Erikas Geschichte [Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti]

Erikas Geschichte von Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti

Erikas Geschichte von Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti

Wer ein Leben rettet, rettet ein ganzes Volk.

Unzählige Beispiele stehen auch heute noch für diese alte Weisheit, die uns immer wieder vor Augen halten soll, wie gering der eigene Wagemut sein muss, um die ganze Welt zu retten. Angesichts des Holocausts wird die Dimension dieses Satzes mehr als greifbar. Allein schon die aufmerksame Betrachtung des Films Schindlers Liste zeigt am Ende, was aus nur einem einzigen geretteten Menschen wird. Er ist der Same einer neuen Familie, Ursprung von Generationen und Quell eines ganzen Volkes.

Im Umkehrschluss erkennt man an den Ausmaßen dieses Genozids, dass nicht nur die Opfer von einst zu beklagen sind, sondern die niemals geborenen Kinder, die Enkel, die es niemals geben würde und alle Generationen, die nie die Chance haben würden, ihr Spuren in unserer Geschichte zu hinterlassen. Und doch ist es genau der einleitende Satz, der uns Mut macht. Genau dieses Mantra, das uns Möglichkeiten in die Hand gibt, um gegen die Ungerechtigkeit der Welt anzudenken und anzukämpfen.

Sie kommt nicht oft im Leben, diese Chance, sich zu erheben und der Gerechtigkeit die Bahn zu ebnen. Keine Ausreden sind akzeptabel, wenn man die Rettung auch nur eines einzigen Lebens für unzureichend hält. Was sollte ich tun? Wie hätte ich helfen können? Was kann ich schon als einzelner bewegen. Es sind die elementaren Fragen unseres Lebens auf die wir Antworten finden. Wir müssen nur bereit sein, die Tragweite dieser Antworten für das eigene Handeln zu erkennen. Zeitlos. Immerwährend.

Erikas Geschichte von Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti

Erikas Geschichte von Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti

Und eigentlich kann man in seinem Leben gar nicht früh genug anfangen, über solche Wahrheiten nachzudenken. Hier geht es im eigentlichen Sinne nicht unmittelbar um den Holocaust. Es geht um die Lehren, die wir unseren Kindern an die Hand geben, um eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern. Es geht um die Vermittlung von Werten. Es geht darum, Gefühle mit Leben zu füllen und Vorurteile nicht zu kultivieren. Andere akzeptieren, niemanden aufgrund seiner Herkunft, Hautfarbe oder Religion zu benachteiligen und sich selbst nicht als das Maß der Dinge zu sehen. Darum geht es.

Bilderbücher können dabei helfen, genau diese Botschaften zu vermitteln. Das versteckte Kind hat in mehr als beeindruckender Weise verbildlicht, was eigentlich unvorstellbar war. Bilderbücher und kindgerechte einfache Texte vermögen Türen zum Unverständlichen zu öffnen und dem Gedanken Kontur verleihen, dass man so etwas nicht erleben möchte – und auch nicht möchte, dass andere Menschen das je erleben müssen. Nur können diese Bücher für die jüngste Generation die Transferleistung ins eigene Leben nicht ganz alleine bewirken. Hier muss gemeinsam gelesen, geschaut und erklärt werden. Erst dann nähern sie sich ihrem Ziel. Bilderbücher können Leben retten. Und wenn es nur ein einziges ist…

Erikas Geschichte“ von Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti, erschienen im Gerstenberg Verlag, hat tatsächlich das Potenzial, Leben zu retten. Und dabei greift das großformatige Bilderbuch auf gerade einmal zwanzig Seiten die großen Themen der Judenverfolgung auf, verdichtet sie zu einer bewegenden individuellen Geschichte und zeigt allein schon durch die Erzählperspektive, dass ein einziges gerettetes Leben die Welt verändern kann. Denn hier erzählt eine Gerettete. Es ist Erikas Geschichte und genau diese Erika würde heute nicht erzählen können, wenn nicht… Ja, wenn nicht…

