Amanda Gorman – Der Flügelschlag eines Engels

Amanda Gorman - Der Flügelschlag eines Engels - Astrolibrium

Amanda Gorman – Der Flügelschlag eines Engels

Es war ein kalter, grauer und glanzloser Tag, an dem der neu gewählte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Joe Biden, seinen Amtseid sprach. Es war Mittwoch, der 20. Januar 2021, an dem sich ein neues Amerika präsentierten wollte, um der Welt zu zeigen, dass die Amtszeit von Donald Trump nun auch formal beendet war. Wenige Tage nach der Erstürmung des Capitols durch enttäuschte Anhänger, und aufgewiegelt durch den umstrittenen Populisten, sollte dieser Tag deutliche Signale der Normalität im Umgang mit Menschen aller Hautfarben, jeder Religion und Herkunft aussenden, damit der Ruck des Neubeginns weltweit spürbar sein würde. Hoffnungen begleiteten den Tag und selten zuvor waren so viele Augen auf den neuen Präsidenten gerichtet. Selten im politischen Washington jedoch war die Szenerie einer Inauguration derart gespenstisch, weil die weltweite Corona-Pandemie statt Hunderttausender Zuschauer nur einen Wald aus schweigenden Fahnen als stumme Zeugen zuließ. 

Es war eine angespannte Atmosphäre, die alles dämpfte, was hier auf den entehrten Stufen des Repräsentantenhauses gesprochen wurde. Selbst die Rede von Joe Biden wollte nicht richtig zünden, selbst das demonstrative Fernbleiben des Vorgängers trug nicht zur Entspannung bei. Es fühlte sich trotz der erhofften Befreiung nicht an, wie der Befreiungsschlag, den diese geschundene Demokratie so dringend benötigte. Es fühlte sich nicht an, wie die Naht, die eine zerrissenen Nation zusammenführen, vereinen und verbinden konnte. Wo blieb das Signal an die Welt? Wo war der Paukenschlag? Hatten die „Make Amerika Great Again„-Ambitionen so viel zerstört? War die Unsicherheit so groß, dass selbst die neue Regierung sich noch nicht frei bewegen wollte. Ein Land in Fesseln. Dieses Gefühl drängte sich mir auf. Ich war sprachlos. Bis. Ja, bis eine junge Frau zuerst das Podium mit ihrer Präsenz und dann die Welt mit ihren Worten eroberte. 

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Amanda Gorman – Der Flügelschlag eines Engels

Amanda Gorman.

Ich denke, niemand, der diesen Moment miterlebt hat, wird dieses Mädchen jemals vergessen können. Niemand, der auch nur ein leises Gefühl für historische Momente in sich trägt, wird leugnen können, dass hier etwas wahrhaftig Großes geschah. Die junge Dichterin Amanda Gorman erhob die Stimme und beschwor alle Geister, die wir schon verloren geglaubt hatten. „The Hill We Climb“ lautet der Titel des Gedichts, das sie mit Herz, Stimme, Mimik und Gestik vortrug. Ein Gedicht, das an Poetry Slam erinnerte, in sich sehr festlich, getragen und doch keine Spur pathetisch war. Auch, wenn man nicht fließend Englisch sprach, erschloss sich der Inhalt auf der Emotionsebene. Ein Gedicht, der leisen Zwischentöne, der Wortspiele und der grenzenlosen Hoffnung. Eine Frau, die sich den Strömungen des Zeitgeistes entgegenstellte und mit ihrer Zerbrechlichkeit eine Wand gegen Nationalismus, Unterdrückung und Hass vor dem Capitol errichtete. Nach der Amtseinführung von Präsident Biden war klar, wer hier die lebenswichtigen Akzente gesetzt hatte und es war auch klar, dass dieses Gedicht lange nachhallen würde.

Was dann jedoch geschah, war erschreckend für mich. Als es darum ging, den Text in die Welt zu tragen, die Zeilen zu übersetzen, sie nachhaltig auch jenen zugänglich zu machen, die keine Englisch-Native-Speaker waren, entbrannte ein Streit darüber, wer in aller Welt berufen sein könnte, und dürfte, diese Übersetzung zu wagen. Was? Ich war entsetzt. Es ging hier nicht um die Deutungshoheit der Zeilen. Es ging nur noch darum, dass weltweit jeder Übersetzer, jede Übersetzerin ein bestimmtes Profil erfüllen müsste, um sich des Gedichtes würdig zu erweisen. Es ging nicht darum, wer es am besten zu können versprach. Darf ein weißer Mann, dessen Leben nicht durch Ausgrenzung und Rassismus eingegrenzt wurde, es wagen, diesen Text zu übertragen? Ach bitte. Diese Frage ist ebenso obsolet, wie der Gedanke, ob ich es denn wagen dürfte, das Gedicht auf meinem Blog zu rezensieren. In dieser Diskussion ging der Inhalt dessen verloren, was uns Amanda Gorman so euphorisch zugerufen hatte. Wer die Zukunft bewältigen will, muss zuerst die Differenzen beseitigen. 

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Amanda Gorman – Der Flügelschlag eines Engels

Also lassen wir doch mal die Kirche im Dorf und schauen uns die zweisprachige Ausgabe des Gedichtes vom Hoffmann und Campe Verlag an.

Da hat uns die charismatische Dichterin Amanda Gorman am Tag der Inauguration von Präsident Joe Biden berührt, bewegt, aufgerüttelt, zu Tränen gerührt und geflasht. Ihr Gedicht „The Hill We Climb“ hat Eruptionswellen losgetreten, die bis zu uns spürbar waren. Eine andere Welle war unbeabsichtigt. Wer darf dieses Gedicht übersetzen? Ein Streit der vieles überlagerte. Lasst das Capitol auf seinem Hügel. Das Übersetzerinnen-Team Uda Strätling, Hadija Haruna-Oelker und Kübra Gümüşai hat mehr als nur den Versuch gewagt, sich dieser Herausforderung zu stellen und sie zu meistern. Wer sich jemals mit einer Übersetzung eines Gedichtes aus einer anderen Sprache ins Deutsche beschäftigt hat, weiß wie schwierig es ist, ein solches Unterfangen zu bewältigen, ohne von der Kritik an die Wand genagelt zu werden. Versucht es doch einfach selbst mal mit den Poetry-Slams von Julia Engelmann. Was will ein Übersetzer erreichen? Will man sich zur Konkurrenz eines Künstlers erheben und auf der Bühne gar noch besser sein als das Original? Nein. Das ist nicht die Intention. Es geht um die Annäherung an einen Text. Es geht um ein besseres oder gar erstes Verständnis des Textes, um Zugang und das Einreißen sprachlicher Barrieren. Das ist dem Team der Übersetzerinnen gelungen. Ich verstehe ihre Übertragung des Gedichtes als Annäherung, nicht als Versuch, selbst damit die Bühnen der Welt zu erobern. Die Ehrfurcht vor dem Original lässt kaum einen anderen Schluss zu.:

