Bernard v. Brentano – Der Beginn der Barbarei in Deutschland

Bernard von Brentano - Der Beginn der Barbarei in Deutschland - AstroLibrium

Bernard von Brentano – Der Beginn der Barbarei in Deutschland

Nein, keine Sorge. Niemand hat die Absicht eine literarische Mauer zu errichten! Nein, keine Sorge. Das im Folgenden vorgestellte Buch hat nichts, aber auch gar nichts mit der aktuellen sozialpolitischen Situation unserer Gesellschaft zu tun. Also, bitte die Ruhe bewahren, zurücklehnen und einen Blick hinter die Kulissen eines Werks werfen, das aus der Zeit gefallen scheint. „Der Beginn der Barbarei in Deutschland“ klingt in unseren Ohren natürlich verdächtig nach der Aufarbeitung der letzten Landtagswahlen. Es klingt, als würde endlich der Rechtsruck in unserem Lande literarisch aufgearbeitet und auch die geprägte Schriftart des Covers lässt uns ahnungsvoll zusammenzucken.

Aber nein, ich kann Sie beruhigen. Es ist handelt sich hier um ein Buch, das bereits 1932 erschienen ist und das aus der Feder des deutschen Schriftstellers, Lyrikers und Journalisten Bernard von Brentano stammt. Keineswegs begeben wir uns lesend auf ein Terrain, das geeignet wäre unser Weltbild ins Wanken zu bringen. Keineswegs hat dieses Buch das Potenzial, die Zustände der Weimarer Republik in unsere heutige Zeit zu spiegeln. Und auf gar keinen Fall dürfen wir uns von diesem Buch eine Hilfestellung erwarten, wie wir mit unseren aktuellen Problemen umgehen. Belasten Sie dieses Buch also bitte nicht mit einer Erwartungshaltung, der es gar nicht gerecht werden will. Lesen Sie und… naja, dann werfen Sie einfach mein Eingangsstatement über Bord, wenn Sie mögen. Das jedoch wäre barbarisch und das wollen wir doch nicht mehr sein. Oder?

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Bernard von Brentano – Der Beginn der Barbarei in Deutschland

Bernard von Brentano schrieb in den Jahren 1931 und 1932 über die Stimmung in einem Land, das er immer weiter abdriften sah. Die politischen Zustände der Weimarer Republik schienen sich als Wegbereiter einer wirtschaftlichen Fehlentwicklung in einem nicht aufzuhaltenden Prozess zum Steigbügelhalter des nahenden Nationalsozialismus zu entwickeln. Die Unzufriedenheit der Menschen wurde immer lauter. Sie ließ sich gar messen. Arbeitslosigkeit, Unterversorgung, Armut und Entrechtung der Arbeiter griffen immer mehr um sich. So entschloss sich Bernard von Brentano, nicht nur eine Krise zu beschreiben, sondern sie von den Ursachen ausgehend zu erklären und die Folgen für den Einzelnen zu beleuchten.

Klar. Er machte sich mit diesem Werk keine großen Freunde in einem Land, in dem die Hakenkreuze schon auf Fahnen aufgenäht wurden und es darf den geneigten Leser im 21. Jahrhundert nicht wundern, dass genau dieses Buch 1933 verboten war. Wie viele andere Bücher auch, wurde es öffentlich auf dem Scheiterhaufen der Braunen Horden verbrannt. Der Autor wurde zur Emigration in die Schweiz gezwungen. Und dabei hatte er mit der unverhohlenen Warnung vor der beginnenden Barbarei gar nicht die Nazis gemeint. Das mussten sie wohl in den falschen Hals bekommen haben und auf diesem historischen Missverständnis beruht der wohl legendäre Status dieser Reportage, die in vielerlei Beziehungen geeignet ist, auch heute noch kräftig missverstanden zu werden.

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Räumen wir einfach damit auf. Begeben wir uns mit den geschulten Augen eines brillanten Beobachters in die Zeit, die er beschreibt und lassen wir uns auf ihn ein. Akzeptieren wir die Schwächen dieser Reportage, die Brentano später selbst einräumt und die dazu führen, dass er sich in gewisser Weise von diesem Buch distanzierte. Ich habe jeden Standpunkt, jede Perspektive als Inspiration empfunden, weil es dem Autor gelungen ist, eine Zeitscheibe so facettenreich zu beleuchten, dass man die Antworten auf Fragen findet, die uns intensiv beschäftigen. Warum fliehen die Massen in die Arme von Nationalsozialisten, warum ist diese Zuflucht aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten sogar nachvollziehbar und wo sind die Ursachen zu finden. Das Verständnis für diesen sozialen Umbruch kann unsere Augen öffnen und dafür sorgen, ihm mit offenen Augen zu begegnen. Verständnis verhindert Wiederholung.

