Spitzenreiterinnen von Jovana Reisinger

Spitzenreiterinnen - Jovana Reisinger - Astrolibrium

Spitzenreiterinnen – Jovana Reisinger

Spitzenreiterinnen von Jovana Reisinger – Verbrecher Verlag, ist in der Kategorie Belletristik für den Bayerischen Buchpreis 2021 nominiert. Die Rezension ist Teil meiner Auseinandersetzung mit allen zur Wahl stehenden Büchern, da ich die Preisverleihung auch in diesem Jahr als Literaturblogger offiziell begleiten darf. Auf meiner Projektseite findet man alle Hintergründe zum #baybuch, die nominierten Werke und Rezensionen der drei Buchpreisblogger:innen. Voller Spannung fiebern wir dem Ergebnis der Jury-Debatte entgegen, die am 11. November über die Preisträger:innen entscheiden wird.

Bayerischer Buchpreis - Nominiert - Spitzenreiterinnen - Astrolibrium

Bayerischer Buchpreis – Nominiert – Spitzenreiterinnen

Das Klima ist vergiftet. Weltweit. Man muss nur einen Blick in die Zeitungen oder in den News-Feed von Internetplattformen werfen, schon stößt man auf die Opfer dieser Klimakatastrophe, die nachweislich vom Menschen verursacht ist. Das lässt sich nicht mehr leugnen. Es ist das brutale und extrem toxische Klima der Gewalt gegen Frauen, das seine Opfer ausschließlich auf einer Seite fordert. Wir Männer sind es, die auf der Grundlage überholter Frauen- und Rollenbilder in patriarchalischer Art und Weise dem gemeinsamen Klima den Todesstoß versetzen. Häusliche Gewalt, MeToo, Missbrauch und Vergewaltigungen unschuldiger Opfer, Mord. All das finden wir, wenn wir in diesen Tagen aufmerksam die Nachrichten verfolgen. Gabby Petito, Hannah, Sabina Nessa. Auch die Literatur erzählt von diesen Geschichten. Allerdings selten so klartextlich und scharfzüngig wie der Roman „Spitzenreiterinnen“ von Jovana Reisinger.

Sicher keine leichte Lektüre für einen Mann, dachte ich. Fühlt man sich doch auf der Anklagebank sitzend, weil man jene einseitige Schuld des eigenen Geschlechts in dieser Frage einfach nicht abstreifen kann. Auch, wenn ich für mich selbst eindringlich auf „Unschuldig, Euer Ehren“ plädiere, der Platz auf Seiten der Beschuldigten ist mir sicher. Und doch gelingt es Jovana Reisinger erstaunlich schnell, meine Befangenheit zu zerstreuen und ihren Zeilen vorbehaltlos zu folgen, weil sie keine Anklageschrift im eigentlichen Sinne vorlegt. Es ist eine Streitschrift, ja, das ganz sicher. Aber ihr Roman ist kein Dossier über singuläre, klar konturierte Fälle männlicher Gewalt gegen Frauen, an deren Ende die einstimmige Verurteilung steht. So leicht macht es sich die Autorin nicht. So leicht macht sie es der Gesellschaft nicht, in der sie lebt und über die sie hier schreibt.

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Spitzenreiterinnen – Jovana Reisinger

Jovana Reisinger geht mit Menschen- und Rollenbildern ins Gericht. Sie führt uns eine Reihe von Frauen vor Augen, die scheinbar den Klischees entsprechen, die wir in der heutigen Zeit so gerne kultivieren. Es sind sogenannte starke Frauen dabei, solche, die von ihren Männern abhängig sind, Frauen unterschiedlicher Generationen, die sich Veränderung kaum vorstellen können, Frauen, die gar nicht mehr beeinflusst sind, weil ihre Männer längst Geschichte sind, und doch an ihnen hängen wie Kletten einer lange ausgelebten Vergangenheit. Es sind zerstörte und verstörte Frauen, kämpferische und sich selbst verleugnende Frauen am Rande einer gemeinsam erhofften Zukunft. Es ist ein unglaubliches Spektrum unterschiedlichster Charaktere, an denen sich die Autorin abarbeitet und denen sie Raum gibt. Und doch sehe ich deutlich, dass ihre Zielrichtung nicht darin zu finden ist, wie plastisch der Pranger für die Männer konstruiert wird.

Jovana Reisinger stellt uns einen ganzen Reigen besonderer Frauen vor, die nicht nur in der Gemeinsamkeit vereint sind, unter Männern zu leiden. Nein, ihre Namen sind den Frauenzeitschriften dieses Landes entlehnt, die ja nicht gerade für Emanzipation in Reinstkultur stehen. Dieser pointierte Sarkasmus zeigt, wie facettenreich dieser Roman angelegt ist. Die Autorin legt ihre literarischen Finger in viele Wunden und stellt in einer selten so klar erlesenen Deutlichkeit klar, dass ein toxisches Klima ein besonderes und möglichst lebensfeindliches Umfeld benötigt, um sich in seiner Tragweite auswirken zu können. Viele Frauenzeitschriften untermauern fatale Frauenbilder, an denen man fast verzweifeln könnte. Als würden nur Mode, Konsum, Einrichtung, Lifestyle und die Liebe zu Haus und Garten, untermalt von Kreuzworträtseln, das Glück auf Erden bedeuten. In diesem Klima wächst mehr als man wahrhaben möchte. Ein Kollateral-Klima der Angst.