Amanda Gorman zu übersetzen ist, als würde man den Flügelschlag eines Engels mit dem einer Taube synchronisieren. Man hört ihn vielleicht und fühlt sogar, wie der Aufwind entsteht, aber es fehlt die Magie des Unbegreiflichen, die diese Flugbewegung zu einem ikonischen Ereignis werden lässt. (Aber hört doch selbst zu…)

Und nun betritt das kleine dünne schwarze Mädchen, die Nachfahrin von Sklaven, Tochter einer alleinerziehenden Mutter, die Träumerin und sprachgewaltige Künstlerin, die nicht nur eine Nation bewegte, eine neue Bühne und lässt ihrem Gedicht ein Buch folgen, an dem man nicht vorbeikommt. CHANGE. Eine Hymne für alle Kinder“, so lautet der Titel eines Bilderbuches, zu dem Amanda Gorman den Text und Loren Long die farbenfrohen Illustrationen beigesteuert haben. Versetzen wir uns noch einen ganz kleinen Moment auf die Stufen des Capitols und denken an die junge Dichterin, die dort stand und dem Establishment der alten weißen Männer den Marsch blies. Dann gehen wir einen Schritt weiter und träumen davon, diese Botschaft von Gleichheit und Mut zur Veränderung wäre für Kinder greifbar. Seid Ihr noch bei mir? Denn jetzt sind wir genau da angekommen, wo uns die junge Künstlerin haben wollte. Jetzt können wir im Klang ihres Gedichts und im Wissen um ihre Hoffnungen mit unseren Kindern ein Bilderbuch öffnen, dessen Botschaft nicht einfacher klingen kann. Change. Jeder kann die Welt verändern. Egal, woher man kommt, wie alt man ist, wie reich die Eltern sind und wo man aufgewachsen ist. Man muss es nur tun.

So können wir The Hill We Climb und Change als literarisches Tandem sehen,  auf dem sich Groß und Klein gemeinsam in eine Welt ohne Vorurteile lesen. Im selben Tempo, in die richtige Richtung und im gemeinsamen Takt.

Dieses Buchtandem funktioniert, weil der Erwachsene am Lenker sitzt, das Gedicht vom Capitol als emotionales Navigationssystem in sich trägt und sich nun anschickt, mit dem eigenen Nachwuchs in die Zukunft zu fahren. Change, die Veränderung wiegt dabei nicht viel. Das Buchtandem nimmt an Fahrt auf und wer beiden Geschichten hilft sich zu entwickeln, wird später einmal feststellen, dass man die Rollen tauschen kann. Denn sehr bald werden unsere Kinder das Lenkrad übernehmen und dann kommt es darauf an, welchem inneren Kompass, welchem Navigationssystem sie folgen. Ich hätte mir auch für das Bilderbuch eine zweisprachige Ausgabe gewünscht, da ich die Originalfassung sehr liebe. Man findet den englischen Text im Internet. Versucht es einfach mal, ihn parallel zu lesen. Er ist magisch. Naja und spätestens, wenn eure Kinder mal wieder ein Fußballspiel sehen, vor dessen Beginn die Spieler niederknien, um ein Zeichen gegen Rassismus in die Welt zu schicken, dann greift zum Bilderbuch. Hier findet Amanda Gorman die richtigen Worte für eine große Geste.

„Ich summe mit Hunderten Herzen
und jeder von uns reicht eine Hand.
Ich nutze meinen Verstand, meine Stärken,
beuge ein Knie für den Widerstand.“

Oder in der Originalfassung:

„I hum with a hundret hearts,
Each of us lifting a hand.
I use my strengths and my smarts
Take an knee to make a stand.“ 

Wer auch hier die Übersetzerinnen-Diskussion führen möchte, dem lege ich nahe, sich meine Gedanken zur Intention des Übersetzens erneut zu Gemüte zu führen. Die beiden Übersetzerinnen von „CHANGE„, Joy Denalane (Musikerin und Soul-Sängerin) und Daniela Seel (Lyrikerin und Übersetzerin) haben eine kindgerechte Anverwandlung des Originals geschrieben, die dem gemeinsamen Verändern unserer Welt Tür und Tor öffnen kann. 

Und nun heißt es „Den Hügel hinauf„, „The Hill We Climb“ und „Change„…
Danke Amanda Gorman für die inspirierenden Flügelschläge.

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Ein Versteck unter Feinden – Roxane van Iperen

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Ein Versteck unter Feinden – Roxane van Iperen

Manchmal erzählen Häuser ihre Geschichten. Es sind Geschichten über diejenigen, die sie bewohnten, die sich zuhause fühlten oder in ihnen ihre Geheimnisse verbargen. Jeder Blick in ein altes Haus gleicht dem Blick in ein Tagebuch, in dem man zwar sehr genau sehen kann, wann etwas geschrieben wurde. Die Worte jedoch sind nicht mehr da. An ihre Stelle rücken Grundrisse, Erker, Fenster, Keller und Dachgeschosse. Den Rest muss man schon selbst herausfinden. Was würden diese Wände erzählen, wenn sie reden könnten? Wie viel Glück, wie viel Blut, wie viel Freude und Leid könnten sie bezeugen, wenn wir sie zum Sprechen bringen könnten. Ruinen und verfallene Häuser sind keineswegs die legendären Lost Places der Geschichte. Sie hüten ihr Geheimnis so lange, bis jemand kommt, der in den Mauern lesen kann. Jemand, der nicht an die Renovierung denkt, sondern an jenen Zustand, in dem man das Haus vor vielen Jahren vorgefunden hätte. Dann kann man sie hören. Die Geschichten.

