„Doktor Jekyll und Mister Hyde“ illustriert von Sébastien Mourrain

Doktor Jekyll und Mister Hyde Robert Louis Stevenson und Sébastien Mourrain

Oh nein, er schrieb nicht nur Die Schatzinsel. Robert Louis Stevenson blieb uns zwar hauptsächlich mit seinen legendären Romanfiguren Sam Hawkins und Captain Flint in Erinnerung, weil sie den Weg aus einem echten Klassiker in die Jugendliteratur unserer Zeit problemlos überwunden haben und so einem breiten Publikum das Lesen versüßt haben. Ein Sprung, der aus literarischer Sicht gewaltig ist und keineswegs mit jedem Romanstoff gelingen kann. Was mit Treasure Island gelang, könnte ja vielleicht auch mit einem anderen Roman aus Stevensons Feder gelingen, selbst wenn es dabei um einen der ganz großen psychologischen Gruselklassiker in der Literatur geht. Denn er schrieb nicht nur „Die Schatzinsel“…

Doktor Jekyll und Mister Hyde Robert Louis Stevenson und Sebastien Mourrain

Der seltsame Fall des Doktor Jekyll und Mr. Hyde“ ist das wohl meistverfilmte Buch aus der Feder des großen Schriftstellers. Denkt man an Horror-Literatur, dann hat man sehr schnell Dr. Jekyll und Mr. Hyde oder den guten alten Frankenstein im Sinn. Hier ist Stevenson absolut bahnbrechend gewesen, indem er Gut und Böse in einer Person vereint und sowohl sympathische als auch dunkle Seiten voneinander losgelöst auf den Leser einwirken lässt. Ohne diesen Roman gäbe es wohl einige legendäre Bösewichte der Film- und Literaturgeschichte nicht. Auch einigen Superhelden hat R.L. Stevenson so den Weg geebnet. Two-in-One, vielleicht ein Genre, das man nach ihm benennen müsste. Denken wir nur an Batman, Superman, Hulk, Spiderman oder Die Maske.

Doktor Jekyll und Mister Hyde Robert Louis Stevenson und Sébastien Mourrain

Und nun schickt sich der für sehr edle Kinderbücher bekannte Bohem Verlag an, den Gruselklassiker über eine künstlich herbeigeführte Persönlichkeitsspaltung in neue Dimensionen vorstoßen zu lassen. So erblickt in diesen Tagen „Der seltsame Fall des Doktor Jekyll und Mr. Hyde“ als Bilderbuch mit Illustrationen von Sébastien Mourrain das Licht der Bücherwelt. Großformatig kommt es daher, verziert mit einem Eyecatcher auf dem Cover, das zugleich die gute und dunkle Seite im Wesen eines Schmetterlings zeigt. Eine gelungene Metapher, in der die Schönheit erst sichtbar wird, wenn am Ende der Verpuppung ein neues Geschöpf aus der Raupe entsteht.

Doktor Jekyll und Mister Hyde Robert Louis Stevenson und Sébastien Mourrain

Aber nicht nur in seiner Aufmachung überzeugt dieses literarische Wagnis. Auch inhaltlich und sprachlich gelingt ein absoluter Kunstgriff. Die verkürzte Übertragung des originalen Textes in der verknappten und umso authentischer wirkenden Übersetzung von Nils Aulike wirkt beinahe so, als hätte Robert Louis Stevenson den Extrakt seines Klassikers selbst in diese Kurzfassung gebracht. Im Vergleich mit dem kompletten Text kann man nur den Hut ziehen, weil hier einerseits ein Roman in vereinfachter Form und dabei doch unverfälscht in seiner Melodie einem größeren Publikum geöffnet wird. Hier kann man sich selbst auf Stand bringen, wenn man das komplette Werk nicht gelesen hat und darüber hinaus kann man es mit Jugendlichen erschließen, die es vielleicht aus eigenem Antrieb niemals lesen würden. Ein „Klassiker-to-Go“ sozusagen.

Doktor Jekyll und Mister Hyde Robert Louis Stevenson und Sébastien Mourrain

Genau diese gemeinsame Auseinandersetzung kann zeitlos Wunder bewirken, da dieser Romanstoff niemals an Relevanz verloren hat. Gute und böse Seiten im Wesen eines Menschen voneinander zu trennen ist unmöglich. Sie bedingen einander und wir befinden uns im ewigen Kampf um die innere Balance. Dass es Dr. Jekyll nur mit einer Droge gelingt, das Böse zu separieren ist ein komplexer Denkansatz, wie auch wir den modernen Drogen von heute zum Opfer fallen können. Die Novelle von Stevenson hält auch heute noch viele Überraschungen für uns bereit. Die Zeichnungen von Mourrain untermalen diese geniale Neufassung in einer eigenen, sehr atmosphärischen Dichte. Ja, es gruselt schon deutlich, das muss man zugeben, aber unsere heutige Jugend ist aus einem anderen Schrot und Korn, wenn es um Gänsehautfaktoren geht.

Doktor Jekyll und Mister Hyde Robert Louis Stevenson und Sebastien Mourrain

Stevenson wäre stolz auf dieses Buch. Es verkünstelt den Roman nicht, interpretiert nicht mehr in die Geschichte hinein, als es statthaft ist und lässt unausgesprochen, was der große Schriftsteller damals auch unbeschrieben ließ. Was hat Mr. Hyde auf seinen nächtlichen Streifzügen angestellt? Wie hat sich das Böse Bahn gebrochen? Das blieb unserer Fantasie überlassen und so bleibt es auch in diesem Bilderbuch. Lehrreich in seiner Botschaft, geschlossen und authentisch im Stil und atmosphärisch dunkel in der Gestaltung – Einfach klasse, wie man einem Klassiker neues Leben einhauchen kann.

Bilderbücher. Eine ganz eigene Galaxie im Visier der kleinen literarischen Sternwarte.