segall lebt gut, seine Tochter studiert an einer Elite-Universität und es könnte fast besser nicht sein. Und doch zeigt sein schonungsloser Blick, was hier unter Integration verstanden wird, wie Migrationshintergründe das Leben erschweren und es neuen Zuwanderern schwer gemacht wird, ihre Identität im neuen Leben zu bewahren.

Arthur Segall beschreibt eine ganz eigene Sternzeit. Sowohl in seiner alten als auch der neuen Heimat werden Sterne immer unterschiedlichen Gruppen zugeschoben. Ein gesellschaftliches Leben ohne Underdogs scheint nirgendwo auf der Welt möglich zu sein und das Zuschieben vollzieht sich in ähnlich präziser bürokratischer Genauigkeit, mit der auch der Holocaust organisiert wurde. Überall auf der Welt sind die Nachfolger der Wannseekonferenz in den Räderwerken der Verwaltungen zu finden. Sternzeit. Es ist immer Sternzeit.

Sterndeutung von Jan Himmelfarb

Sterndeutung von Jan Himmelfarb

Jan Himmelfarb gelingt mit Sterndeutung ein großer und aktueller Wurf ins Herz unserer Denkkultur. Seine Deutungshoheit ist polyglott und er entlarvt die Sternzeit in all jenen Ländern, die sich selbst als weltoffen und frei bezeichnen. Und gleichzeitig ist es sein Verdienst, der Gedenkkultur neue Impulse zu geben. Seine Sternbilder sind es, die das Gedenken an einzelne erloschene Sterne erhellen. Er setzt sie ins rechte Licht und ruft dazu auf, dem Versuch seines Protagonisten zu folgen. Der Blick zurück zeigt, wo man steht, warum man genau da angekommen ist, wo man ist und wie weit man zu gehen bereit ist, um nicht mitschuldig zu werden.

Hier schließt sich der Kreis. Ich bin Sternwärter. Nicht nur weil Bücher wie Sterne sind. Nein. Ich empfinde mich seit dem Lesen dieses Buches und vor dem Hintergrund meiner Hoffnung, den Opfern des Nationalsozialismus gedenken zu können noch viel mehr in der Pflicht, erloschene Sterne mit Namen zu versehen und aktiv zu verhindern, dass Menschen Sterne zugeschoben bekommen, damit unzufriedene Gruppen sich ein wenig besser fühlen. Ich habe meine kleine literarische Sternwarte schon längst in den Dienst der Sterndeutung gestellt. Dieses Buch hat mir allerdings die Augen geöffnet und verdeutlicht, unter welch gutem Stern wir geboren sind. Lasst ihn uns teilen.

Sterndeutung von Jan Himmelfarb

Sterndeutung von Jan Himmelfarb

Wer die Seele Russlands verstehen möchte, muss die Vergangenheit kennen. Das weite Land und seine Menschen in der literarischen Reflexion bei AstroLibrium:

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Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944

Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944

Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944

Können Bücher Leben retten und künftige Kriege verhindern? Können Bücher ihre Botschaften so nachhaltig im Geist ihrer Leser verankern, dass sie als Multiplikatoren im Kampf gegen Vorurteile und Ideologien eine Wirkung entfalten, die humanistisch und demokratisch zugleich ist? Ich beantworte diese Frage mit einem deutlichen JA, denn die Geschichte hat gezeigt, dass mit Bedacht gewählte Worte in dramatischen Zeiten sehr wohl einen deeskalierenden Effekt haben können. Besonders wenn sie im Krieg verfasst werden und gar nicht kämpferisch anmuten.

Reisen wir zurück in den Juni des Kriegsjahres 1944. Landungsboote nähern sich der französischen Küste und verhelfen der alliierten Streitmacht die Strände der Normandie zu betreten. Ihre Mission: Europa zu befreien. Den Nationalsozialismus besiegen und bis nach Deutschland vordringen, um den Zweiten Weltkrieg zu beenden. Wenn wir unser Augenmerk einmal nur auf die britischen Soldaten richten, dann liegen Jahre der Unsicherheit und Todesangst hinter ihnen. Vergeltungswaffen, bombardierte Städte, die Luftschlacht um England, traumatisierte Menschen und jüdische Flüchtlinge, die ins Königreich strömen.