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Spitzenreiterinnen – Jovana Reisinger

So folgen wir Petra, Laura, Barbara, Lisa, Tina, Jolie, Elle, Bella, Verena, Brigitte und Emma in ihre ganz besonderen Geschichten. Es ist nicht der gemeinsame Plot, der diesem Buch seinen Rahmen verleiht. Es sind die Muster, die wir erkennen und die uns hoffen, bangen, fluchen, verzweifeln und hassen lassen. Es sind die Automatismen der Gewalt gegen Frauen, die schonungslos sichtbar werden. Es ist die Schuldumkehr, mit der misshandelte Frauen in die passive Ecke gedrängt werden. Es sind Männer, in dieser Geschichte wie im wahren Leben, die sich dieser Atmosphäre bedienen und auf Kosten von Frauen ihren Ansprüchen hinterherjagen. Jovana Reisinger gewährt ihnen nur die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen. Mehr sind sie nicht wert. Reicht auch, da man in den offiziellen Mitteilungen nur „A. hat…“ „B. schlug…“, „C. brach…“ liest. Jovana Reisinger bricht mit dem Klischee, einen Roman von einer emanzipierten Frau für eine emanzipierte Frau zu schreiben. Sie geht weit darüber hinaus.

Bestechend ist ihre Auseinandersetzung mit der Frage, wie fatal der Umgang von Frauen miteinander ist, wie unbeschreiblich tief Mütter ihre Töchter verletzen können und welche Tragweite Eifersucht in diesem Reizklima hat. Hier entstehen große und nachhaltig bewegende Geschichten, die den Lesenden nicht mehr loslassen. Hier ist das Opfer auf sich selbst gestellt und scheitert letztlich an der Erwartungshaltung all jener, die zu seinem Umfeld gehören. Vorsicht: Jovana Reisinger lässt kein Thema aus. Die Innenansichten von Lisa zum Beispiel sind verstörend und sehr emotional. Fehlgeburten, enttäuschte Erwartungen, Vorwürfe der Schwiegermutter, Zukunft des Mannes verbaut, das Gefühl von Austauschbarkeit und die Reduzierung auf die Rolle als Nicht-Mutter. Hart zu lesen. Trigger für jede Frau, die sich in dieser Lage befindet und sicher mit Vorsicht zu genießen. Aber Jovana Reisinger macht hier nicht halt. Es sind verzweifelt hoffende lesbische Frauen, geprügelte und erniedrigte Mütter, befreit lebende Aktivistinnen, sich selbst aufgebende und aufopfernde Erfüllungsgehilfinnen im Sexualleben ihrer Männer und vergebens hoffende Bald-Ehefrauen, die sich ganz kurz vor ihrer Hochzeit mit einem Ehevertrag konfrontiert sehen. Spitzenreiterinnen in jeder Beziehung. Vorreiterinnen nur bedingt. Die Spitze des Eisberges ganz sicher.

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Spitzenreiterinnen – Jovana Reisinger

„Spitzenreiterinnen“ ist ein Herzblutroman einer begnadet erzählenden Autorin. Sie vergießt das Blut ihrer Protagonistinnen um aufzuwühlen und wach zu werden. Wir gehören zu einem Umfeld, in dem sich toxische Männlichkeit ausleben kann. Wir sind die Fragenden, wenn eine Frau eine Vergewaltigung anzeigt. Wir legen die Messlatte der Gesellschaft in utopische Höhen. „Sie war doch sicher selbst dran schuld…“, „Wie die sich schon anzieht…“, „Da muss man ja nur auf ihr Insta-Profil schauen, dann wird alles klar…“. Fragen wie diese stellen den gesellschaftlichen Rahmen dar, in dem diese klimatischen Bedingungen reifen können. Jovana Reisinger tritt einen Diskurs los, der in dieser Tiefe von allen Seiten geführt werden muss. Sie zeigt das Ungleichgewicht in den Positionen und im Wertesystem einer aufgeklärten Gesellschaft. Es ist preiswürdig und preisverdächtig, was und wie sie es beschreibt. Bleibt die Frage, ob man es lesen mag, ob man darüber sprechen mag. Dazu gehört Mut.

Ich rate dazu und gebe diesem Roman im Regal „Der moralische Kompass“ den Platz eines Spitzenreiters… Da gehören die „Spitzenreiterinnen“ hin… Sie stehen dort neben „Durchbruch – Der Weinstein-Skandal“ von Ronan Farrow.

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und ihren Werken in den Kategorien Belletristik und Sachbuch. 

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