Ich mag solche Geschichten. Ich mag die demaskierten Gebäude, die uns in ihre Zeit entführen. In die Zeit, in der sie nicht nur Wohnraum boten, sondern selbst Geschichte schrieben. Zuletzt entlockte ich mit Simon Stranger dem Bandenkloster im Trondheim unter der Nazi-Herrschaft in Norwegen seine Geheimnisse. Erst nach dem Krieg verriet das Hauptquartier der Gestapo-Schergen, was in seinen Räumen geschah. Hier spielte sich Grausames ab, aber ohne diese Geschichte wäre der lautstarke Aufruf „Vergesst unsere Namen nicht“ von Simon Stranger wohl ungehört verhallt. Hier erzählt uns ein Schreckensort der Diktatur seine Geschichte. Roxane van Iperen geht einen anderen Weg. Sie hört ihrem neuen Haus in Holland aufmerksam zu. Sie findet doppelte Böden, Hohlräume und verborgene Kammern. Sie beginnt zu recherchieren und entlockt ihrer neuen Heimat ihre Geheimnisse. „Das hohe Nest“ (`t Hooge Nest) beginnt zu reden.

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Ein Versteck unter Feinden – Roxane van Iperen

Ein Versteck unter Feinden entführt uns in die Niederlande. Roxane van Iperen erzählt die wahre Geschichte von zwei jüdischen Schwestern im Widerstand. Es beginnt, wie so oft im Leben: Zufällig. Die Familie erwirbt ein Häuschen im Grünen. Im Osten von Amsterdam, idyllisch gelegen im kleinen Örtchen Naarden. Das hohe Nest sollte Heimat und Biotop für die Familie werden. Ein verwilderter Garten, das schlichte Anwesen und die etwas geheimnisvolle Aura des Hauses entfalteten ihre eigene Magie. Als Roxane van Iperen jedoch bei der Renovierung Verstecke, doppelte Wände, Luken und vergilbte Zeitungen des Widerstandes aus dem Zweiten Weltkrieg findet, lassen ihr diese Entdeckungen keine Ruhe mehr. Sie beginnt, dem Haus seine Geheimnisse zu entreißen:

Langsam, aber sicher, Zimmer für Zimmer, finden die Puzzlestücke zueinander, bis die unglaubliche Geschichte, jetzt, sechs Jahre später, auf dem Papier steht: Dieses Haus ist größer als wir. Wir sind nur Passanten, die das Glück haben, es bewohnen zu dürfen.

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Ein Versteck unter Feinden – Roxane van Iperen

Was sich hier noch romantisch und ein wenig verklärt anhört, entwickelt sich sehr schnell zu einer Geschichte, die mehr erzählt, als nur eine jüdische Familiengeschichte in den Niederlanden. Roxane van Iperen erzählt vom jüdischen Leben, von Hoffnungen, Integration, Ängsten, Liebe und Werten. Sie beginnt im Jahr 1912 in Amsterdam. Und wie so viele Familiengeschichten beginnt auch diese mit einem Zufall. Und sie endet wie viele jüdische Geschichten in Bergen-Belsen. Was rund um den Nieuwmarkt beginnt, ist der Anfang einer Liebesgeschichte, der zwei Mädchen entspringen. Lien und Janny Brilleslijper kommen im Abstand von fünf Jahren zur Welt und wachsen in Amsterdam auf. Um all das zu verstehen, was später geschah, ermöglicht uns Roxane van Iperen einen umfangreichen Blick auf das jüdische Leben in Amsterdam. Sie beschreibt, wie abgeschottet das jüdische Viertel einerseits war, andererseits ist deutlich zu erkennen, wie sehr die niederländischen Juden in die Gesellschaft integriert waren.

Mit der Machtergreifung der Nazis im benachbarten Deutschland und mit den ersten Gerüchten über Judenverfolgungen und die diskriminierenden Nürnberger Gesetze ist es vorbei mit der Ruhe in den Niederlanden. Zwar fühlt man sich noch sicher, aber die ersten Flüchtlinge aus dem „Reichsgebiet“ verunsichern die Bevölkerung sehr. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und der Besetzung ihrer Heimat beginnt dann auch das Martyrium der Familie Brilleslijper. Amsterdam unter Kontrolle. Judengesetze und Ausgrenzung aus Studium, Beruf und Gesellschaft. Wer kann, flieht. Wer nicht fliehen kann, geht in den Untergrund. Man sucht Verstecke. Jüdische Familien tauchen unter. Es formiert sich Widerstand und selbst die nichtjüdische Bevölkerung stellt sich am 24. Februar 1941 im „Februarstreik“ den Besatzern offen entgegen. Lien und Janny sind zu diesem Zeitpunkt schon im Widerstand gegen die Nazis aktiv.

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Ein Versteck unter Feinden – Roxane van Iperen

Als man auf der Suche nach einer verborgenen Zentrale auf das Hohe Nest stößt, wird aus dem unscheinbaren Haus das Zentrum des jüdischen Widerstandes in einem besetzten Land. Ein Versteck in Naarden. Der Hochburg der Nazigrößen ihrer Zeit. Ein Versteck unter Feinden. Roxane van Iperen blättert die Geschichte vor uns auf. Sie hat alle Mosaiksteinchen zusammengetragen. Es ist eine Geschichte der Entrechtung, der schleichenden und konsequenten Ausdünnung der jüdischen Bevölkerung. Es ist eine Geschichte von Mitläufern, Verrätern, Mittätern und Tätern. Es ist eine Geschichte von Mut und Zuversicht und es ist die Geschichte zweier junger Frauen, die das Hohe Nest zum Zufluchtsort geflüchteter Juden machen. Als ihr Versteck verraten wird, findet man dort sechzehn Menschen in ihrem Versteck. Was folgt, ist die Deportation.

Es folgen Orte, die heute auf der Landkarte gegen das Vergessen jeder für sich den Holocaust symbolisieren. Westerbork, Auschwitz, Bergen-Belsen. Hier wird aus der Geschichte der beiden Schwestern mehr als die Beschreibung ihres Leidens und ihres Weges von einem Konzentrationslager ins nächste. Hier begegnen sie zum ersten Mal einer anderen jüdischen Familie, die sich in Amsterdam versteckt hatte. Hier treffen wir auf Menschen, deren Geschichte wir so gut kennen. Lien und Janny treffen auf Anne Frank und ihre Familie. Hier vereinten sich zwei Schicksalswege. Ich habe kaum weiterlesen können. Zu intensiv war meine eigene Auseinandersetzung mit dem Leben von Anne. Ich scharte die Bücher um mich, die ich über sie gelesen hatte. Ich nahm ihr Tagebuch zur Hand und ich versuchte mich für den Moment zu wappnen, in dem mir die beiden Brilleslijpers von den letzten Tagen mit Anne und Margot erzählten.