Friedensbemühungen wurden auf dem Schachbrett der Nazis wie unnütze Bauern vom Tisch gefegt und seitdem ging die Furcht um, Hitler könnte seine machtgierigen Hände auch an den Kreidefelsen von Dover festkrallen und Großbritannien erobern wollen. Die Schrauben der Gewalt hatten Europa fest im Griff und täglich erlebte man, in welcher Art und Weise die deutsche Propaganda die Welt immer tiefer in die Krise trieb und mit welchen Argumenten die „Herrenrasse“ die Macht für sich beanspruchte.

Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944

Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944

Völkermord, Gräueltaten, Konzentrationslager, Genozid und Terrorherrschaft. All dies war der ganzen Welt bekannt und endlich sollte der finale Befreiungsschlag gegen Nazi-Deutschland geführt werden. Die Invasion am D-Day begann. Wir schreiben den 6.6.1944. Körper schmiegten sich in den Landungsbooten aneinander bis sich die Tore öffneten und der Strand in greifbare Nähe rückte. Im ununterbrochenen Geschosshagel versuchte man Meter um Meter zu erobern und zu halten, um die ersten Brückenköpfe zu festigen. Ein Opfergang für die Freiheit.

Und während die Alliierten in dieser Landungsoperation alles in die Waagschale warfen, um zuerst Frankreich zu befreien und sich dann auf dem Landweg bis ins Herz der Nazi-Diktatur vorzukämpfen, begannen in London bereits die Vorbereitungen zum Druck eines Buches mit einer Startauflage von 400000 Exemplaren. Jeder Soldat aus dem britischen Königreich, der bald seinen Fuß auf deutschen Boden setzte, sollte das Buch bei sich tragen

Dieser Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944 hatte nichts mit der eigentlichen militärischen Operation dieser Tage zu tun. Das Außenministerium wollte den eigenen Soldaten eine Handlungsanweisung mit auf den Weg geben, die nicht nur auf das zu erobernde Nazi-Deutschland vorbereitete, sondern in ganz besonderer Art und Weise auf die Wertvorstellungen und die Einstellung der eigenen Truppen Einfluss nehmen sollte.

Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944

Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944

Wer nun erwarten würde, in diesem Leitfaden die Abrechnung mit der Ideologie der deutschen Regierung zu finden, der wird sich wundern, mit welchen Informationen man die alliierten Eroberer ausstattete. Diese Broschüre liest sich heute wie ein Reiseführer in ein fremdes Land und umfasst neben vielen Tipps zu Währung, Geschichte, Sprache und Literatur auch einen tiefen Einblick in das tägliche Leben der Deutschen in diesem Kriegsjahr. Und alle Kapitel stehen unter der General-Überschrift „Was die Nazis aus Deutschland gemacht haben“.

Der Militär-Leitfaden beschreibt nicht DEN bösen Deutschen, sondern beschreibt in einfachen und nicht ideologisch gefärbten Worten, wie die NAZIs an die Macht kamen, und wie sie diese Machtstellung durch Propaganda, Unterdrückung und Gewalt immer weiter stabilisieren konnten. Man bereitete hier seine eigenen Soldaten darauf vor, ein Land zu erobern, dessen Versorgungslage schon desaströs war, dessen Städte bereits bombardiert waren und dessen Menschen als Menschen zu sehen sind, die seit Jahren fehlgeleitet wurden und keine andere Wahrheit, als die der Nazis kannten.

Gleichzeitig ist dieser Leitfaden jedoch kein Freispruch für das Verursachen eines Weltkrieges oder die Verbrechen, die vom Hitler-Regime begangen wurden. Umlernen und Abbitte werden von der Bevölkerung verlangt. Der Satz „Wer anderen eine Grube gräbt“ findet sich im Buch nur als Hinweis auf die Realität, wie sich Geschichte drehen kann, jedoch nicht als Auftaktformulierung für einen Rachefeldzug der bedrohten Welt. Eine Abrechnung mit den Deutschen findet man auf diesen 50 Seiten nicht.

Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944

Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944

Dieser Leitfaden ist viel mehr Zeichen der Größe im Angesicht des möglichen Sieges in diesem Konflikt, der absolut alle Grenzen des Vorstellbaren gesprengt hatte. Einige der Anweisungen und Verhaltensnormen, die man den Soldaten mit auf den Weg gab, lesen sich leicht, aber vor dem besonderen Hintergrund der Geschichte sind sie absolut bemerkenswert und beispielgebend:

Britische Besatzung wird nicht von Brutalität, aber auch nicht von Nachgiebigkeit oder Sentimentalität geprägt sein.

Es ist wichtig, dass Sie in Ihrer äußeren Erscheinung und Ihrem Verhalten korrekt und soldatisch auftreten. Vor einem schlampigen Soldaten haben die Deutschen keinen Respekt.

Sollten Sie in einen deutschen Haushalt einquartiert werden, seien Sie höflich, aber distanziert, vermeiden Sie loses Reden und legeres Verhalten und halten Sie Augen und Ohren offen.

Seien Sie im Umgang mit Deutschen immer streng, aber FAIR.

Der Blick in die Geschichte zeigt, wie sehr diese Anweisungen beherzigt wurden. Racheakte oder Kriegsverbrechen britischer Soldaten gehören zu den Ausnahmen in diesem Eroberungsfeldzug. In britische Kriegsgefangenschaft zu geraten war nicht zu vergleichen mit der Gefahr, den Soldaten der Roten Armee in die Hände zu fallen. Das Kriegsvölkerrecht wurde beachtet und die Zivilbevölkerung war keinerlei Repressalien ausgesetzt. Dieses Verhalten und der vom Leitfaden vorgegebene Wertevorrat haben den Weg zu künftigem Frieden geebnet.

Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944

Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944

Die Veröffentlichung dieses Leitfadens durch den Verlag Kiepenheuer & Witsch erfolgt in einer zweisprachigen sehr kompakten Ausgabe, die auch heute noch in jede Hosentasche passt. Dass dieser kleine Leitfaden eine ganz besondere historische Relevanz besitzt, zeigt auch die Tatsache, wie es von der Leserschaft angenommen wurde. Seit Monaten rangiert der Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944 auf den vorderen Plätzen der Sachbuch-Bestsellerlisten.

Und dies völlig zurecht, denn er ist ein absolutes Lehrstück in der Vermittlung eines humanistischen Menschenbildes in Zeiten der Krise. Besonders in der heutigen Zeit dient dieser Leitfaden selbst Leitlinie, wie man in Konflikten mit möglichen Gegnern umzugehen hat, um die Türen der Geschichte nicht für immer zuzuschlagen. Darüber hinaus ist es mit Sicherheit so, dass einige der erzeugten Bilder, die man sich von uns Deutschen als „merkwürdiges Volk“ machte, noch bis heute die Gedanken unserer Nachbarn prägen. Ein Blick in den Spiegel, der gar nicht schadet.

Einziger kleiner Kritikpunkt ist die Übersetzung, die dem Sprachgebrauch eines Ministeriums, das sich an den einfachen Soldaten wendet, nicht immer gerecht wird. Die Kapitelüberschrift You are going into Germany entspricht definitiv nicht dem Sie gehen nach Deutschland der deutschen Fassung. Hier wäre das präzise militärische Deutschland – Sie gehen da rein sicherlich zutreffender und näher an der Realität des Szenarios. Aber dies ist nur eine kleine Randbemerkung.

Das Lesen dieses Leitfadens ist spannend und schließt eine Lücke im Verständnis für die Gegner von einst. Es werden weitere Leitfäden folgen. Ein spannendes Segment in der Aufbereitung der gemeinsamen Vergangenheit als Grundlage für unsere Zukunft. Ein wichtiges Buch „Gegen das Vergessen„. (Diese 8 Euro sind gut investiert.)

Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944

Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944

Literaturempfehlungen zu Büchern, die den Zusammenbruch des Nazi-Regimes aus unterschiedlichen Blickwinkeln besonders beleuchten: Peter Hakenjos – „Nur der Tod vergisstund Jürgen Seidel – „Die Unschuldigen„. Beide Romane zeigen, wie tief Jugendliche fallen können, wenn sie der Verführung jahrelang ausgesetzt sind und zu spät erkennen, wie sehr sie belogen wurden.