Erikas Geschichte von Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti

Erikas Geschichte von Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti

Wenn nicht ihre Eltern alles in die Waagschale geworfen hätten, um Erikas Leben zu retten und andere Menschen nicht bereit gewesen wären, jedes Risiko einzugehen, um sich an der Rettung zu beteiligen. Und genau an diesem Punkt setzt die Geschichte an. Eine Geschichte, an die sich Erika eigentlich nicht erinnern kann. Eine Geschichte, die sie nicht mal bildlich vor ihren Augen hat. Eine Geschichte, die sie in dem Moment verlassen hat, als Erikas Eltern den größten Schritt wagten und das wohl größte Opfer ihres Lebens brachten.

Mit wenigen Worten beschreibt Ruth Vander Zee eine Geschichte, die sich 1995 ereignete. Diese wenigen Worte jedoch vermitteln alles, was Einfühlungsvermögen zu beschreiben vermag. Sie berichtet von der Begegnung mit einer Frau, Und sie erzählt davon, dass diese Frau beginnt, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die stellvertretend für so viele Juden steht und doch so außergewöhnlich ist, dass sich auch Kinder in dieses Bild hineinversetzen können.

Erika ist ihr Name. Sie kennt ihre Eltern nicht, weiß nicht, welchen Namen sie ihr gaben, ob sie Geschwister hatte, sie kennt ihr genaues Geburtsdatum nicht, weiß nicht wo sie geboren wurde, die Geschichte ihrer Familie ist nicht erzählbar, weil Erika das einzige Mosaiksteinchen ist, das den Holocaust überlebte. So bleibt ihr nur Spekulation, so bleiben ihr nur Gedanken an die Situation, in der sich ihre Eltern befunden haben müssen, als sie den undenkbaren Schritt wagten.

Erikas Geschichte von Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti

Erikas Geschichte von Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti

Die Dimension der Illustration gibt „Erikas Geschichte“ ihr eigentliches Gesicht, wobei Roberto Innocenti in seinen dunklen Bildern genau auf diesen Faktor verzichtet. Gesichtslos werden wir zu Zeugen all dessen, was sich abgespielt haben muss, bevor Erikas Geschichte eigentlich begann. Gesichtslos verschwinden Menschen, bewacht von Soldaten in einem Güterwaggon. Deportation. Sofort zu erkennen, kein Zweifel ist möglich. Wir werden Zeuge eines der unzähligen Transporte jüdischer Menschen in ein Konzentrationslager. Aufgenähte gelbe Davidsterne ordnen das Geschehen ein.

Die Assoziationen Zug, Soldat, Güterwagen und die Ausblendung der Gesichter der Opfer machen das Grauen der Deportation greifbar. Andererseits spart Innocenti die Angst aus, die sich auf den Gesichtern der namenlosen Opfer abzeichnen mag. Er hält mit seinen Mitteln genau den Moment fest, in dem aus einzelnen Menschen die Masse derer wird, die ohne Identität ganz gezielt in die Vernichtung getrieben wird. Einzig ein Kinderwagen bleibt leer am Bahnhof zurück, während der Zug mit den auf engem Raum eingesperrten Menschen seinem letzten Ziel entgegen strebt.

Erikas Kinderwagen. Leer. Die Geschichte beginnt mit einer Trennung, die für die Eltern wohl mit der Erkenntnis des eigenen nahenden Todes einhergehen musste. Erst von diesem Moment an kennt Erika ihre Geschichte. Es ist der Moment, in dem sie als kleines Bündel Mensch von ihrer Mutter aus dem fahrenden Zug geworfen wird. Sie wird ins Leben geworfen, gefunden und gerettet. Mutige Menschen nehmen sich ihrer an, geben ihr einen Namen und wagen alles, um dieses Mädchen zu retten.

