Man spricht nicht so oft von literarischen Sensationen. Und wenn, dann stellen sie sich häufig als Marketingmasche heraus, mit der man lediglich die Verkaufszahlen des jeweiligen Sensations-Buches ankurbeln möchte. Bei Ulrich Alexander Boschwitz ist das Prädikat anders zu werten. Die Wiederentdeckung seines Romans „Der Reisende“ stellte wahrlich ein aufsehenerregendes Ereignis in der Literaturwelt dar. Dieser Roman eines jüdischen Emigranten über die Judenverfolgung im Dritten Reich setzt Maßstäbe. Er selbst wurde von den Umständen der Zeit zur Auswanderung gezwungen. Kaum 20-jährig floh er mit seiner Mutter 1935 zuerst nach Skandinavien, von wo ihn die Odyssee durch halb Europa führte, bis er 1939 als sogenannter „Enemy Alien“ (Ausländer aus Feindesländern) in England interniert und nach Australien deportiert wurde.
Bei seiner Rückkehr im Jahr 1942 wurde das Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert und sank. Ulrich Alexander Boschwitz starb im Alter von 27 Jahren. Warum er bis heute im Gedächtnis blieb, ist leicht zu erklären. Er verarbeitete sein Schicksal in Büchern, die allerdings lange als verschollen galten. Sein Gesamtwerk besteht nur aus zwei Büchern. Seinem Debüt „Menschen neben dem Leben“, das er in Skandinavien schrieb und dessen Erfolg ihm sein Studium an der Sorbonne ermöglichte, und seinem inzwischen rekonstruierten Flüchtlingsroman „Der Reisende“. Gerade dieses Werk ist so besonders, weil die Hilflosigkeit eines staaten- und rechtlosen jüdischen Flüchtlings mit einer Authentizität beschrieben wird, die damals für Aufsehen gesorgt hätte. Ulrich Alexander Boschwitz konnte es nicht zu Lebzeiten publizieren. Die zuletzt lektorierte Fassung seines Manuskripts versank mit ihm in den Fluten.
Peter Graf ist es als Herausgeber gelungen, dem ursprünglichen Manuskript die literarische Wucht zu verleihen, von der Boschwitz zeitlebens geträumt hatte. Nun ist es nur konsequent und logisch, das neue Interesse an diesem unvollendeten Autor zu nutzen, um auch sein Debüt „Menschen neben dem Leben“ erstmals auf Deutsch zu veröffentlichen. Das Ausnahmetalent mit der besonderen Beobachtungsgabe verfasste den Roman im Alter von 22 Jahren. Hier schreibt er nicht vom Selbsterlebten, sondern skizziert eine Gesellschaft im Wandel gegen Ende der 1920er Jahre. Eine Milieustudie kann man diesen Roman schlecht nennen, da er selbst das von ihm beschriebene und in zumeist tristen Farben gezeichnete Bild nur vom Hörensagen kennen konnte. Wenn Boschwitz also seine typischen Gestalten auftreten lässt, müssen wir realisieren, dass der Autor von einer Zeit erzählt, in der er selbst gerade mal fünfzehn Jahre alt war.
Dies sollte man berücksichtigen, wenn man über sein Schreiben urteilt. Dies kann nicht unberücksichtigt bleiben, wenn man sich diesem Buch annähert. Hier strahlt das große Talent eines Erzählers, dem es verwehrt blieb, sich zu entwickeln, zu reifen und seinen Charakteren noch mehr Tiefe zu verleihen, als ihm dies ohnehin gelungen ist. In vielen Beschreibungen seiner Figuren könnte man kritisieren, sie seien schablonenhaft und stereotyp. Oft denkt man, er hätte sie noch authentischer in den Rahmen der Zeit einbetten können. Vielleicht ist dies so. Doch trotzdem gelingt ihm ein literarischer Wurf von besonderer Güte, den man nicht von der Vita des jungen Autors trennen darf.
Potenzial war ausreichend vorhanden und für dieses auf der Flucht geschriebene Debüt ist der Roman gewagt, atmosphärisch dicht und zeigt in seiner hoffnungslosen Grundatmosphäre, wo die Grundlagen für den Stimmungsumschwung in der Weimarer Republik gelegt wurde, und wie unzufrieden diejenigen waren, die nur kurze Zeit später die Steigbügel des neuen „Führers“ hielten. Ihnen verleiht Boschwitz eine laute Stimme. Ihnen hört er selbst gut zu, wenn auch aus der auktorialen Ferne. In ihnen sieht er die Charaktere, die gerne die Last eines verlorenen Krieges, die Armut und Arbeitslosigkeit über Bord werfen und in eine strahlende Zukunft durchstarten wollen. Hier sind wir mit Ulrich Alexander Boschwitz „neben dem Leben“ angekommen. Keine seiner Figuren kann sich heimisch fühlen, niemand hat eine Perspektive und nur die Flucht nach vorne lässt einen Silberstreif am Horizont erkennen. Auch wenn der ziemlich braun sein sollte. Besser als die Weltwirtschaftskrise und die Verarmung ist er allemal.
