„George“ von Alex Gino

George von Alex Gino

George von Alex Gino

„Für dich, als du das Gefühl hattest, nicht dazuzugehören.“

Diese Widmung von Alex Gino könnte schon der Titel des Debüt-Romans dieses ganz besonderen Menschen sein. Sie ist so allumfassend und steht für jedes in der Folge zu lesende Wort, wie kaum ein zweites Zitat aus diesem Buch. Diese Widmung spricht nicht nur den Menschen an, dem sie wohl zugeeignet ist. Jeder Leser darf sie als persönlichen Willkommensgruß empfinden und auf diese Weise wird mit einfachen und tiefen Worten ein Gefühl vermittelt, das man selten spürtt, bevor man ein Buch zu lesen beginnt.

Nicht mehr ausgeschlossen, allein und isoliert zu sein. Schon mit diesem Satz, der noch vor dem ersten Satz des Romans ins Auge sticht, fesselt Gino die Leser, da jeder von uns dieses Gefühl schon am eigenen Leib erfahren hat. Jeder sehnt sich danach, akzeptiert und anerkannt zu werden. Jeder fühlt sich schlecht, wenn Ausgrenzung oder Isolation zum Wegbegleiter seines eigenen Lebens werden. Und jeder sollte eigentlich verstehen, wie leicht es sein kann, anderen Menschen dieses Gefühl zu ersparen.

Doch weit gefehlt. In einer Gesellschaft, die immer noch nach Außenseitern sucht, die am besten funktioniert, wenn man eigene Unzulänglichkeiten verschleiern kann, indem man sie auf Underdogs abwälzt, ist Ausgrenzung der beste Automatismus, um selbst dazuzugehören. Klingt komisch, ist aber so. Jede Gruppe funktioniert so. Hat man erst einmal einen gemeinsamen Feind gefunden, wächst der Zusammenhalt. Es ist wirklich leicht zu durchschauen, funktioniert aber im Großen, wie im Kleinen.

George von Alex Gino

George von Alex Gino

George“, das literarische Debüt von Alex Gino, wird dieser Widmung gerecht.

Als Alex Gino im Jahr 2003 damit begann, diesen Roman zu schreiben, gab es im Bereich der Jugendliteratur nur ganz wenige Protagonisten, bei denen ihre Schöpfer es gewagt hatten, sie in allen Facetten ihres schwulen oder lesbischen Lebens der breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Dabei sind es gerade Bücher für junge Leser, die aus der Sicht von Alex Gino dazu in der Lage sind, Verständnis zu wecken und Blickwinkel auf andere Sichtweisen zu eröffnen. Was Alex Gino damals aber gar nicht vorfand, waren Bücher, die sich den Themen Transgender oder Genderidentitäten widmeten.

Es war nicht die Zeit, über Menschen zu schreiben, die nicht in das System unserer Geschlechterrollen passten. Es war nicht die Zeit, über Menschen zu schreiben, die in ihrer eigenen Wahrnehmung nicht in dem Geschlecht wahrgenommen werden, dem sie sich selbst zugehörig fühlen. Unabhängig von äußeren Geschlechtsmerkmalen. Es war damals undenkbar, diese Gedanken auch nur zu denken. Darüber zu schreiben und zu hoffen, publiziert zu werden, war erst recht undenkbar.

Und doch begann Alex Gino mit diesem Buch. Schritt für Schritt entstand George, weil es an der Zeit war, den nächsten Schritt in der öffentlichen Akzeptanz zu gehen. Alex Gino bezeichnet sich selbst als genderquer und empfindet sich als Mensch, der die gewohnte Dualität von Mann und Frau um die eigene Geschlechtsidentität erweitert. Ist die Zeit jetzt reif für George? Sind wir bereit für den Roman eines Schriftstellers, der sich in Interviews und im privaten Leben genderneutral mit „THEY“ anreden lässt und sich anstelle von Mr. oder Mrs. für die Höflichkeitsform „Mx“ entschieden hat?

Ich denke, ja. Die Zeit ist reif. Wir sind reif. Wir sollten es sein.

George von Alex Gino - Transgender-Literatur

George von Alex Gino – Transgender-Literatur

Die Literatur hat den Weg geebnet. Menschen haben den Weg geebnet. Wir sind es nun, die diesen Weg gehen sollten. Vorbehaltlos, vorurteilsfrei und offen. Empathie darf nicht zum leeren Fremdwort verkommen und gegenseitiges Verständnis kann nur dann entstehen, wenn wir dazu bereit sind, uns diesen sensiblen Themen zu öffnen. Ich war bereit für „George“. Es ist nicht mein erstes Buch zum Thema Transgender. Ich habe schon viel darüber geschrieben.

The Danish Girl von David Ebershoff und Zusammen werden wir leuchten von Lisa Williamson haben mich sensibilisiert. Zuletzt habe ich im Roman Die Liebenden im Chamäleon Club von Francine Prose das Schicksal von Lou Villars erlesen. Und jetzt erforderte es einen weiteren großen Schritt, um mich „George“ zu nähern. Denn George ist erst zehn Jahre alt. Ein Alter, in dem Kinder nicht ernst genommen werden. Ganz besonders dann nicht, wenn es um ihre Selbstwahrnehmung im geschlechtlichen Rollenbild geht. Hier ist unsere dogmatische Rollenverteilung zu dominant und wirkt wie unüberwindbare Mauern.