Vergebens. Alles Wappnen half nichts. Einer der traurigsten Momente meines Lesens.

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Ein Versteck unter Feinden – Roxane van Iperen

„Ein Versteck unter Feinden“ von Roxane van Iperen hat viele Lücken in meinem Wissen über den jüdischen Widerstand in den besetzten Niederlanden gefüllt. In jeder Beziehung ein absolut lesenswertes Buch über die Verfolgten, ihre Verfolger und ein kleines neutrales Land, das ideologisch vergewaltigt wurde. Die Autorin bleibt immer auf dem Boden der recherchierten Tatsachen. Sie hat es nicht nötig, zu dramatisieren, drückt nicht auf Tränendrüsen und emotionalisiert die Geschichte in keiner Weise. Sie stellt sich der Verantwortung, ein authentisches Zeitzeugnis abzulegen. Das spürt man ihrem sehr komplexen Schreiben an. Es ist ein zutiefst verantwortungsvolles Buch, das den Opfern des Nationalsozialismus gerecht wird. Es wirft Fragen auf, die wir heute nur für uns ganz alleine beantworten können. Hätten wir den Mut? Wären wir so selbstlos? Würden wir unser eigenes Leben hintanstellen? Würden wir uns für andere erheben?

Ich habe meine Antworten. Hier geht es zu meinem literarischen Kanon Gegen das Vergessen. Es ist wichtiger denn je, der Wahrheit ins Auge zu blicken und jeder Form von Rassismus und Antisemitismus die Stirn zu bieten.

Das besetzte Holland – Eine literarische Annäherung bei AstroLibrium.

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Ein Versteck unter Feinden – Roxane van Iperen

Das kann uns keiner nehmen von Matthias Politycki

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Das kann uns keiner nehmen von Matthias Politycki

Da willst du einfach nur mal alleine sein und mit dir ins Reine kommen. Da wartest du mehr als 25 Jahre darauf, eine Reise zu beenden, die du in einem früheren Leben unter tragischen Umständen abbrechen musstest. Da willst du der vergangenen großen Liebe deines Lebens zugleich hinterher weinen, ein Denkmal setzen und dich von den Albträumen befreien, die dich seitdem heimsuchen. Da willst du im fernen Afrika zu dir selbst finden und den Reset-Knopf drücken. Da willst du auf dem Gipfel des höchsten Berges des dunklen Kontinents um all das trauern, was dir auf dem Herzen liegt. Und dann das. Du bist nicht allein.

Gut, es war davon auszugehen, dass du nicht der einzige Mensch sein wirst, der es wagt, den Kilimandscharo zu besteigen. Eine Übernachtung jedoch in der Höhe von fast 6000 Metern am Rande des Reusch Kraters, die sollte doch bitte exklusiv nur dir vorbehalten sein. Das war der Plan. Alles schien perfekt bis Hans einen roten Punkt in der Gegend des Kraters entdeckte. Und nicht nur das. Zelte, Träger und Ausrüstung gehörten zu dem wild rumhüpfenden Punkt, der sich als waschechter Urbayer namens Tscharlie vorstellt. Mit einem fröhlichen „Lecko mio“ zerreißt er die Stille am Krater in tausend Teile und macht die Trauma-Verarbeitungspläne von Hans zunichte.

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Das kann uns keiner nehmen von Matthias Politycki

Nun gut, man könnte auf Distanz gehen. Könnte, wäre da nicht ein Schneesturm der über dem Dach von Afrika ausbricht und den weltoffenen, höflichen Hanseaten mit dem bärbeißigen, sarkastischen Bayern ohne Anstand und Respekt zusammenschweißt. Es klingt nach dem stereotypen Zusammenprall der Kulturen in einem fremden Kulturraum. Klingt jedenfalls nicht nach dem Titel des Romans „Das kann uns keiner nehmen“ von Matthias Politycki, in dem die Geschichte von Hans und Tscharlie erzählt wird. Es klingt nach lustigen landsmannschaftlichen Verwerfungen, nach spaßigem Konfliktpotenzial in schwindelerregender Höhe. Preuße und Bayer in Lebensgefahr und in einer Seilschaft des Grauens an- und miteinander verbunden. Klingt so. Ist es aber ganz und gar nicht.

Matthias Politycki gelingt mit seinem aktuellen Roman etwas, das man dem Buch weder auf den ersten, noch auf den zweiten Blick zutrauen würde. Er bringt seine Protagonisten in auswegloser Situation zusammen, reibt die beiden Charaktere intensiv aneinander, bis sie ihre äußeren Schalen verlieren und den Kern ihrer Wesen in einem Umfeld offenlegen, das ihnen scheinbar feindlich gesonnen ist. Ein polyglotter und sehr empathischer Roman, in dem Politycki literarisch verarbeitet, was er selbst in Afrika am eigenen Leib erfahren hat. Dass wir es im weitesten Sinne mit Verarbeitungsliteratur zu tun haben, wird von Seite zu Seite klarer. Was in lustigen Scharmützeln zwischen zwei ungleichen Menschen beginnt, gewinnt in zunehmendem Maß an Tiefgang. Und genau dieser Tiefgang führt auf Umwegen zum Romantitel „Das kann uns keiner nehmen.“

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Das kann uns keiner nehmen von Matthias Politycki

Dabei gelingt Politycki mit seiner Figur des Tscharlie eine absolute Skurrilität in der Literaturlandschaft. Die scheinbar rassistische und menschenverachtende Haltung, die er den Menschen des Landes gegenüber zur Schau trägt, entpuppt sich als einzig wahrer Zugang zu ihren Herzen. Das muss man selbst erlesen haben, um es begreifen zu können. Tscharlie ist die Verkörperung des lockeren in den Tag Hineinlebens. Er ist kein Tourist, kein Erbe der Kolonisatoren, er begegnet allen Menschen gleichermaßen und gewinnt ihre Zuneigung im Sturm. Seine Sprache, seine persönliche Direktheit und sein Humor sind die Zeltstangen unter denen man sich beruhigt hinlegen kann. Hans ist verwundert, und scheitert hanseatisch kühl mit seiner Herangehensweise. Tscharlie ist ein wahres Gottesgeschenk in den Ländern, durch sie sie nun gemeinsam reisen. Von Tansania bis Sansibar ziehen sie ihre Spuren. Und das aus guten Gründen.

