„Der Name meines Bruders“ von Larry Tremblay

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

„Wenn Amed weinte, dann weinte auch Aziz. Wenn Aziz lachte, dann lachte auch Amed. Die Leute machten sich über sie lustig und sagten: „Später werden sie bestimmt heiraten!“

Mit diesen Zeilen empfängt uns der kanadische Schriftsteller Larry Tremblay in seinem aktuellen Roman „Der Name meines Bruders“. Ein recht schmaler Band von gerade einmal 176 Seiten, der in diesen Tagen im C.H. Beck Verlag erschienen ist. Ein Buch dessen Cover in seiner klaren Aussage neugierig macht und dessen Klappentext die Geschichte einer Familie in einem Krieg, an einem Ort ohne Namen verspricht. Eine Geschichte, die überall auf der Welt spielen könnte.

Eigentlich lag dieser Roman nicht ganz oben auf dem Stapel meiner ungelesenen Kostbarkeiten. Eigentlich hielt ich ihn nur kurz in der Hand und wagte den Blick auf die erste Seite. Und eigentlich war ich dann erst auf Seite 117 zum ersten Mal in der Lage, meinen Blick bewusst zu erheben um eine kleine Pause zu machen. Wenn ich von einer literarischen Sogwirkung berichte, dann bitte ich darum, richtig verstanden zu werden.

Wenn ich heute davon erzähle, dass ich tief in einem Roman versank, dann bitte ich darum, auch ein ganz klein wenig in dieser Buchvorstellung zu versinken. Sie ist nur der Versuch, darauf aufmerksam zu machen, welches Buch ich wohl nicht gelesen hätte, hätten nicht die ersten Worte Sätze nach sich gezogen, die wieder Kapitel nach sich zogen, die es mir unmöglich machten, das Buch aus der Hand zu legen.

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Ein Land ohne Namen. Ja, das trifft wohl zu, da im gesamten Buch der Name nicht erwähnt wird. Und doch verdichtet sich das Gefühl des Lesers für diese Region nicht nur durch die Namen seiner Protagonisten. Es verdichtet sich auch durch die vielen kleinen Hinweise, die mir persönlich schnell verdeutlicht haben, wo ich mich befinde. Ich war zurückgekehrt zu den Orangen. Ich traf auf zwei Brüder. Zwillinge. Neun Jahre alt. Amed und Aziz.

Orangen sind ihr Leben und Orangen sind der Grund dafür, warum die beiden Jungs mit ihrer Familie genau hier lebten. Im palästinensischen Grenzgebiet zu Israel. Auf dem kargen Land, das ihnen nach der Vertreibung blieb, grenzte es fast an ein Wunder, was der Vater ihres Vaters vollbracht hatte:

„Hier gab es vorher nur Wüste. Mit Gottes Hilfe hat dein Vater ein Wunder vollbracht. Er hat Orangen wachsen lassen, wo es nur Sand und Steine gab.“

L´Orangeraie – Die Orangerie, so der Originaltitel des Romans, versetzte mich zurück in das Lesegefühl von Ismaels Orangen von Claire Hajaj, deren Roman nicht nur im übertragenen Sinne neben mir Wurzeln geschlagen hat. Das kleine Orangenbäumchen wächst seit dem Lesen gedeihlich und wirft immer wieder die nachhaltige Frage auf, ob Liebe wachsen kann, wo Hass gesät wurde.

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Ich bin wieder bei den Orangen angekommen, aber im Unterschied zu Ismael muss ich diesmal keinem jungen Palästinenser folgen, der seine Heimat verlässt und sich mit seiner Familie auf die heillose Flucht begibt. Ganz im Gegenteil. Wir bleiben. Und das trotz aller Widrigkeiten, trotz allen Hasses, trotz der Angriffe und trotz der Gewaltspirale, an der beide Seiten beharrlich drehen.

Und genau damit beginnen wir auf der allerersten Seite von „Der Name meines Bruders“. Die Zwillingsbrüder graben ihre Großeltern genau an der Stelle aus den Trümmern eines Hauses aus, an der ihr Großvater das Wunder der Orangen vollbracht hatte. Eine einzige Bombe, ein einziger von vielen Angriffen von der anderen Seite der Grenze aus hatte ausgereicht, das Leben aus dem Lot zu bringen.