Oder wäre jemand von euch bereit, auf die Farben Rosa und Blau zu verzichten, bis der geliebte Nachwuchs alt genug ist zu entscheiden, in welcher Identität er oder sie sich wahrnimmt? Oder entsprechen wir eher unseren eigenen Rollenbildern? Sind wir in der Lage, Abweichungen zu akzeptieren, wenn sie uns selbst betreffen? Wie sollten wir das dem geneigten Umfeld erklären? „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“ Das ist doch keine Frage, auf die man mit „Das stellt sich noch raus!“ antwortet. Oder?

George von Alex Gino

George von Alex Gino

So sollten wir „George“ jedoch begegnen. Sonst wäre unser Lesen unaufrichtig und geheuchelt. So sollten wir unsere Kinder mit „George“ bekannt machen. Sonst wäre es nämlich so, dass wir dem „Anderssein“ nur zustimmen, wenn es uns nicht betrifft. Wir brauchen Mut für dieses Buch. Schranken gibt es genug auf dieser Welt. Daran haben Dogmatiker aller Länder und Religionen lange genug gearbeitet. Wenn ihr diesen Mut in die Waagschale des Lesens werft, dann wird euch „George“ nicht fremd erscheinen.

Denn SIE will alles, nur nicht fremd sein. SIE will dazugehören, aber eben nicht von anderen Menschen in Kategorien gepresst werden, die IHR nicht entsprechen. Auch im zarten Alter von erst zehn Jahren muss man „George“ so wahrnehmen, wie SIE sich selbst wahrnimmt. Als Mädchen im Körper eines Jungen. Eines Jungen, der schön brav jedem elterlichen Rollenbild zu entsprechen hat, um fein in der Norm zu bleiben.

Freunde findet man selten in diesen Situationen. Und wenn, dann sind sie mehr als ein Glücksgriff im Leben eines jungen Menschen, der sich in der zermürbenden Phase der Selbstfindung befindet. George hat Kelly. Sie urteilt nicht, wertet nicht, wiegt nicht und tut einfach das, was man von einer besten Freundin erwartet. Sie sieht „George“ mit den Augen, die aufrichtig und wahr sind. Sie erkennt „Melissa“ und ebnet ihr gegen alle Widerstände von außen einen Weg, der sonst undenkbar wäre.

George von Alex Gino

George von Alex Gino – Die Hauptrolle als Befreiuungsschlag

Kelly bestärkt ihre beste Freundin darin einfach so zu sein, wie sie sein will. Doch steht sie damit allein auf weiter Flur. Als George sich bei einer Schulaufführung für die Rolle der weiblichen Hauptdarstellerin bewirbt, bricht der Sturm los. Alle Fragen werden gestellt. Normal? Unnormal? Was kann man nur dagegen tun? Was sagen die Anderen und wie stehen wir als Eltern da? Wo haben wir bei „George“ versagt? Und letztlich ist völlig offen, wie sie es verkraftet, ihr Outing auf offener Bühne zu erleben. Die Rolle der Spinne Charlotte im Theaterstück Charlotte`s Webist wie für sie gemacht. Aber ihre Familie, die Lehrer und „Georges“ Bruder – alle sind überfordert.

Kann Kelly zur Geburtshelferin von Melissa werden?

Gefühl und Empathie werden in diesem beeindruckenden Jugendbuch aus dem Fischer Verlag groß geschrieben. Bei aller Offenheit ist es doch kein leichter Weg durch dieses Buch, wenn man sich selbst hinterfragt, wie sehr man einengt oder in den alten sozialen Abziehbildern von Norm verhaftet ist. Alex Gino hat lange gebraucht, bis dieses Buch seinen Weg an die Öffentlichkeit gefunden hat. Vielleicht hat Gino die oben zitierte Widmung auch an sich selbst adressiert. Durch diese Rezension möchte ich nur zeigen, dass ich „George“ ernst- und wahrgenommen habe.

Mx. Alex Gino – THEY belong to us.

Anmerkung als Mann: Bei allem Verständnis für die Selbstfindung von George in diesem brillant erzählten Roman entspricht die Darstellung der „Männerwelt“ genau den Klischees, mit denen die Geschichte für ihren Protagonisten eigentlich aufräumen möchte. Väter haben sich schon lange von den Familien getrennt oder sind nicht in der Lage, unfallfrei für ihre Kinder zu kochen. Große Brüder sind Rabauken und bestechen durch den Satz „Habe ich dich beim Kacken gestört“ und die Schule ist eine bunte kleine Mädchenwelt, in der man Farben tanzt. Ich hätte mir hier einen ebenso neutralen Blick gewünscht, wie man ihn von mir als Leser letztlich erwartet. Das nur am Rande.

Hierzu lohnt sich auch der weibliche Blick auf „George“. Anja und Zwiebelchens Plauderecke im kreativen Gleichschritt in der Bewertung des Romans.

George von Alex Gino

George von Alex Gino

Worte von „George“ / „Melissa“ die unvergessen bleiben:

„Die Schmetterlinge in ihrem Bauch hatten Schmetterlinge in ihren Bäuchen.“