Beide haben Geheimnisse voreinander. Beweggründe hier zu sein. Motive für ihre Reise auf den Kontinent, der immer mehr zum Sehnsuchtsort mutiert. Es wird zu dem Afrika, das ich von Tania Blixen kenne. Es wird zu dem Kontinent, in dem Menschen füreinander einstehen und es ist doch ein zerrissenes Universum der Armut. Politycki gibt dem Kontinent Raum, sich in unserer Wahrnehmung zu entfalten. Er zeigt Gründe für Flucht auf und thematisiert die verheerenden Bürgerkriege, die in Ruanda um sich griffen. Es ist kein Zerrbild von Afrika, in das wir uns hineinlesen. Es ist literarisch ein ganz großer Wurf. Besonders in dem Moment, in dem das gesamte Buch zu kippen beginnt. In dem Moment, in dem Tscharlie und Hans ihre Geheimnisse lüften. Es wird Zeit, sich auf den Tiefgang vorzubereiten, für den der lustige Auftakt den roten Teppich ausgelegt hat…

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Das kann uns keiner nehmen von Matthias Politycki

„Das kann uns keiner nehmen“ wird zu einem anderen Buch, nachdem Hans und Tscharlie die Hosen heruntergelassen haben. Mit jeder Faser des Herzens schlägt man sich als Leser auf ihre Seite, man folgt atemlos ihren Erzählungen aus einem früheren Leben und man kann keine Pausen mehr einlegen im Lesen. Es sind Geschichten von Verlust, Trauer, Trennung, Krankheit und es sind tiefe Einschnitte, die offene Wunden in den Herzen der beiden Männer hinterlassen haben. Diese gemeinsamen Erlebnisse sind Wegbereiter einer großen Entwicklungsgeschichte, die dazu führt, dass aus zwei ungleichen Menschen ein Team wird. Matthias Politycki lässt an der Plausibilität seiner Erzählung keinen Zweifel aufkommen. Wer sich mit seiner Vita beschäftigt wird Muster dieses Romans in seinem Leben finden. Und doch gelingt ihm sein Schreiben wohl nur in der literarischen Distanzierung durch die Fiktionalisierung seines Stoffes.

Tscharlies flotte Sprüche erhalten vor diesem Hintergrund eine neue Bedeutung und wir verstehen ihn gut, wenn er sagt, dass „die Sehnsucht eine Hure ist“. Beide Männer vereint ein berührendes Frauenbild. Sie sind Heilige und doch vom anderen Stern. Sie sind jedes Opfer wert, auch wenn es die Selbstaufgabe bedeutet. Sie rücken tief ins Zentrum dieses Romans vor. Es sind zwei Frauen, denen wir in Erzählungen der beiden Männer begegnen. Es ist die Zeit der großen Beichten, der offenen Fragen und es ist die Zeit für Schlussstriche, die irgendwann gezogen werden müssen. Hier bleibt kein Auge trocken. Hier gelingt Matthias Politycki ein Twist, der uns auf Umwegen tief ins Herz trifft. Der Traum vom einfach SO-SEIN trägt durch diesen Roman. Wir ahnen, dass dieser Traum ein Traum bleiben musste. Emotionaler geht es nicht.

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Das kann uns keiner nehmen von Matthias Politycki

Viele schöne Zitate begleiten mich nach dem Lesen in mein Leben. Zitate, die nicht nur für diesen Roman, sondern auch für das Leben selbst stehen. Wohldosiert hat der Autor sie in seinen Text gemischt. Und doch strahlen sie deutlich heraus. Wenn wir Kiki und Mara im Buch begegnen, dann immer mittelbar und indirekt. Und trotzdem gibt es eine Stelle im Text, die uns auf sie vorbereitet:

„Wenn man eine Frau wahrnimmt, muß es eine Distanz gegeben haben!“

Wahrnehmen im Sinne von für wahr nehmen. Das funktioniert in diesem Roman. Ich bin fasziniert und nach dem gemeinsamen Lesen mit einem wichtigen Menschen fällt es mir nicht schwer, den Romantitel über dieses nachhaltige Erlebnis zu stellen: Das kann uns keiner nehmen!

Mehr Afrika auf AstroLibrium: „Ich hatte einen Blog in Afrika„…

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Das kann uns keiner nehmen von Matthias Politycki

Viga-Ljot und Vigdis von Sigrid Undset

Viga-Ljot und Vigdis von Sigrid Undset - Astrolibrium

Viga-Ljot und Vigdis von Sigrid Undset

Ich weine nicht unter meinem Niveau. Besonders dann nicht, wenn es um Literatur geht. Ein Roman muss mich schon im Mark treffen, meine Gefühlswelten bewegen und am Ende schlichtweg überzeugen, um meine Tränenkanäle in Aktion zu versetzen. Es sind nicht immer die groß angelegten Dramen oder Geschichten, deren Hauptziel darin besteht, auf die Tränendrüse zu drücken, die mich zum Weinen bringen. Es sind meist die ganz kleinen Erzählungen, deren Protagonisten mich nachhaltig aufwühlen, die das Potenzial mitbringen, deutliche Spuren zu hinterlassen. Eine Träne muss man sich als Autor schon redlich verdienen. Zumindest bei mir. Ich kann die Tränenbücher an einer Hand abzählen. Bücher, die mich in diesem Jahr berührt haben. Seltenheitswert.

Warum ich das hier erzähle? Weil ich nie geglaubt hätte, dass mich eine Islandsaga aus dem Jahr 1909 dazu bringen würde, heute eine Rezension zu schreiben, die mich als literarische Heulsuse outet. Und doch ist genau das passiert. Ein Stoff, der wohl nur deshalb veröffentlicht und gelesen wird, weil Norwegen als Gastland der Frankfurter Buchmesse firmiert. So dachte ich. Ansonsten holt man mit „Viga-Ljot und Vigdis“ im Leben keine Leser hinter dem Ofen hervor. So glaubte ich zu wissen. Sicher verstaubt und antiquiert in Stil und Ausdrucksweise. Nicht mehr zeitgemäß und (mit Verlaub) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit so spannend und zeitgemäß, wie Bücher über die abenteuerliche Weinlese zur Zeit der französischen Renaissance. Zumindest hätte der Hoffmann und Campe Verlag einen Norwegen-Titel im Sortiment und damit auch schon genug getan, um dem Gastland zu huldigen. Vermutete ich… Zu Unrecht.

