Alessandro Baricco – „Die junge Braut“

Die junge Braut von Alessandro Baricco

Was habe ich nicht schon alles mit Alessandro Baricco erlebt! Ich bin mehrmals in meinem Leben mit ihm nach Japan gereist, um Seidenraupen zu erstehen, obwohl mir völlig klar war, dass die Augen eines jungen Mädchens der eigentliche Grund für diese Fluchten war. Ich habe mit ihm ein Schiff betreten, auf dem ein Ozeanpianist die Musik neu erfand und sich doch nicht traute, jemals an Land zu gehen. Ich habe mit ihm und einem gewissen Mr. Rail kilometerlange schnurgerade Eisenbahnstrecken konstruiert, um der Lokomotive Elisabeth im Land aus Glas die größtmögliche Geschwindigkeit zu ermöglichen. Ich habe mich in einer Pension am Oceano Mare eingemietet, um einen Maler zu beobachten, der das Meer täglich mit Ozeanwasser zu malen beginnt. Ich war Zeuge einer legendären Boxkampf-Reportage in einer City, die sich jeder literarischen Kategorie entzog. (Weiterhören…: hier)

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Ich konstruierte mit ihm eine Autobahn, die nur den Sinn hatte, einen Lebensweg in die Landschaft zu kopieren, um eine verlorengeglaubte Prinzessin wiederzufinden. Ich listete mit Mr. Gwyn genau 52 Tätigkeiten auf, die er fortan nicht mehr zu tun gedachte um sich auf seine neue Profession vorzubereiten. Portraits zu schreiben. Ich stürzte vor den Augen der Geschäftsfreunde Smith & Wesson in einem Holzfass die Niagarafälle herab, nur um am Ende jenes freien Falls mit einer Schießbude über die Jahrmärkte in den Dörfern zu ziehen. Ich zog mit ihm durch unzählige einzigartige Welten, begegnete dabei Romanfiguren von einer literarischen Strahlkraft, die ihresgleichen sucht, befreite mich vom strukturierten Denken und erweiterte meinen Horizont und hielt mich oftmals an Worten fest, die durch ihn einen völlig neuen Sinn erhielten. Ich sehe heute noch mit meinem geistigen Auge Grabsteine, die nur die Inschrift „Ach“ tragen, denke oft an ein leeres Schmuckkästchen, das die Rückkehr eines geliebten Ehemannes ankündigt und weine still vor mich hin, wenn ich die Zeilen „Komm zurück Fremder, oder ich sterbe“ lese.

Die junge Braut von Alessandro Baricco

Ich habe in, durch und neben seinen Romanen junge Mädchen kennengelernt, die mein Leben verändert haben, und kann mich mit jeder Faser meines Herzens an jeden Satz aus seiner Feder erinnern, der meinen eigenen Weg so treffend beschreibt. Jedes neue Buch von Alessandro Baricco erscheint mir wie ein Schatz, den ich vielleicht gar nicht verdient habe. Jedes neue Buch aus seinem kreativen Gedankenatelier stellt eine Herausforderung für mich dar, der ich aktiv gerecht zu werden versuche. Dabei sind mir seine Stilmittel inzwischen so vertraut, dass ich einen Baricco hundert Kilometer gegen den Bücherwind erkenne. Seine Listen und Aufzählungen sind geradezu legendär. Die Melodie seiner Geschichten gleicht avantgardistischen Kompositionen, die niemals nur Schlager sind, immer jedoch unvergessliche literarische Ohrwürmer voller Tiefgang.

Mit zitternder Hand und pochendem Herzen betrachtete ich sein neues Buch Die junge Brautsehr lange, bevor ich es wagte, die heiligen Hallen seines Schreibens zu betreten. Ehrfürchtig und auf wirklich alles gefasst, erinnerte ich mich an jene Momente meines Lebens, die durch seine Romane geprägt wurden. Sollte dies auch einer dieser magischen Augenblicke werden? Sollte mir auch hier ein Mädchen begegnen, dem ich lebenslang verfalle? Sollte ich auch in diesem Buch Zitate entdecken, die ich in meinen Notizbüchern der wichtigsten Zitate meines Lebens eintragen würde? Sollte es so sein, wie es immer war? NEIN… Diesmal war es anders.

Die junge Braut von Alessandro Baricco

Romane von Alessandro Baricco entziehen sich für mich jeglicher Norm für eine Rezension im eigentlichen Sinne. Ich mag nicht über den Inhalt schreiben, weil sich gerade diese kreativen und ungewöhnlichen Geschichten für jeden geneigten Leser in einer ganz eigenen Art erschließen. Darüber hinaus entfalten sie ihre Wirkung in einer literarischen Dynamik, die es anschließend wenig sinnvoll erscheinen lässt, sie auf den kleinsten gemeinsamen inhaltlichen Nenner zu verdampfen. Für mich gilt es hier meine Gefühle zu beschreiben, meinen Assoziationen freien Lauf zu lassen und festzuhalten, wie mir „Die junge Braut“ auch noch in zehn Jahren in Erinnerung bleiben wird. Wenn es mir dann gelingen sollte, die pure Neugier auf diesen Roman zu wecken, ohne dabei vorwegzunehmen, was zwingend vorenthalten bleiben muss, dann bin ich wahrlich der glücklichste Literaturblogger der Welt.

