„S – Das Schiff des Theseus“ – Lesend ins neue Jahr

S - Das Schiff des Theseus - Lesend ins neue Jahr

S – Das Schiff des Theseus – Lesend ins neue Jahr

Es ist ein alter, aber gut begründeter Aberglaube, den ich hege und pflege. Der Start in ein neues Jahr ist für mich schon seit jeher mit dem Buch verbunden, das mich auf diesem Weg begleitet. Ich erkenne ein Muster in meinem Lesen, das sich auf magische Art und Weise auf mein Leben auswirkt. So wie das Lesen im neuen Jahr beginnt, so wird auch das Jahr selbst. So hat sich seit langer Zeit ein liebes Ritual entwickelt, dem ich nur zu gerne folge.

Ich wähle das erste Buch des neuen Jahres ganz gezielt aus. Es soll mich fesseln, beschäftigen und zum aktiven Lesen bringen. Es soll ein wichtiger Wegbegleiter werden und mich für alle Zeiten an einen Jahreswechsel erinnern. So war es und so wird es immer bleiben. Manche Bücher hebe ich mir für genau diesen Zeitpunkt auf und ich bin mit dieser Lesensweisheit sehr gut gefahren. Viele gute Bücher haben viele gute Jahre eingeläutet. Und so manche große Enttäuschung hat sich in der Vergangenheit wie ein roter Faden durch so manche Epoche meines Lebens gezogen.

Insofern ist diese Auswahl ein ganz besonderer Vertrauensbeweis, den ich einem Buch entgegenbringen kann. Wie ein gutes Orakel, wie gelegte Tarot-Karten, so gelingt es mir immer wieder, mir die Bücher zu legen und aus dem Stapel der ungelesenen Schätze genau denjenigen auszuwählen, der mich auf der Welle eines neuen Jahres trägt und mit dem ich dann verbunden bleibe, wenn es darum geht zurückzublicken. Und 2016 beginnt mit einem buchigen Paukenschlag, den ich mir lange aufgespart habe. Genau für diesen magischen Moment. Ich gehe an Bord….

S - Das Schiff des Theseus - Lesend ins neue Jahr

S – Das Schiff des Theseus – Lesend ins neue Jahr

S – Das Schiff des Theseus von J.J. Abrams und Doug Dorst hat mich bereits im April des vergangenen Jahres in der US-amerikanischen Originalfassung begeistert und mir dabei doch gleichzeitig meine Grenzen sehr deutlich aufgezeigt. Der Roman ist eine absolute Liebeserklärung an das Buch an sich. Es besteht aus einem eigenständigen Plot, der von zwei Lesern mit unzähligen handschriftlichen Anmerkungen kommentiert wird. Dabei steht der Roman selbst gar nicht im Mittelpunkt, sondern der geheimnisvolle Verfasser V.M Straka, um den sich unzählige Gerüchte ranken.

Hat es ihn je gegeben? Wer hat ihn je zu Gesicht bekommen? Warum hat er sich niemals in der Öffentlichkeit gezeigt und was ist mit ihm geschehen, nachdem „S – Das Schiff des Theseus“ (sein letzter Roman) erschienen ist? Diese existenziellen Fragen bewegen die Studentin Jen und den gescheiterten Doktoranden Eric, eben diesem V.M. Straka auf die Spur zu kommen. Es scheint ein sehr gefährlicher Weg zu sein, dem sie folgen, da V.M. Straka sich zeitlebens viele Feinde gemacht hat. Dieser Weg verbindet beide wie ein magisches Band und sie beschließen, dem Geheimnis zu folgen.