Viga-Ljot und Vigdis von Sigrid Undset - Astrolibrium

Viga-Ljot und Vigdis von Sigrid Undset

Beim gezielten Blick hinter die Fassade von „Viga-Ljot und Vigdis“ aus der Feder von Sigrid Undset erkennt man, dass es eine Vielzahl von Gründen gibt, dieses Buch auch heutigen Lesern erneut zugänglich zu machen. Dabei ist die Gastland-Rolle einer Literatur-Nobelpreisträgerin aus dem Jahr 1928 als nebensächlich zu bewerten. Sigrid Undset war gerade einmal 27 Jahre alt, als ihre Islandsaga erschien. Im Vorwort zum Roman erläutert Kristof Magnusson die Besonderheiten dieser Geschichte und ordnet sie gleichzeitig im Genre historischer Roman ein, nicht ohne die Brüche zu erklären, die das Buch von genau diesem Sujet abheben. Sigrid Undset blieb sprachlich der Zeit, die sie in den Mittelpunkt ihrer Erzählung stellt, verbunden. Mittelalterlich, traditionell, mehr als alle anderen Geschichten auf der Grundlage mündlicher Überlieferungen, den doch eher kleinen Leuten gewidmet. So, wie sie schrieb, konnte man sich die Saga auch an den Lagerfeuern des Mittelalters erzählt haben.

Der rein inhaltlichen Brisanz des Werks ist es zu verdanken, dass in der aktuellen Übersetzung von Gabriele Haefs zeitlose Töne angeschlagen werden, die in der Lage sind, einerseits dieser Geschichte einen modernen Anstrich zu verleihen und doch dem Charme der Saga nicht den Boden entziehen. Das klingt nicht verstaubt oder ungelenk. Es liest sich flüssig und elegant, was sich uns auf 180 Seiten offenbart. Und doch bleibt die Schönheit der Formulierungen von Sigrid Undset erhalten. Ein gelungener Weg, ein Buch zu reanimieren, das man einfach gelesen haben muss. Ohne es zu datieren und ohne jegliche Hintergrundinformationen zur Autorin könnte man das Gefühl bekommen, es hier mit einer Geschichte zu tun zu haben, die die Schlagworte #MeToo und Victim Blaming in die Vergangenheit transportiert, um sie aus dieser verfremdeten Umgebung in unsere heutige Zeit zu projizieren. Weit gefehlt. Diese Headlines sind älter, als wir es gerne wahrhaben möchten.

Viga-Ljot und Vigdis von Sigrid Undset - Astrolibrium

Viga-Ljot und Vigdis von Sigrid Undset

Archaische Gesellschaften sind grundsätzlich frauenfeindlich organisiert, obwohl sie auf Gedeih und Verderb von ihnen abhängig sind. Die Entrechtung der Frau und die Zuweisung klarer Rollenbilder entstammen wohl immer jenen Zeiten, in denen die Welt nur für Männer absolut in Ordnung war. Mit nichts anderem assoziieren wir auch heute noch Romane, in denen Wikinger und ihre Volksstämme eine Rolle spielen. Frauen als Haushälterinnen, Geliebte, Mütter und Tauschobjekte auf dem Heiratsmarkt. Mehr darf man nicht erwarten. Also zumindest nicht als Frau. Weitere Rollen wurden ihnen auch literarisch kaum zugewiesen. Bescheidenheit war angesagt. Patriarchat in Reinform. 

So lernen wir auch die junge Vigdis kennen. Als Tochter des wohlhabenden Bauern Gunnar begegnet sie dem jungen Isländer Viga-Ljot auf dem Hof ihres Vaters. Aus der ersten leichten Faszination entsteht bald eine Romanze, die auf eine glückliche Zeit als Paar hindeutet. Gunnar gestattet seiner Tochter das Privileg, eine Ehe einzugehen, die nicht arrangiert wurde. Sie ist also frei in ihrer Entscheidung und Viga-Ljot würde gut in die Familie passen. Wäre da nicht der jung verliebte Wikinger selbst, mit dem der Gaul gleich mehrmals durchgeht. Die vornehme Schüchternheit von Vigdis schiebt er rabiat zur Seite und nimmt sich mit Gewalt, was er schon zu besitzen glaubt. Aus dem brutal geraubten Kuss und der folgenden Vergewaltigung entsteht die größte Schande, die er dem jungen Mädchen jemals hätte antun können. Ein Kind! Einen Sohn. Ulvar.

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Viga-Ljot und Vigdis von Sigrid Undset

Diese Schande stürzt die gesamte Familie von Vigdis ins Chaos. Denn nicht sie ist im traditionellen Sinn als Opfer anzusehen. Die Vergewaltigung stellt ihren und den Ruf ihres Vaters in Frage. Während Viga-Ljot das Weite sucht, versinkt Vigdis in der Scham und erlebt am eigenen Körper mit, was es bedeutet, durch die sozialen Raster der Zeit zu fallen. Entrechtet, entwurzelt und ganz auf sich gestellt zieht sie das ungewollte Kind groß und sinnt auf Rache an jenem Mann, der ihr Leben gewaltsam verändert hat. Wir folgen beiden auf den verschlungenen Wegen der Saga. Zwei Erzählstränge, die sich nur noch in gemeinsamen Träumen und Trugbildern begegnen. Zwei Wege, auf denen Sigrid Undset die eingetretenen Pfade von Schuld und Sühne verlässt, um differenziert zu betrachten, was ihren Protagonisten widerfährt.

Hier zeichnet sie kein einfaches Bild. Sie verlässt den schmalen Grat der klaren und eindeutigen Schuldzuweisung und vermittelt ein differenziertes Bild zweier gepeinigter Seelen. Vigdis als Opfer schmiedet einen Plan, der sie zur Täterin werden lässt. Ulvar wird in die Rolle des Werkzeugs ihrer Rache gedrängt. Versöhnung oder Vergebung ist von ihr nicht zu erwarten. Viga-Ljot hingegen findet kaum mehr Ruhe. Der Täter wird in ein Leben gedrängt, in dem er keinen Frieden mit sich selbst schließen kann. So brutal seine Tat auch war, Sigrid Undset verdammt ihn nicht und beschreibt einen geläuterten Mann, der zu sehr geliebt und begehrt hat. Der Preis für dieses Verlangen war zu hoch. Den Preis bezahlen beide. Nicht jedoch zu gleichen Teilen. Das ist ihm klar. Und doch wächst er dem Leser ans Herz. Voller Zweifel zwar, aber er bleibt nicht der Täter, dem man nur verachtungsvoll hinterherblickt.