Boschwitz lässt sie aufleben und lautstark durch die Szenerie mäandern. Es sind frustrierte Kriegsheimkehrer, Prostituierte, Obdachlose, Bettler, Entmachtete, Verrückte und Gestrandete, denen er in einem Lokal eine Übergangsheimat anbietet. So wird aus dem „Fröhlichen Waidmann“ der Schmelztiegel der Enttäuschten, wo so mancher aus dem Rahmen fällt und zur Strecke gebracht wird. Wer sich auf diesen Roman einlässt, wird die scheinbar lustigen Gesellen Fundholz, Grissmann und Tönnchen nicht wieder vergessen. Wer sich hier an den Kneipentisch setzt, wird schnell erkennen, dass man sich hier ein Biotop gestaltet hat, das mit Tanz und Alkohol den tristen Alltag vertreibt. Boschwitz zeigt das Geheime im Offensichtlichen. Gesangsvereine sind in Realität die Keimzellen der organisierten Kriminalität. Frauen sind abhängig von Gönnern und den Zuhältern, die ihren Berufszweig gerade neu für sich entdecken.
Die wilden Zwanziger haben im „Fröhlichen Waidmann“ ihren Ausklang gefunden. Jetzt wird man nur noch zum Zeugen des Abgesangs auf eine verlorene Zeit. Der Tanz ist wild, die Versuchung ist groß, neue Leidenschaften und Lieben bahnen sich Wege. Jeder Neuanfang fordert Opfer. Eine Frau, die sich einen neuen Begleiter sucht, muss den bisherigen Gefährten „neben dem Leben“ zurücklassen. Dass er blind ist, spielt in ihrem Selbsterhaltungstrieb kaum eine Rolle. Mehr scheinen als sein wird zum Motto einer Gesellschaft, die sich vom Albtraum der Vergangenheit lösen will und jedes Opfer bereitwillig bringt, nur um einen Schritt nach vorne zu kommen. Boschwitz verleiht einer tief verwurzelten Perspektivlosigkeit eine ungewohnt scharfe und persönliche Kontur.
Er macht es sich nicht leicht mit seiner Erzählung. Ebenso wenig leicht macht er es den Menschen, von denen er berichtet. Hoffnungsträger Fehlanzeige. Politische Wirren sind vorprogrammiert. Und doch wirkt jener eine Abend im Fröhlichen Waidmann wie der letzte Tanz des letzten Aufgebots, bevor der Sturm losbricht. Man kann es mit den Händen fassen. Wenn die Tür des Lokals sich schließt, kann sich die Zukunft nur trister darstellen, als sie eben noch wirkte. Boschwitz ist ein Atmosphären-Erzähler. Man fühlt die Vibrationen im Tanzsaal, man riecht das abgestandene Bier, man schmeckt diesen einen fast unbezahlbaren Schnaps, für den man wirklich alles tun würde. Er bringt uns Typen näher, die gar nicht so typisch sind, wie wir es zunächst vermuten. Die Situation im Waidmann eskaliert. Es fließt Blut. Das Biotop wird mit einem Messer zerstört. Kein Wunder, dass der Verrückte am Ende wie der einzig Normale wirkt. Tönnchen.
Ich habe gelesen und gehört. Ungekürzte 7 Stunden und 46 Minuten lang habe ich in der Gaststätte zum Fröhlichen Waidmann einen Tisch reserviert. Ich war gerne dort zu Besuch und hätte mich fast zuhause gefühlt. Der Blick hinter die Kulissen jedoch zeigte mir, was dort wirklich gärte. Schauspieler und Sprecher Hans Löw verleiht dem Roman in der Hörbuchfassung eine ganz eigene Wirkung. Seine Stimme scheint aus der Zeit gefallen zu sein. Er liest lebendig und so, als wäre er selbst Stammgast einer Lokalität, die hier Geschichte schrieb. Löw interpretiert die Atmosphäre dieser Zeit und liest seine Zuhörer beschwingt in das Chaos einer Wirtshausschlägerei, die jeder kommen sah. In den Charakterzeichnungen liegt die Stärke dieser Produktion.
Ulrich Alexander Boschwitz und Bernard von Brentano sind für mich literarisch intensiv miteinander gebunden. Worüber der junge Boschwitz so gekonnt fabulierte, darüber schrieb Brentano in der Zeit. Sein Abgesang ist ebenso laut, nur eben auf der Grundlage eigener Beobachtungen entstanden. Er schaute den kleinen Leuten auf den Mund, bevor er die gärende und explosive Lage seines Landes beschrieb „Der Beginn der Barbarei in Deutschland“ könnte ein Kapitel im Fröhlichen Waidmann beinhalten. Hier sieht man das große Talent des jungen Boschwitz. Atmosphärisch handelt es sich hier um bahnbrechende Bücher, die wie Warnsirenen hätten wirken können. Hätte man sie in ihrer Zeit aufmerksam gelesen. Das können wir heute tun und anderen aufs Maul schauen. Glaubt mir, die Parallelen sind überraschend…