Und so, wie sie ihre Spuren im Buch hinterlassen, prägt sich der eigentliche Roman tief ein. Mehrere Ebenen verlaufen auf verschiedenen Zeitachsen mal parallel und mal konträr zueinander, was das eigene Lesen auf eine extreme Probe stellt. Und nicht nur das. Dieses literarische Gesamtkunstwerk eignet sich nicht dazu, es mit auf die eigenen Reisen durch den Tag zu nehmen, da es mit Beilagen gespickt ist, die der Authentizität der Handlung Nachdruck verleihen. Ansichtskarten, Fotos, Zeitungsausschnitte, Briefe, Rechnungen und eine Dechiffrierscheibe für Geheimcodes befinden sich im Buch und spielen eine gewaltige Rolle.

S - Das Schiff des Theseus - Lesend ins neue Jahr

S – Das Schiff des Theseus – Lesend ins neue Jahr

Diese Rahmenbedingungen haben mein Lesen in der Originalfassung nicht gerade beschleunigt. Es fehlte mir an der ruhigen Phase im Leben, um vollends in den Roman einzutauchen. Mir fehlten die Momente, mich ungestört in dieses Buch zurückzuziehen und stundenlang auf Lesereise zu gehen. Kurzum, ich legte ein erschreckendes Tempo vor. Nur drei Seiten am Tag und irgendwann siegten die neuen Bücher über den Willen, bei der Stange zu bleiben. Aufgeschoben heißt jedoch nicht aufgehoben und nachdem die deutsche Ausgabe des Buches endlich in meinen zitternden Händen lag, war völlig klar, welches Buch mich über die Schwelle zum neuen Jahr tragen sollte.

Mein Leseplatz wurde liebevoll vorbereitet, mit Stiften, neuer Kladde und Notizpapier versehen und schon konnte es im zweisprachigen Abgleich beider Schiffe losgehen. Ein rituelles Lesen, das nun enorm an Zugkraft gewann, vom inneren Zusammenhang der Genussstunden profitierte und ein deutsches „Schiff des Theseus“ in dem ich endlich und in aller Tiefe vor Anker gehen konnte. Mein Leseweg stand dabei für mich seit dem ersten Blick in die Originalfassung fest.

Seite für Seite wollte ich mich vortasten. Zugleich den Roman als auch die Notizen der beiden Menschen zu lesen, die mich auf diesem Weg begleiten würden. Das lag für mich auf der Hand, da diese beiden Ebenen so sehr miteinander verwoben sind, dass die Zusammenhänge verloren gehen könnten, wenn man sie voneinander trennt. Schon nach den ersten intensiven Seiten sah ich mich in meinem Weg bestätigt, dem ich auch jetzt noch folge. Ich befinde mich während ich diesen Artikel schreibe an der Seite des geheimnisvollen Passagiers eines maroden Schiffes, der verzweifelt darum kämpft, sich wieder an sein Leben zu erinnern. Und zeitgleich verfolge ich die wilden Mutmaßungen und Recherchen von Jen und Eric über den ebenso geheimnisvollen Autor V.M Straka.

S - Das Schiff des Theseus - Lesend ins neue Jahr

S – Das Schiff des Theseus – Lesend ins neue Jahr

Dieses Lesen ist nur mir der Fahrt in einer gut gefüllten S-Bahn zu vergleichen. Während ich gebannt versuche, der eigentlichen Romanhandlung zu folgen, sitzen mir zwei wildfremde Menschen gegenüber, die sich ununterbrochen über genau das Buch unterhalten, das ich gerade lese. So fühlen sich die handschriftlichen Kommentare von Jen und Eric an. Und genau hier liegt auch die Magie dieser Wegbegleitung verborgen. Es entwickelt sich scheinbar ganz am Rande der Seiten eine ganz eigene Geschichte mit zwei Protagonisten, die es faustdick hinter den Ohren haben. .

Sie sind sich nie persönlich begegnet und fühlen sich doch aus unterschiedlichen Gründen vereint in der Leidenschaft zur Literatur und dem Streben, das Geheimnis um V.M. Straka gemeinsam zu lüften. Sie treffen sich nicht, telefonieren nicht, sondern haben ihren ganz eigenen Weg der Kommunikation gefunden. Sie schreiben einander. Keine Emails oder Briefe. Sie unterhalten sich am Rande der Seiten des Romans. Handschriftliches wird zu Berührungspunkten zweier Menschen, die sich selbst ebenso verloren haben, wie der geheimnisvolle Reisende im „Schiff des Theseus“.

