Mr. Rail trifft „Mr. Gwyn“ von Alessandro Baricco

Mr. Gwyn von Alessandro Baricco

Mr. Gwyn von Alessandro Baricco

Baricco lesen und sterben.

Eine schönere Liebeserklärung an einen Schriftsteller, der mich geprägt hat, wie kein zweiter, kann ich mir nicht vorstellen. Er ist verantwortlich für meine Reisen auf der Virginian, meine tiefe Freundschaft zu einem Ozeanpianisten namens Novecento und die in Seide gehüllten Erinnerungen an die verzweifelten Fluchten eines gewissen Hervé Joncour. Lavilledieu – Japan – Lavilledieu. Seide – Der Roman meines Lebens.

Mr. Gwyn von Alessandro Baricco - Die Rezension fürs Ohr

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Baricco lesen und sterben. Mehr fällt mir kaum ein, wenn ich mir heute wünschen dürfte, wie mein Leserleben enden könnte. Am Ende eines Buches aus seiner Feder. Am Ende seines Schreibens und damit gleichzeitig immer auch wieder am Anfang einer lebenslangen Inspiration, die er durch seine endlose Kreativität auf die Gleise stellt und zu höchster Geschwindigkeit beschleunigt. Die Lokomotive hieß Elisabeth. In Land aus Glas durchzog ihre Schönheit die Welt. Ihr Besitzer hieß Mr. Rail. Unbeirrbar, nur der Geradlinigkeit seiner Lebensstrecke verbunden.

Mr. Rail. Mein Name, wenn es darum geht, mich zu beschreiben. Wenn es darum geht, über mich zu sprechen. Selbst gewählt und niemals verloren. Mr. Rail taucht oft in Bariccos Werken auf. Immer als jener Mann, der eine schnurgerade Eisenbahnstrecke bauen wollte. Immer auf seiner Suche nach dem höchsten Tempo auf schnurgerader Linie. Genauso las ich mich als „Mr. Rail“ durch alle Werke von Alessandro Baricco. Ich durchlebte sie, war begeistert, verstört, verliebt und stets betroffen. Baricco lesen und sterben. Lesendlächelnd sterben, das mag ich mir nur bei ihm vorstellen.

Nichts wünsche ich mir sehnlicher am Zielbahnhof der Lesereise eines gewissen Mr. Rail.

Mr. Gwyn von Alessandro Baricco - Ein Lebensweg an der Seite von Baricco

Mr. Gwyn von Alessandro Baricco – Ein Lebensweg an der Seite von Baricco

Ich hoffe allerdings nicht, dass der neue Roman von Alessandro Baricco die letzte Station auf unserem langen Weg darstellt. Mr. Rail trifft „Mr. Gwyn, so könnte man diesmal sagen, denn dieser schlichte Name schmückt ein vielgesichtiges Cover aus dem Hause Hoffmann und Campe. Endlich ist es wieder soweit und mit großen Erwartungen begann ich „Mr. Gwyn“ lesend stilvoll zu zelebrieren. Eingebettet in meine Lebensbücher aus der Feder des kreativen Meisters suchte ich nach den Stilmitteln seines Schreibens, die bei mir seit jeher Lese-Gänsehaut auslösen.

Jasper Gwyn. Ein Name, den man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte. Und eine erste Begegnung im Roman, die bereits Maßstäbe setzt und mich fühlen lässt, wieder bei „meinem“ Baricco angekommen zu sein. Eine Einleitung, die mich dazu verleitet, das Buch zu schließen und Jasper Gwyn nachzueifern, indem ich seinen Ausstieg aus dem Alltag zu meinem Ausstieg mache. Denn Jasper Gwyn, ein recht erfolgreicher und passionierter englischer Schriftsteller, fasst einen folgenschweren Entschluss, der nicht nur sein Leben verändern wird. Er veröffentlicht einen Artikel im legendären Guardian, in dem er eine mehr als außergewöhnliche Liste veröffentlicht.

Er listet genau 52 Dinge auf, die er fortan nicht mehr zu tun gedenkt. 52 Dinge, von denen er sich in aller Form verabschiedet und von denen er mehr als deutlich Abstand nimmt. Und beginnt die Liste auch scheinbar völlig harmlos, und scheint sie das oberflächliche Ergebnis einer tiefen Selbstbetrachtung zu sein, dann steigern sich das Ausmaß und die Tragweite seiner Entscheidungen in zunehmendem Maße. Es klingt noch ein wenig paradox, wenn Jasper Gwyn an erster Stelle erwähnt, nie wieder einen Artikel für den Guardian zu schreiben. Aber schon dieser erste Ausstieg aus seinem Leben kündigt weitere Schritte an, die aufhorchen lassen.