Erikas Geschichte von Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti

Erikas Geschichte von Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti

Der Verbleib ihrer leiblichen Eltern beruht auf Vermutungen. Überlebt haben sie nicht, auch das erzählen die Bilder. Das Symbol der Einfahrt des Zuges in Auschwitz sagt mehr als tausend Worte. Bild und Text ergeben eine Erzähleinheit, die von einem Neubeginn auf den Trümmern eines Lebens berichten. Erikas Bündel ist der einzig spürbare rosafarbene Klecks vor dem Hintergrund der grauen Geschichte. Wie das kleine Mädchen mit dem roten Mantel in „Schindlers Liste“ fesselt sie unseren Blick.

Erikas Geschichte gibt Hoffnung. Sie erzählt von Mut und Selbstlosigkeit und doch ist es zutiefst traurig und bewegend darüber nachzudenken, wie viele Überlebende des Holocaust nicht nur ihre Verwandten, sondern auch ihre Identitäten verloren haben. Sonnenschein ist hier die absolute Pflichtlektüre für Erwachsene. Dieses Buch zeigt alles auf, was mit Kindern geschehen kann, deren Vergangenheit das große Geheimnis ihres späteren Lebens ist.

Erika hat überlebt. Aber um welchen Preis? Nie wieder dürfen Kinder aus Zügen geworfen werden. Viel früher müssen wir ansetzen, um das zu verhindern. Dazu gehört es, solche Bücher gemeinsam zu lesen. Auf Fragen einzugehen, den Mut vorzuleben und alle Menschen vorurteilsfrei gleich zu behandeln. Nur so können wir den Opfern von damals die Sinnlosigkeit des Todes von den Schultern nehmen.

Roas Weiss von Roberto Innocenti - Gar nicht gesichtslos

Roas Weiss von Roberto Innocenti – Gar nicht gesichtslos

Ein wichtiges Buch. Innocentis Illustrationen waren schon immer überwältigend. In Rosa Weiss, seinem ersten Kinderbuch zum Thema Holocaust, ging er noch weiter. Diese Bilder waren schwer zu ertragen. „Erikas Geschichte“ entfaltet seine Wirkung indirekt. Die Botschaft aus Bild und Text wird greifbar. Ein Leben ist wie ein Stern. Ein Leben zu retten rettet unzählige Sterne. Diese leuchten dann an einem Himmel, der sie eigentlich verbergen wollte. Wer nur ein Leben rettet… Daran wird man auf jeder Seite dieses Buches erinnert.

Und wenn man einem Kind dann noch den Davidstern in die Hand geben kann, der aus dem Cover herausklickt werden kann, dann kommt zur Erzähldimension die haptische Wirkung hinzu, die nicht unterschätzt werden darf. Mit dem Davidstern hält man EIN Erinnern fest. Ein Erinnern, das mit dem Erinnern an unzählige andere Opfer des Holocaust einen Sternenhimmel ergibt, der zeitlos voller Fixsterne für eine bessere gemeinsame Zukunft leuchtet.

Dies ist auch für uns der Königsweg des Erinnerns. Diese Individualisierung des Erinnerns steht im Vordergrund unserer gemeinsamen Projekte. Peggy Steike und ich werden „Erikas Geschichte“ in unseren Kanon der wichtigen Bücher aufnehmen. Wir werden von der namenlosen Erika erzählen, wenn wir mit unserer Hannah Schulen besuchen. Stellvertretend für alle Kinder ohne Identität und so viele Opfer, die gebracht wurden, um das Leben all dieser Kinder zu retten. Unser Weg ist auf einem guten Weg. Wort und Bild vereint im Gedenken. Das haben wir mit Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti gemeinsam. Folgt uns.

Erikas Geschichte von Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti

Erikas Geschichte von Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti

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Erikas Geschichte und die Bücherkette auf AstroLibrium

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