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Viga-Ljot und Vigdis von Sigrid Undset

Das Finale des Romans zerreißt alle Herzen. Es bewegt und verstört zugleich. Es ist konsequent und passt in die Zeit. Aber wir bleiben lesend auf der Strecke, weil es so viele Auswege gegeben hätte. Kleine Schritte hätten genügt. Von beiden Seiten. So bleiben „Viga-Ljot und Vigdis“ als tragisches Liebespaar in Erinnerung. So bleibt diese Geschichte in Erinnerung und strahlt bis in unsere Zeit aus. Opfer und Täter werden in unserer Gesellschaft immer noch in ihren Rollen vertauscht. Vergewaltigungsopfer sind dem Vorwurf ausgesetzt, sie seien selbst verantwortlich. Täter führen Strafmilderndes ins Gefecht. So auch hier. Das eigentliche Opfer steht am Rand einer Gesellschaft, die ausgrenzt, was nicht standesgemäß ist. Der Täter lebt unbescholten weiter. Hier finden wir Botschaften, die auch heute noch bohrende Fragen aufwerfen. Was für eine starke Geschichte.

Wenn ich an ihrem Ende weinte, dann, weil die Beziehung von Viga-Ljot und Vigdis so viel Potenzial gehabt hätte, um glücklich zu enden. Wenn ich Tränen vergoss, dann nicht wegen eines klassischen Opfers im klassischen Sinn, sondern vielleicht habe ich um einen geläuterten Täter geweint, weil Sigrid Undset in ihrem Farbmalkasten für das große Islandgemälde keinen Platz für schwarz oder weiß hatte. Eine Leseempfehlung ohne jede Einschränkung.

Viga-Ljot und Vigdis von Sigrid Undset - Astrolibrium

Viga-Ljot und Vigdis von Sigrid Undset – Bald geht es im Norden weiter…

Viga-Ljot und Vigdis“ von Sigrid Undset / Hoffmann und Campe / 190 Seiten / dt. von Gabriele Haefs / Vorwort von Kristof Magnusson / 24 Euro

„Die Aussprache“ von Miriam Toews

Die Aussprache von Miriam Toews - AstroLibrium

Die Aussprache von Miriam Toews

Ich befinde mich in einem klaustrophobischen Erzählraum. Ich fühle mich nicht gut. Beklemmung macht sich breit und meine Wut ufert beim Lesen aus. Es riecht nicht nur nach Angst, es schmeckt nicht nur nach aufgestautem Hass, man kann die kollektiven Verletzungen spüren, die sich hier Gehör verschaffen. Ich bin in unserer Zeit. Nicht im Mittelalter. Ich bin in Bolivien, halte ein Buch in Händen, das wohl als Roman zu sehen ist, jedoch auf wahren Begebenheiten beruht. Ich befinde mich in einer Kolonie, in einer Gemeinde gläubiger Mennoniten. Gottesfürchtige Menschen. Sollte man meinen. Es ist ein Heuboden, in dem sich abspielt, was ich im Leben nicht mehr vergessen werde. Es ist ein Versteck, in das sich acht Frauen der Gemeinde geflüchtet haben. (Rezi hören)

Die Aussprache - Die Rezension fürs Ohr - Ein Klick genügt - Astrolibrium

Die Aussprache – Die Rezension fürs Ohr – Ein Klick genügt

Es ist Die Aussprache, der ich beiwohnen darf, weil mir die kanadische Autorin Miriam Toews ihren neuen Roman anvertraut, der nichts anderes ist, als das fiktive Protokoll dieser unglaublichen Versammlung. Ich bin mucksmäuschenstill. Ziehe mich atemlos in den hintersten Winkel des Heubodens zurück und höre den Frauen zu. Sie sind nicht grundlos hier. Mein Gott, das auf keinen Fall. Am Ende der Leidensfähigkeit und erfüllt von dem verzweifelten Wunsch, sich selbst und ihre Kinder zu retten, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als „Die Aussprache“ zu führen und eine Entscheidung zu treffen, die alles verändert. Ihr eigenes Leben, das ihrer Familien und den Fortbestand der gesamten Mennoniten-Kolonie Molotschna.

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Die Aussprache von Miriam Toews

Der Grund für „Die Aussprache“? Verstörend… Über Jahre hinweg wachten Frauen und Mädchen infolge nächtlicher Übergriffe benommen, unter Schmerzen und verletzt, blutend und psychisch gequält auf. Vergewaltigt. Die Ursache der Überfälle war für die Männer der Gemeinde schnell klar. Es war die Strafe Gottes für die unreinen Gedanken der Frauen. Eine Strafe Gottes oder des Teufels für all ihre Sünden. Erst als sich einige Frauen auf die Lauer legten, kam das Entsetzliche ans Tageslicht. Acht Männer hatten sie systematisch mit einem pflanzlichen Tierbetäubungsmittel bewusstlos gemacht und sich an ihnen vergangen. Ihre Opfer: Frauen, Mädchen, kleine Kinder. Ihr Beistand, als die Gewalttaten offensichtlich wurden: Fehlanzeige. Aus Sicht ihres Bischofs waren die Frauen bei den Gewalttaten ohne Bewusstsein. Was sollte man ihnen da beistehen im Nachhinein?

So. Das musste sich setzen. Ich war angesichts dieses Missbrauchs angewidert. Ein in sich geschlossenes patriarchalisches System mit einem archaischen Frauenbild als Basis für den systematischen sexuellen Missbrauch ist nur eine Seite des Grauens. Die Konsequenzen für die Frauen setzten dem Ganzen für mich die Krone auf. Für die Gemeinschaft nicht mehr tauglich waren sie. Nicht mehr jungfräulich, schwanger einige und beschmutzt. Man hatte diese Frauen und Mädchen an den Rand der Gemeinschaft vergewaltigt. Mir war zum Kotzen zumute. Und genau hier beginnt „Die Aussprache“. Aus Angst vor der Rache einiger Frauen befinden sich die Täter vor Gericht. Der Rest der Männer ist vor Ort, um die Kaution für ihre Freilassung aufzubringen. 48 Stunden bleiben den Frauen. 48 Stunden für eine Entscheidung. „Die Aussprache“ als Akt der Befreiung oder des Aufgebens.