Mr. Gwyn von Alessandro Baricco

Mr. Gwyn von Alessandro Baricco

Was Jasper Gwyn NIE wieder zu tun gedenkt:

– Sich mit der Hand am Kinn in nachdenklicher Pose fotografieren zu lassen
– Höflich zu Kollegen zu sein, die er in Wirklichkeit verachtete
– Selbstsicherheit bei der Begegnung mit Schulklassen vorzutäuschen

und so weiter… und so weiter.

Den Höhepunkt erreicht diese Auflistung mit dem letzten und 52. Punkt, der einem literarischen Selbstmord gleichzusetzen ist, denn Jasper Gwyn verkündet unwiderruflich und zu guter Letzt:

– Nie wieder Bücher schreiben zu wollen.

In aller Öffentlichkeit beendet der empathische Erzähler seine Karriere als Autor. Und das mit knapp über vierzig Jahren, auf dem Höhepunkt seines leidenschaftlichen Schaffens und zum Entsetzen nicht nur seiner Fans, sondern auch seines Agenten. Und genau dieser Tom Bruce Shepperd hält diesen letzten Artikel von Jasper Gwyn nur für einen brillanten Scherz, eine wundervolle Anklage gegen die Literatur-Branche. Bis es ihm wie Schuppen von den gierigen Agentenaugen fällt, dass sein bestes Pferd im Stall das Reiten eingestellt hat.

Mr. Gwyn von Alessandro Baricco

Mr. Gwyn von Alessandro Baricco

Und um die Endgültigkeit seiner Entscheidung zu untermauern, absentiert sich Mr. Gwyn

„Jasper Gwyn verbrachte noch sechzehn Tage in Granada. Dann reiste auch er ab. In dem kleinen Hotel vergaß er drei Hemden, einen einzelnen Strumpf, einen Spazierstock…, ein Sandelholzduftbad und zwei Telefonnummern, die mit Filzstift auf den Duschvorhang aus Plastik geschrieben waren.“

Und Stopp. Vollbremsung im Lesen. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, mein Herz schlug bis zum Anschlag. Da war er endlich wieder. Genau hier hatte ich ihn wiedergefunden: Meinen Alessandro Baricco. Eine fulminante Ausgangssituation, die als Eingangsidee alle Türen beim Leser öffnet und sein einzigartiger Schreibstil, der den Lauf der Dinge mit den Aufzählungen scheinbar alltäglicher Dinge beschleunigt. Wer denkt hier nicht an seine Beschreibung des Reiseweges von Hervé Joncour nach Japan? Baricco-Kenner geraten schon auf den ersten Seiten ins Schwärmen.

Ihm gelingt dabei ganz beiläufig (so scheint es immer), seine Leser aus dem Buch zu katapultieren, um still und heimlich ihre eigene Liste der 52 Dinge zu erstellen, die sie selbst nie wieder zu tun gedenken. Und kaum hat man vor Augen, wie das eigene künftige Leben verlaufen könnte, wird man schon wieder vom Roman angezogen, den man gerade (und wirklich und ganz kurz) verlassen hatte. Jasper Gwyn erobert den Verstand des Lesers. Seine Beweggründe und die Frage, wie konsequent er seinem neuen Weg folgen würde, entwickeln eine unglaubliche Sogwirkung, die im Inneren dieses grandiosen Romans ihre Entsprechung findet. Jasper Gwyn, der Wortschöpfer, kommt nicht sehr lange ohne sein kreatives Schreiben aus. Zu sehr verändert ihn der eigene Entschluss, auf das Schreiben von Büchern zu verzichten.

Mr. Gwyn von Alessandro Baricco

Mr. Gwyn von Alessandro Baricco

Aber Jasper Gwyn wäre nicht Jasper Gwyn, wenn er nicht ein Ventil finden würde. Er beschließt, Kopist zu werden und fortan Porträts zu schreiben. Richtig gelesen. Porträts zu schreiben. Bilder von Menschen sind Mr. Gwyn zu stumm. Er folgt seiner Eingebung, mietet sich ein Atelier, stattet es mit einer Beleuchtung auf Zeit aus und lässt einen Komponisten den Soundtrack zu seiner zukünftigen Berufung komponieren. Ein besonderer Klang, vereint mit Glühbirnen von eng begrenzter Lebensdauer und ein Raum mit einem Bett stellen den Rahmen für seine neue Kunstform dar. Er beobachtet Menschen und porträtiert sie in Worten. Er findet ihre Geschichte. Eine Geschichte, in der jeder Baum, jedes Blatt, jeder Berg, jede Melodie und jedes Ereignis die Züge des zu Porträtierenden trägt. Kunstwerke allesamt.

