„I SAW A MAN“ von Owen Sheers [Buch und Hörbuch]

I SAW A MAN - Owen Sheers

I SAW A MAN – Owen Sheers

I SAW A BOOK. Ich sah ein Buch. Ich sah ein Cover, das mich faszinierte und anzog, wie die Motte vom Licht angezogen wird. Ein dämmriger Flur, eine angelehnte Tür und ein verheißungsvolles warmes Leuchten im Türspalt. Es gleicht einem Lesereflex, sich diesem Buch gegenüber so zu verhalten, wie man sich dieser Tür im wahren Leben nähern würde. Aus der Dunkelheit ins Licht. Öffnen. Vielleicht zart und leise, vielleicht aber auch mit Wucht. Egal. Ich musste einfach rein! In den Raum hinter der Tür. In die Geschichte hinter dem Cover. In das Buch, das ich sah.

I SAW A MAN. So der Titel eines Romans aus der Feder von Owen Sheers, auf den ich bereits während der Frankfurter Buchmesse aufmerksam gemacht wurde. Und dies gleich in doppelter Hinsicht. Wurde er doch bei DVA als spannungsgeladener Roman über die fatalen Folgen eines einzigen schicksalhaften Moments angekündigt, während Der Hörverlag den grandiosen Devid Striesow in seiner Hörbuchfassung als Sprecher ankündigte. Schnell stand für mich fest, dass ich diese Tür gleich doppelt aufstoßen wollte. Lesend und hörend. Mit allen Sinnen.

Doch womit hatte ich es zu tun? Was wartete hinter der Tür auf mich und wer ist der Mann, auf den sich der Titel bezieht? Ist es ein Familien- oder Beziehungsdrama? Eine Geschichte über Verlust und Trauer? Ein Thriller? Ich war völlig offen und begab mich ohne jegliche Erwartungshaltung in den Flur, näherte mich der angelehnten Tür, legte meine Hand vorsichtig auf die Türklinke und zuckte noch kurz zurück. Konnte ich mich auf den Klappentext verlassen? War die Ankündigung in den Verlagsvorschauen zuverlässig?

I SAW A MAN - Owen Sheers

I SAW A MAN – Owen Sheers

Warum fand ich plötzlich auf der Buchseite von DVA Tags wie Moderner Krieg und Drohnenangriff? Wie passte das zusammen? Ich wurde zunehmend nervöser, als ich den Raum hinter der geheimnisvollen Tür lesend und hörend betrat. Vorsichtig, mich herantastend und staunend, was mich wirklich erwartete. Es war kein Zimmer. Keine Wohnung und kein begrenzter Raum, die sich mir öffneten. Es war die globalisierte Welt, die mich aufzusaugen begann und mich förmlich inhalierte.

I SAW A MAN entzieht sich den Regeln der leichten Kategorisierung. Der Roman verweigert sich den bekannten Schubladen, weil Owen Sheers zu facettenreich denkt, konstruiert, schreibt und fühlt. Dieses Buch ist nicht zu fassen, wenn es darum geht, ihm einen Stempel aufzudrücken. Damit würden wir es uns leichter machen, als es die Story verdient hätte. Schmeißt eure Schubladen über Bord, werft das Schränkchen weg, das sie umgibt und betretet eine Welt, in der ein Ereignis in Pakistan das Leben von Menschen in Las Vegas und London für immer verändert.

Betretet eine Welt, in der Schicksal keine regionale Bedeutung hat und in der wir machtlos Ereignissen gegenüberstehen, die wir sonst nur aus den Nachrichten kennen. Wohl behütet. Im Warmen. Und doch… Ein einziger losgetretener Stein in der Ferne kann eine psychologische Kettenreaktion erzeugen, die plötzlich an unsere Tür klopft. Oder, wie in diesem Roman, diese einfach mit aller Wucht eintritt und damit aus den Angeln hebt.

I SAW A MAN - Owen Sheers

I SAW A MAN – Owen Sheers

„I SAW A MAN“ – Ein Roman wie ein Überfallkommando. Ein Pageturner von Format und doch zugleich ein psychologisches Puzzlespiel aus unterschiedlichen Szenarien und Schauplätzen, die sich in einem Menschen zu dem roten Faden vereinen, der alles miteinander verbindet. Er ist das Auge eines Orkans, der zum selbstzerstörerischen Taifun mutiert. Er ist dem Schicksal ausgeliefert und wird selbst zum Schicksal.

Michael und Caroline verbindet vieles. Die Lust zu schreiben, die Leidenschaft, den wahren Geschichten des Lebens auf die Spur zu kommen und investigativ Wahrheiten ans Licht zu bringen, die sonst verborgen blieben. Und doch unterscheidet sie auch vieles. Während Michael diese Wahrheiten literarisch aufarbeitet und als Schriftsteller zu Büchern verdichtet, bewegt sich seine Frau rein journalistisch an vorderster Front.

