Ihr kennt Domino? In seiner klassischen Variante benötigt man 28 Dominosteine, um das legendäre Legespiel beenden zu können. Auf Augenzahlen kommt es hier an, und nur, wer passend anlegen kann, darf weitermachen. Ansonsten verzögert sich das Fortkommen und die zusätzlich zu ziehenden Steine erschweren den Sieg. Wer daran den Spaß verliert, kann die Spielsteine aufstellen und den ersten zu Fall bringen. Den sogenannten Domino-Effekt macht man sich gerne auch im Leben zunutze. Fällt der erste Stein und hat man gut aufgestellt, dann ist der Rest eine Kettenreaktion, der man sich nicht in den Weg stellen kann. Hierbei wird eine Kette von Ereignissen ausgelöst, von denen jedes einzelne gleichzeitig die Ursache des folgenden ist. Domino. Es war das Bild dieses Spiels, das mich in einem Roman begleitete, mir zugleich Zugang und Halt verschaffte und mich durchgehend beschäftigte, weil ich viele seiner Elemente im Verlauf einer epischen Erzählung wiederfand.
„Im Saal von Alastalo“ von Volter Kilpi kommt in einer prachtvollen Schuberausgabe aus dem Mare Verlag ins Bücherregal. 1066 Seiten plus Anhang und Anmerkungen zur Übersetzung lassen diesen opulenten finnischen Klassiker auf 1135 Seiten anwachsen. Das kann abschrecken. Sollte es aber nicht. Auch, wenn der Roman mit seinen 68 Euro sicherlich so manches Literaturbudget zu sprengen droht, man sollte es sich wirklich gut überlegen, ob man an diesem Prachtstück einfach so vorbeigehen kann. Es ist wahrlich eine Anschaffung fürs Lesen, sorry Leben natürlich. Und beiläufig bemerkt, ich mag es, wenn ein Buch teurer ist, als das Regalbrett auf dem es steht. So sieht Bücher-Lifestyle aus. Doch kommen wir zurück zum Domino-Vergleich aus meiner Einleitung. Nicht ich möchte Euch zum kippen bringen. Es ist der Autor selbst, der sich wahrscheinlich eher unbewusst in einem Bild bewegte, das sich mir hier aufdrängte. Im „Saal von Alastalo“ kommen genau 28 Landbesitzer zusammen, um auf Einladung des Gutsbesitzers und Geschäftsmannes Hermann Matsson über die Anschaffung einer Dreimastbark für die Schärengemeinde zu beratschlagen.
Achtundzwanzig Partikularinteressen und Charaktere, Allianzen, eifersüchtige und egoistische Sichtweisen sowie Neid, Missgunst und eindeutige Manipulation gilt es nun richtig zu bewerten, abzuwägen, auszubalancieren und in Einklang zu bringen, um ein höheres Ziel zu verwirklichen. Volter Kilpi erklärt uns nicht nur auf beeindruckende Art und Weise, was das Prinzip der Anteilseignung für die entlegenen Gemeinden und die Geschäftsleute in den Schären bedeutete, er lässt auch das Handelssystem in der Mitte des 20. Jahrhunderts aufleben. Jenes Prinzip der Gewinnmaximierung bei gleichzeitiger Risikominimierung für den Einzelnen hat die Gutsbesitzer dahin gebracht, wo sie heute stehen. Es ist ein ansehnlicher Reichtum, der sie schon jetzt verbindet und doch neidet jeder dem anderen das Schwarze unter dem Fingernagel. Und nun sind sie vereint. Zu Gast beim Erfolgreichsten von ihnen, beim Gutsherren von Alastalo, der es im Saal im Herzen seines Gutes so richtig krachen lässt. Der Raum ist riesig, die Möbel gereichen jedem Schreiner zum Ruhm, die Pfeifensammlung an der Wand ist riesig und edel. Wer würde nicht neidisch reagieren auf das Ansinnen des Herrn von Alastalo, alle Mittel zu bündeln, um mit dem größten Handelsschifff der Schären, der eleganten und schnellen Dreimastbark über die man hier berät, in eine reiche Zukunft zu segeln.