Wenn mein Blick in einigen Jahren auf dieses Buch fällt, dann werden Bilder in mir lebendig, die sich schon nach wenigen Stunden in meinem Herzen eingebrannt haben. Wenn ich dann an diesen Buchtitel denke, werde ich mich auch daran erinnern, warum dieser Roman so anders ist, als all die zuvor gelesenen von Alessandro Baricco. Dann werde ich an Begegnungen in der Geschichte denken, die mich nicht mehr losgelassen haben und ich werde erneut zu Gast im wohl ungewöhnlichsten italienischen Haushalt sein, der mir in meinem Lesen bisher begegnet ist. Und ich werde erneut nachdenken, warum mir das Originalcover (das in allen anderen europäischen Ländern das Buch ins Auge des Betrachters rückt) besser gefällt, als die augenlose Silhouette der deutschen Ausgabe von Hoffmann und Campe. Vielleicht ist es so, weil „Die junge Braut“ in jeder Beziehung der bisher erotischste und obsessivste Roman des italienischen Autors ist.

Die junge Braut von Alessandro Baricco

Ja, sie scheint auf den Mund reduziert zu sein: Die Junge Braut. Für mich jedoch wird sie immer mehr als das sein, obwohl diese Fokussierung der Geschichte sehr wohl entspricht. Namenlos ist das Mädchen, versprochen und zur Hochzeit bereit, als sie im Haus der Familie ihres Bräutigams erscheint. Namenlos ist auch die Überraschung, da man augenscheinlich nicht mit ihrem Erscheinen gerechnet hat. Alles ist verabredet, es könnte so einfach sein und eigentlich sind alle da: Die unfassbar schöne Mutter, deren Ausstrahlung einem geheimen erotischen Universum gleicht; der herzkranke Vater, der gar kein Vater ist; die Tochter des Hauses, die nur im Sitzen oder Liegen schön ist und der Onkel, der sich in einem Zustand des Dauerschlafens befindet . Einzig der Verlobte fehlt. Spurlos fast. Ein Telegramm soll helfen. Doch was nur tun mit der jungen Braut?

„So wurde sie ein Teil des Hauses, und dort, wo sie sich in ihrer Vorstellung als Ehefrau hatte eintreten sehen, fand sie sich jetzt als Schwester, Tochter, Gast, willkommene Anwesenheit und Dekoration.“

Niemals werde ich diesen Haushalt vergessen. Niemals jene vier Regeln, die für das komplexe und immer gleich verlaufende Leben seiner Bewohner stehen. Regeln, deren tiefer Sinn nur darin zu bestehen scheint, die Ängste der Familie im Zaum zu halten. Es fällt der jungen Braut schwer, alles zu begreifen, sich auf alles einzulassen und letztlich auch zu warten, bis der Sohn zurückkehrt, sollte dies je der Fall sein. Unvergessen, die Zeichen für sein baldiges Erscheinen. Unvergessen das erotische Knistern, das von der jungen Braut Besitz ergreift und tief in mein Herz gebrannt die Irrwege, denen sie folgt, um ihr Ziel zu erreichen. Zu viel hat es sie gekostet, hier zu sein. Zu viel hat sie riskiert. Unvorstellbar, wenn es jetzt nicht zur Ehe käme. Alles wäre verloren.

Die junge Braut von Alessandro Baricco

Ich sehe die junge Braut, ihren Mund und ihre schlanke Figur noch immer durchs Haus schleichen. Ich fühle alle Berührungen, die sie erfährt und die sie gewährt. Ganz beiläufig scheinbar nähert sie sich den großen Geheimnissen der Familie. Sie wird mit allen vertraut und doch gelingt das Trauen nicht, weil einer fehlt. Der rote Faden einer obsessiven Leidenschaft zieht sich durch diesen Roman wie die Spur einer erotischen Selbstzerfleischung. Jede Flucht, jeder Hauch und jede Berührung öffnen einen neuen Zugang, neue Perspektiven auf die Geschichte und geben Anlass für Spekulationen. In diese inhaltlich dichte Atmosphäre dringt von Seite zu Seite ein in literarischer Hinsicht anarchisch wirkender Aspekt in den Vordergrund. Wer erzählt hier eigentlich? Warum wechselt die Erzählstimme plötzlich vom neutralen „sie“ ins persönliche „ich“?

Mit einem Donnerhall der Erkenntnis reift im Leser ein Gedanke, was Alessandro Baricco hier wagen könnte. Eine erste Spur, ein leises Aufflammen eines Gedankens und dann die Wucht des Erkennens sind Wesensmerkmale des Lesens. Jemand dringt ins Innerste des Buches ein und bemächtigt sich unserer Seele. Aus einer Geschichte werden zwei und aus zwei Geschichten wird die Eine, die es zu erzählen gilt. Nur diese eine Geschichte zählt. Es ist die Geschichte wahrer Leidenschaft, des Wartens und der Opferbereitschaft für die Liebe eines Lebens. Für mich wird sie dies immer bleiben. Und doch beginne ich so langsam zu begreifen, was ich eigentlich gelesen habe. Es ist ein ganz besonderes literarisches Momentum, das ich jedem Leser ans Herz legen mag.

Wer mit seinem Herzen liest, der muss sich auf Alessandro Baricco einlassen. Es ist nie zu spät für einen neuen Baricco, es ist nie zu spät für den ersten Baricco.

Die junge Braut von Alessandro Baricco

Wie unterschiedlich und doch vergleichbar das Lesen von Baricco ist, kann man bei Bianca & Literatwo sehen. Wir haben gemeinsam stundenlang mit der Familie im Haus gefrühstückt, sind der jungen Braut durch die Geschichte gefolgt, haben Zitate in Hülle und Fülle gesammelt um sie ins Notizbuch unseres Lebens einzutragen. Wir sind in den Kern einer großen Geschichte vorgedrungen und doch zeigt ihre Rezension, wie unterschiedlich unsere Empfindungen am Ende des gemeinsamen Lesens sind. Genau in diesem Unterschied liegt das Geheimnis dieses Romans verborgen. Man empfindet ihn aus den unterschiedlichsten Gründen als Meisterwerk. Wagt es selbst…