Für Trauer bleibt keine Zeit. Ganz im Gegenteil. Der Hass macht die Runde und von Rache wird schnell geredet. Ohne Rache würden die Toten keine Ruhe finden. Ohne Blut zu vergießen könne man nicht weiterleben. Keine Gedanken, die der Vater von Aziz und Amed hegt. Es sind die Gedanken aus dem Umfeld. Die Gelüste derer, die Macht ausüben und jeden Angriff zum Gegenangriff nutzen, obwohl es sich beim Angriff aus Sicht der anderen Seite vielleicht um einen Schlag der Vergeltung handelte. Schuld und Ursache sind relativ. Hass ist universell.

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Die Spirale dreht sich. Sie dreht sich in endlosen Bahnen und niemand kann sich dem Taumel aus purer Gewalt entziehen, möchte man nicht beim eigenen Volk als tatenloser Verräter gebrandmarkt werden. Der Druck auf die Familie der beiden Kinder wird immer größer und schließlich verlangt man vom Vater, einen der beiden Söhne auszuwählen, der nur mit einem Sprengstoffgürtel bewaffnet auf der feindlichen Seite des Gebirges zum Selbstmordattentäter und Märtyrer werden soll.

Amed oder Aziz? Aziz oder Amed? Die Perversion der Rachespirale wird in diesen beiden unschuldigen Kindern greifbar. Sie wird in den zermürbenden Gedanken ihrer Eltern fühlbar. Ein gewaltiger Gewissenskonflikt, dem sie sich stellen müssen und der die Welt der kleinen traumatisierten Familie auf eine große Probe stellt. Eine Probe, die man schon mit normalem Menschenverstand nicht bestehen kann. Doch hier kommt noch eine Ebene dazu, die an Dramatik nicht zu überbieten ist.

Aziz ist sterbenskrank, ohne es zu wissen. Nur seinen Eltern ist bewusst, dass ihr Sohn nicht mehr lange zu leben hat. Amed hingegen ist kerngesund. Wie kann man nun entscheiden, wie nur auswählen. Opfert man das Kind, dem der Tod schon deutlich ins Gesicht geschrieben steht. Opfert man den gesunden Sohn und verliert beide? Und die Frage, die über allem steht: Wäre der Selbstmord des todkranken Aziz wirklich das Opfer, nach dem man hier verlangt? Würde das von den religiösen Fanatikern akzeptiert oder würde man es als ungültig und absolut wertlos erachten, weil nur ein gesunder Selbstmörder zum Märtyrer taugt?

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Der Name meines Bruders von Larry Tremblay

Der Vater der Zwillingsbrüder trifft seine einsame Entscheidung und übergibt den Gürtel mit seiner tödlichen Fracht an einen seiner Söhne. Die Geschichte nimmt ihren Lauf. Die Spirale wird eine Umdrehung weiter in endlose Höhen geschraubt. Und doch ist alles anders als es scheint und all die Gedanken über Rache, Hass und Genugtuung werden unbedeutend in dem Moment, als der Daumen eines 9-jährigen Jungen auf den Zünder des Sprengstoffgürtels drückt.

Larry Tremblay wirft auf jeder einzelnen Seite seines Romans Fragen auf, die sehr leicht zu beantworten wären. Und doch erkennt man im ständigen Kreislauf der ewigen Manipulation und Instrumentalisierung jede Nuance des religiösen Fanatismus, der die Welt beherrscht und wie ein Taifun über die Opfer und Täter gleichermaßen tobt. Ein Roman, der uns sprachlos macht. Ein großer Roman, der tief in die eigenen Gedanken eindringt. Ein Roman, der Väter nicht mehr gut schlafen lässt, Müttern die Tränen der Hilflosigkeit in die Augen treibt und Jugendliche laut rufen lässt: „Nicht mit uns!“ Ich befürchte nur, dass man ihren Ruf nicht hören wird. Nirgendwo auf dieser Welt.

Die Romane Ismaels Orangenvon Claire Hajaj, Judasvon Amos Oz und Der Himmel über Jerusalemvon Gabriella Ambrosio bilden einen in sich geschlossenen Zyklus des Lesens zu diesem Thema. Es geht nicht um Schuldzuweisung an eine der beteiligten Parteien. Es geht auch nicht um denjenigen, der irgendwann den ersten Stein warf. Es geht darum zu verstehen, dass es enden muss. Auch Dorit Rabinyan hat in ihrem Roman Wir sehen uns am Meer den literarischen Versuch gewagt, ein Ende zu finden. Voller Liebe und umso unmöglicher…

Wir sehen uns am Meer von Dorit Rabinyan

Wir sehen uns am Meer von Dorit Rabinyan

Ein wohl niemals endenwollendes Thema…

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