Dominoday in den Schären. Verzeiht mein einfaches Bild für diesen mehr als komplex erscheinenden Klassiker. Ich fühlte mich wohl im Saal von Alastalo. Ich beobachtete die geladenen Gäste, ließ sie mir von Volter Kilpi einzeln vorstellen und genoss den Stil des finnischen Autors. Opulent fabuliert er, beobachtend und lauernd folgt er seinen Figuren durch das Setting seiner einzigartigen Erzählung. Dabei gönnt er sich alle Zeit der Welt, um seine Charaktere, ihre Absichten und verborgenen Hoffnungen zu beschreiben. Hier gönnt er alleine schon Malakias Afrodite Härkäniemi mehr als 100 Seiten, um sich im Regal der prächtigen Pfeifen die passende für diesen Anlass auszusuchen. Hier brilliert Volter Kilpi, weil man schnell merkt, dass es gar nicht um Pfeifen geht, sondern um den Status, den man für sich beansprucht, die Signale die man aussendet und die komplex ineinander greifenden Zahnräder der Schären-Diplomatie der Bauernschläue. So wird aus der Pfeife eine klare Verhandlungsposition, aus den Teppichen auf dem Boden ein Status und aus dem Sitzplatz auf dem gigantischen Sofa die Pole-Position für die bald beginnende Verhandlung.
„Mit Barken befährt man Meere und den Atlantik,
aber mit Kähnen Tümpel und die Buchten der Ostsee.“
Das große Denken greift endlich um sich, in jenem Saal, in jenen Tagen und in den versammelten Köpfen. Das braucht seine Zeit, das erfordert Geschick und das braucht Überredungskunst und so wirkt die Szenerie oft wie die großen Epen, in denen es um Thronfolger und zu erobernde Königreiche geht. Es sind die Ritter ihrer eigenen Güter, die hier die Politik für die Zukunft bestimmen. Es sind Hierarchien, die verborgen liegen bis man sie ans Licht zerrt. Nicht der einflussreichste Gutsherr ist auch der reichste. Es ist ein brillantes literarisches Verwirrspiel, dem wir uns ausliefern, wenn wir Volter Kilpi in seinen „Saal von Alastalo“ folgen. Seine Erzählweise entschleunigt den Tag, dämpft die Lautstärke des Alltags-Trubels und sensibilisiert uns für die Feinheiten, die zwischen den Zeilen zu finden sind. Einzig unsere Geduld fordert der finnische Autor ein. Hier, an der Garderobe des Saals von Alastalo sollten wir alles ablegen, was uns belastet. Auf große Fahrt kann man nur gehen, wenn man sich auf alles einlässt. Das haben wir mit den Gästen in diesem Saal gemeinsam.
Erst dann dürfen wir uns vom kleinen Boot ins große träumen. Von der Jacht in die Galeasse. Vom Schoner in die Brigg und zuletzt von der Brigg in die Bark.
„Die Franzosen haben Proust,
die Iren haben Joyce –
die Finnen haben Kilpi.“
So bewirbt der Mare Verlag einen Autor, der 1933 finnische Geschichte schrieb, weil er eine finnische Geschichte schrieb. Das wird ihm vielleicht nominell gerecht, schreckt vielleicht aber gerade jene Leserschaft ab, die Marcel Proust einfach für zu elitär und James Joyce für zu schwierig hält. Nichts von beidem ist Volter Kilpi. Sein Schreiben ist nahbar und verständlich. Es ist bildhaft, schön und zeitgemäß schillernd, aber es ist niemals unverständlich, unstrukturiert oder uninterpretierbar. Der Saal von Alastalo hat viel mit der Tafelrunde eines König Artus gemeinsam. Es geht um Gefolgschaft, um die Chancen, die sich nicht immer jedem bieten, und die großen Abenteuer, die man eben nur gemeinsam stemmen kann. Ich fand in diesem Roman keine Länge, ich fand kein unbedachtes Wort und ich fand keine Figur, die man hätte streichen können. Ich fand eine Übersetzung aus der Feder von Stefan Moster, die einem Meisterwerk auch im Duktus unserer Sprache das Höchstmaß an Eleganz und Schlichtheit verliehen hat, die es benötigt, um auf mehr als 1000 Seiten zu fesseln und zu begeistern. Und doch ist es wohl keinem Lesenden möglich, die tatsächlich erzählten sechs Stunden in dieser Zeit zu lesen. Wie hat er das gemacht, der Herr Kilpi…?
„Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“
Antoine de Saint-Exupéry – Die Stadt in der Wüste
Kaum ein Zitat aus berufener Feder passt so gut zu diesem Roman, wie die Worte des Schöpfers unseres kleinen Prinzen. Lade all diese Menschen ein und erzähle ihnen „Im Saal von Alastalo“ von einer Dreimastbark und ihren Möglichkeiten. Lesen…!