Die Frequenz der Kommunikation ist hoch. Mehr als 40 Anmerkungen finden pro Buchtausch-Aktion ihren Platz im Roman und in den jeweiligen Antworten liegen bereits neue Fragen begründet, die in der nächsten Tausch-Runde zu klären sind. Es ist mehr als spannend, den beiden Buchliebhabern zu folgen und ihren ganz besonderen Dialog zu erlesen. Der eigentliche Roman tritt hier in den Hintergrund. Es geht ihnen viel mehr um das große Geheimnis des Schriftstellers V.M. Straka. Und ganz nebenbei lernen wir zwei Menschen kennen, die das wohl romantischste Medium entdeckt haben, um sich einander anzunähern. Das Buch.

S - Das Schiff des Theseus - Lesend ins neue Jahr

S – Das Schiff des Theseus – Lesend ins neue Jahr

Während ich also noch tief im „Schiff des Theseus“ versunken bin, pflastern meine Aufzeichnungen den Weg meines Lesens. Mosaiksteine fügen sich langsam zu einem komplexen Bild und doch bleibt immer noch vieles im Dunkeln. Der Sog ist gewaltig und die vom Buch ausgehende Magie ist ein Erlebnis für sich. Aus der wohl beabsichtigten Verwirrung werden zwei rote Fäden, die für das Verständnis des großen Ganzen immer wichtiger werden. Es fällt mir sehr schwer, mich mitten in der Nacht von beiden Büchern zu trennen, sie in ihren Schubern zur Ruhe zu betten und sie am nächsten Morgen ganz vorsichtig aufzuwecken.

Ich würde gerne ohne Unterbrechung lesen, um meine Spuren nicht zu verlieren. Ich würde gerne den eigentlichen Autoren auf der eigens für mich ausgelegten Spur folgen, ohne meine Augen zu schließen. Ich würde so gerne lesen bis zum Umkippen. Einfach lesen, schreiben, lesen und dann wieder über mein Lesen schreiben. Ein langer Weg liegt noch vor mir und am Ende steht dann nach zwei Artikeln über dieses einzigartige Buch die Rezension. Ich habe schon viele Ideen, wie sie aussehen soll. Aber zuvor gilt es Das Schiff des Theseus zu beenden.

Dem Verlag Kiepenheuer und Witsch ist nicht nur der perfekt übersetzte Klon der Originalausgabe gelungen. Die Umsetzung ist in ihrer Qualität perfekt, die Beilagen entsprechen den Originalen und die Verarbeitung des Buches ist in der Wertigkeit kaum zu überbieten. Darüber hinaus ist es jedoch gelungen, den im Original oftmals schwer lesbaren, leicht verblasst wirkenden handschriftlichen Notizen von Jen und Eric mehr Kontrast zu verleihen. Es liest sich angenehmer. Ich würde gerne weiterschreiben, aber ich muss lesen… Ich mag wieder eintauchen. Erneut versinken und dann werde ich klar sehen.

Am Ende eines Buches, das für mich immer mit diesem Neujahrslesen verbunden sein wird… Ihr könnt meinem Weg folgen… hier…! Frohes neues Lesen.

Update 10. Januar ´16: You`ll never read alone… 

S - Das Schiff des Theseus - Lesend ins neue Jahr

S – Das Schiff des Theseus – Lesend ins neue Jahr

Es folgt, was noch folgen musste. Ein letzter Landgang. Ich habe am Rad gedreht und Doug Dorst und J.J. Abrams dechiffriert. Ein finaler Artikel: Die Rezension

S_Das Schiff des Theseus_Die Rezensio_AstroLibrium_8

S – Das Schiff des Theseus – Die Rezension