Brentano bereist das zermürbte Deutschland. Er besucht verarmte Bergarbeiter in der schwersten Stunde ihrer Existenz. Er analysiert die Folgen eines Grubenunglücks und wirft einen ungeschönten Blick auf die Verzweifelten, denen jede Lebensgrundlage genommen wurde. Er beschreibt den Niedergang der Landwirtschaft und die um sich greifende Mechanisierung als Ursache für die zunehmende Arbeitslosigkeit. Er geht in die Arbeiterviertel und vermittelt die Stimmungslage angesichts einer Krise ohne echte Auswege. Er beschreibt die Schieflage zwischen Arm und Reich. Zerpflückt die großen Industriellen und Kapitalisten, die fernab jeder Wertschöpfung das Individuum in einem täglichen Überlebenskampf ausbeuten. Er legt die Finger in alle Wunden.

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Bernard von Brentano – Der Beginn der Barbarei in Deutschland

Sein Barbarei-Begriff bezieht sich nicht auf die am Horizont auftauchenden Nazis. Er bezieht sich auf Karl Marx, der einer solchen Krise nur den Sozialismus als Entwurf entgegenhält, der ein Abdriften in eine totale menschliche Barbarei verhindern kann. In diesem Sinne gewinnt das Kollektiv immer mehr Bedeutung und das Recht des Starken wird konterkariert. Seine Befürchtung mündet in den Gedanken, dass am Ende dieser wirtschaftlich-sozialen Sackgasse die Selbstzerfleischung des Menschen steht. Da liegt auch der wesentliche Kritikpunkt, der das Buch aus heutiger Sicht zu einem nicht ganz leicht verdaulichen Werk werden lässt. Brentano sieht Lösungen im Kommunismus. Er sieht Karl Marx und dessen Theorien als wegweisend an. Fünfjahrespläne, gesteuerte Wirtschaftssysteme zum Nutzen des Kollektivs und eine Umverteilung des Eigentums sind für ihn zu diesem Zeitpunkt Stellschrauben, an denen man drehen könnte, um die Barbarei zu verhindern.

Später distanzierte er sich von diesen Thesen. Später erkannte er, wie Wertschöpfung im Kommunismus funktionierte und welche Opfer die einfachen Arbeiter auch dort zum Erreichen der Sollvorgaben zu erleiden hatten. Hier müssen auch wir uns fernhalten im Verständnis für jene Reportage. Sie ist aus der Zeit in unsere Hände gefallen. Bernard von Brentano beschreibt eine Republik im Niedergang. Er greift nach jedem Strohhalm, der Besserung verheißt. Er hat sich später deutlich korrigiert. Das alles ändert nichts an der schieren Wucht der Beschreibung. Es ändert nichts an dem Blick auf das Leben im Angesicht des drohenden Untergangs. Wo Brentano den Kommunismus als möglichen Ausweg sah, da flüchtete die Masse von einem Desaster ins nächste. Populisten hatten Angst geschürt, verdoppelt und Sündenböcke präsentiert. Ein Automatismus, der auch heute noch zu greifen scheint.

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Dieses Buch hat mich bereichert. Es hat Verständnis geweckt für die Menschen dieser Zeit. Verständnis für meine Großeltern, die mir nicht viel von den Gefühlen und Ängsten erzählen konnten und wollten. Am Ende der Weimarer Republik war man auf der Suche nach einem Notausgang. Und der strahlte in leuchtenden Farben, versprach Arbeit und Lohn, füllte ideologisch die Löcher, die durch Angst aufgerissen wurden und zeigte sogar auf die Schuldigen. Alles viel zu einfach gedacht. So, wie Populisten auch heute nur Ängste schüren, Schuldige benennen, aber ansonsten blass bleiben. Immer klarer wird der Blick für die Realität. Warum sollten totalitäre Systeme die Angst durch Hoffnung ersetzen? Angst ist Machtgrundlage. Und die darf nicht verlorengehen. Aus Brentanos Reportage kann man lernen. Man darf es sich nur nicht leichtmachen, sie in unsere Zeit zu übertragen. Dafür unterscheiden sich die Parameter der Betrachtung zu erheblich. 

Die Erben Brentanos sollten weg von der Theorie und hin zum Betroffenen gehen und den Menschen aufs Maul schauen, denen es nicht gut geht. Objektiv messbar oder subjektiv empfunden. Ihnen Gehör zu verschaffen stellt eine Grundlage für einen Dialog dar, der geführt werden muss, um schillernde Notausgänge zu verschließen. Wir müssen miteinander reden. Brentano hat mit der Reportage „Der Beginn der Barbarei in Deutschland“ einen Meilenstein gesetzt.

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Der Beginn der Barbarei in Deutschlandvon Bernard von Brentano / Einführung von Roman Köster / Eichborn Verlag / 313 Seiten / 18 Euro

Uwe, der Kaffeehaussitzer spannt seinen Rezensionsbogen von der Barbarei bis zum heutigen Glauben, der Markt würden schon alles regeln… hier geht´s lang

4 Gedanken zu „Bernard v. Brentano – Der Beginn der Barbarei in Deutschland

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