Folgen wir Alessandro Baricco in einen Roman, der an seine großen Geschichten anknüpft. Folgen wir ihm in Bilder, die so noch nie geschrieben wurden. Folgen wir ihm in sein Atelier, genießen das ersterbende Licht und den Rhythmus der Geräusche und beobachten mit ihm gemeinsam die Menschen, die er porträtieren soll. Nackt liefern sie sich dem ehemals großen Schriftsteller aus. Nackt warten sie auf den einen Moment, in dem Mr. Gwyn endlich sein Schweigen bricht und völlig nackt erkennen sie sich auf den wenigen Seiten ihrer Porträts wieder. Ungeschminkt und in aller Tiefe.

Ein Weg, der uns an seiner Seite von Begegnung zu Begegnung führt. Ein Weg, der uns staunen lässt, was Worte erschaffen können. Ein Weg, der erst endet, als ein junges Mädchen vor ihm sitzt, das sich seinen Regeln entzieht. Ein magischer Moment. Baricco porträtiert neben seinen Kunden auch seine Leser. Man liest ihn nackt und setzt sich der Beobachtung des Meisters aus. Jeder Blick in das eigene Leselicht ist begleitet von der Hoffnung, es möge bitte nicht sterblich sein. Man beginnt sich im Atelier von Mr. Gwyn wohlzufühlen und sucht in den unzähligen Zetteln auf dem Boden nach Hinweisen auf das eigene Porträt.

Mr. Gwyn von Alessandro Baricco

Mr. Gwyn von Alessandro Baricco

Baricco entblättert seine Leser. Er fabuliert sich in einen Erzählraum, der schon für sich allein eine Befreiung vom alltäglichen Ballast verspricht. Entschleunigung trägt dazu bei, sein wahres Gesicht zu zeigen. Man ist getrieben von dem Wunsch, auch nur eines dieser geheimen Porträts lesen zu dürfen. Zur Not auch gegen Unterschrift und unter Inkaufnahme einer empfindlichen Geldstrafe, wenn man etwas davon verraten würde. So las ich dieses Buch.

Ich schweige. Ich habe es versprochen. Kein Wort dringt über meine versiegelten Lippen. Ich bin wieder in meinem realen Leben angekommen. Habe Schieflagenlesen und Gänsehautflüstern gefühlt. Und dann am Ende des Romans angekommen stelle ich fest, dass dort gar nicht „Ende“ steht. Was folgt ist ein kleines Wunder. Was folgt ist eine kleine Fortsetzung aus der Feder von Alessandro Baricco, die in Italien erst ein Jahr nach der Veröffentlichung von „Mr. Gwyn“ als Buch erschien. Ein kleines Wunder, dass Hoffmann und Campe diese gefühlte Fortsetzung zum Bestandteil dieses Romans macht.

Dreimal im Morgengrauen ist viel mehr als nur eine kleine Fingerübung. Die drei Begegnungen zwischen zwei Menschen verleihen dem zuvor Erlebten Tiefenschärfe und Kontur. Vielleicht sind es die Porträts, auf die man so lange wartete. Vielleicht sind es paradox wirkende Momentaufnahmen, die „Mr. Gwyn“ zu dem machen, was er ist. Zu einem der ganz Großen aus der Feder Bariccos.

Mr. Rail und Mr. Gwyn. Wir haben uns gefunden. Wir werden uns nicht mehr aus den Augen verlieren. Das Leben ist inhaltsreicher seit dieser Begegnung. Zeilen wanderten zwischen Menschen, die „Mr. Gwyn“ begegneten. Ich schrieb ein Porträt für Julia. Sie begegnete dem sterbenden Licht mit mir. Glühbirnen sind keine normalen Lichtschöpfer mehr. Worte sind keine Worte mehr. Alles wird zu Mr. Gwyn“.

Mr. Gwyn von Alessandro Baricco

Mr. Gwyn von Alessandro Baricco

Kreuzt seinen Weg. Dreimal im Morgengrauen werdet ihr an Mr. Gwyn denken. Lesenslang. Heike ist das auf Irve liest auch passiert. Und hier könnt ihr mir beim Schwärmen zuhören… Die Rezension fürs Ohr bei Literatur Radio Bayern.

Und hier folgt schon sein neues Meisterwerk: „Smith & Wesson
Neu aus seiner Feder: „Die junge Braut

Smith & Wesson von Alessandro Baricco

Smith & Wesson von Alessandro Baricco