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Alternativen? Grundsätzlich sind sie da. Jedoch ist das mennonitische Frauenbild in Perfektion das geeignete Machtinstrument, die Wahlmöglichkeiten der Opfer drastisch einzuengen. Sie können weder lesen noch schreiben. Sie sprechen nur Plautdietsch, wissen nicht, wo sich die Kolonie befindet, weil sie den Ort nie verlassen durften. Doch trotz all dieser Grenzen sind acht Frauen nicht bereit, einfach aufzugeben. Sie begeben sich auf den Heuboden und beraten, was zu tun ist. Nichtstun. Bleiben und Kämpfen. Gehen. Miriam Toews schreibt uns in einen existenziellen Meinungsaustausch, in dem das Für und Wider der Optionen aufgelistet wird. In jeder Konsequenz wird klar, was es für die Frauen und Mädchen bedeutet, an diesem Punkt ihres Lebens angekommen zu sein. Vernichtend.

Hier sind sie nun versammelt. Generationsübergreifend, traumatisiert, verprügelt, zerschlagen, ungewollt schwanger. Sie sprechen für diejenigen, die sich bereits das Leben genommen haben. Sie sprechen für diejenigen, die zu verängstigt sind, um eine eigene Meinung zu haben. Und sie sprechen für sich selbst. Für all ihren Schmerz. Für ihre Verwundungen, die verbaute Zukunft, aber auch die Werte, für die sie bisher tapfer gekämpft haben. Alle Meinungen sind vertreten. Mord, Rache, Vergebung, Schweigen. Jede Option wird beleuchtet und erbittert diskutiert. Es gibt keinen Königsweg, für den sich die Frauen entscheiden können. Jedes Ergebnis der „Aussprache“ beinhaltet sehr schmerzliche Konsequenzen. Bis hin zum Zurücklassen der eigenen Söhne, die zu alt sind, um ihnen zu folgen. Sollten sie es denn wagen, zu fliehen.

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Miriam Toews seziert mit den Gedanken dieser Frauen jedes Wort. Was bedeutet Vergebung. Ist das Gehen mit Flucht gleichzusetzen? Was ist man selbst wert? Ist man Tier oder Mensch? Was bedeutet Zukunft? Wer trägt Verantwortung und was bedeutet der Glaube an ihre orthodoxe Religion? Machen sie sich schuldig, wenn sie den Tätern nicht vergeben? Werden sie exkommuniziert, wenn sie gehen? Was geschieht mit ihrer Familie, wenn sie bleiben? Die Allmacht der Männer ist fühlbar. Ihre Abwesenheit kann nur kurz zum Durchatmen genutzt werden. Entscheidungen müssen her. Miriam Toews zermalmt jeden Hoffnungsfunken in den widerstrebenden Argumenten. Hier sind Mütter und Töchter in ihren Bildern so gefangen, dass es nicht um Emanzipation geht. Es geht ums nackte Überleben.

Die kanadische Autorin mit mennonitischen Wurzeln lässt in ihrem Buch Frauen zu Wort kommen, deren Zukunft durch ein allmächtiges Patriarchat zerstört wurde. In größter Not wagen sie daran zu denken, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Es ist allzu schmerzhaft, diesen Diskussionen zu folgen. Es ist schmerzhaft, Empathie zu empfinden, weil sie ein vernichtendes Gefühl der Wertlosigkeit aufkommen lässt. Es ist ausweglos, mir vorzustellen, was ich fühlen würde. Was Miriam Toews hier im Großen entfaltet wird zum ganz individuellen Leidensweg, der besonders in der Figur von Ona sichtbar wird. Schwanger von einem der Täter. Nervlich am Ende. Unbrauchbar für die Gemeinde und doch eine so warmherzige, zutiefst liebende und Stärke ausstrahlende Frau, dass man sie lesend eigentlich dauernd im Arm halten möchte. Dafür jedoch ist Ona Friesen zu stolz!  

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Die Aussprache von Miriam Toews

Die Relevanz dieses Romans unterstreicht Miriam Toews mit einem literarischen Schachzug der Meisterklasse. Sie lässt die Aussprache von einem Mann zu Protokoll bringen. Ein Rückkehrer in die Kolonie. Ein Ausgestoßener. August Epp. Aus Sicht der anderen Männer ein „Halbmann“. Untauglich für die Landwirtschaft. Hier jedoch brilliert er als Mediator und Moderator. Seine Anwesenheit versöhnt mit einem Patriarchat, das aus der Zeit gefallen ist. Seine Impulse und Gedanken machen ihn zum Spiegelbild der Männerwelt, wie sie sein könnte. Der Grund für seine Anwesenheit wird erst zum Ende der Aussprache klar. Ein ganz feiner literarischer und emotionaler Moment, der beweist, dass man manchmal die Flinte ins Korn werfen muss, um eine Zukunft für sich und die Menschen zu gestalten, die einem am Herzen liegen. Wahre Größe…

In Zeiten der MeToo-Debatte und dem um sich greifenden Missbrauch gegenüber Frauen zeigt dieser Roman, dass es immer die von Männern gestalteten Umstände im Leben sind, die den Weg zur Machtausübung ebnen. Brandaktuell lässt uns die Autorin mit dem Gefühl zurück, dass jede moderne Gesellschaft mennonitische Dogmen pflegt. Selbst eine kleine Familie kann zu einer Kolonie werden, in der sich eine Frau zu fügen hat. Unvorstellbar und doch beginnt der Missbrauch im Kleinen. Mit Worten, sprachlich ungenauen Begrifflichkeiten, verbalen und deshalb sehr psychischen Verletzungen. Mit Abwertung und zuletzt mit Gewalt und Zwang. Hier würde jedem Mikrokosmos Familie ein gezielter Blick auf den Makrokosmos „Kolonie“ weiterhelfen. Ob Religion, Ideologie oder gesellschaftliche Dogmatik. Die Mechanismen sind vorhanden. Die Automatismen folgen. Und wenn man bei Frauen keinen Erfolg hat, dann nimmt man sich Kinder. Wie es der systematische Missbrauch in der katholischen Kirche eindrucksvoll beweist. Lest „Die Aussprache“. Eines der wohl relevantesten Bücher des Jahres.

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Die Aussprache von Miriam Toews

Viele verlorene Mädchen finden sich in „Die Aussprache“. Ein wichtiges Thema für mich. Besucht meine Literatursammlung zu den Lost Girls der Gesellschaft

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Die Aussprache von Miriam Toews und die verlorenen Mädchen