Als Caroline bei einer Reportage in Pakistan ums Leben kommt zieht sich Michael aus dem gemeinsamen Haus zurück. Zu viel erinnert ihn, zu viel verbindet ihn, zu sehr spürt er den Verlust eines nicht gelebten gemeinsamen Lebens. Zu intensiv ist seine Trauer und zu eruptiv ist die Erschütterung, die sein Leben in die Abschnitte „Vor“, „Mit“ und „Nach Caroline“ aufteilt. Ein Neubeginn in London, eine kleine Wohnung und der Versuch, sich selbst zu finden definieren den Wendepunkt seines Lebens.

I SAW A MAN - Owen Sheers

I SAW A MAN – Owen Sheers

Die unverhoffte, jedoch umso selbstverständlichere und herzliche Bekanntschaft zu seinen neuen Nachbarn verhilft ihm zu einer Atempause vor dem Schrecken der Einsamkeit. Josh und Samantha Nelson öffnen ihm ihre Tür, sie bieten Freundschaft, wo sonst Leere ist und ermöglichen ihm unbeschwerte Stunden im Kreise der kleinen Familie. Michael findet seinen Halt wieder, besonders im unbefangenen Umgang mit den beiden Töchtern der Nelsons. Kinder.

Ein Leben, das er selbst nicht mit seiner Frau führen durfte. Kinder, die sie nie bekommen hatten. Eine Familie, die er nie haben würde. Ohne diesen Halt hätte er wohl die Haftung verloren und die Nelsons sind dankbar für den Freund von außen, der ihre Probleme und Sorgen in eine gemeinsame Schwerelosigkeit verwandelt, wenn sie sich auf ihre die Werte ihrer Freundschaft konzentrieren. Es könnte ewig so weitergehen, es hätte Perspektive, es wäre einfach zu gut gewesen für alle.

Wäre nicht dieser Tag gewesen, an dem das Haus der Nelsons eine Anomalie aufwies. Eine lediglich angelehnte Hintertür. Die Sorge von Michael, ob im Haus alles in Ordnung sei. Der fürsorgliche Schritt über die Schwelle, der Schritt in den Flur, die vergeblichen Rufe nach seinen Freunden und eine weitere Tür, die Michael magisch anzieht. Er fühlt etwas Verstörendes, etwas Vertrautes, etwas so sehr Vermisstes und stößt sie auf.

Und so wie der Tod von Caroline sein Leben für immer verändert hat, verändert dieser eine Griff an die Türklinke nicht nur sein Leben erneut, sondern auch das seiner Freunde. Nachhaltig und für immer. Er tritt eine verhängnisvolle Ereigniskette los, die unumkehrbar scheint. Ein Wettlauf um die Wahrheit, ihre Verleugnung und das Leben mit Schuld beginnt. Ein Wettlauf gegen das Schicksal. Ein Rennen, das nur einen Sieger kennt. Die Wahrheit.

I SAW A MAN - Owen Sheers

I SAW A MAN – Owen Sheers – Bild – Peggy Steike – Atelier für politische Malerei

Owen Sheers macht es sich nicht leicht mit Begriffen wie Schicksal, Fügung und Unfall. Er nennt Ross und Reiter, wenn er die literarischen Ereignisketten im globalen Erzählraum lostritt, die in eruptiven Wellenbewegungen auf verschiedenen Kontinenten zu spüren sind. Owen Sheers verleiht diesem tragischen Zufall Gesicht und Kontur. Das namenlose Grauen der modernen Kriegführung wird scharf konturiert gezeichnet. Die psychologische Situation eines Soldaten, der seine Feinde ferngesteuert liquidiert, wird greifbar.

Eine Drohne, eine Rakete, ein Ziel. Ein Kontrollraum in der Nähe von Las Vegas. eine Mission in Pakistan. Eine Entscheidung und ein ziviles Opfer unter den Toten. Ein Opfer auf dem virtuellen Schlachtfeld gegen den Terror und die Schockwelle, die das Leben von Michael verändert. Caroline. Zerfetzt. Und ein Soldat, der quasi von zuhause aus durch einen Schuss in Pakistan die Zukunft in London verändert.

Ein verzweifelter Ehemann, der auf der Suche nach sich selbst seinen eigenen Täuschungen erliegt und alles dabei verliert, was er nur verlieren kann. Ein Fehler, eine falsche Entscheidung und er wird selbst zu einem Menschen, dessen Gewissen eine Schuld auf sich lädt, die nicht mehr zu tilgen ist. Drei Schauplätze. Drei schicksalhafte Ereignisse, die augenscheinlich nichts miteinander zu tun haben und doch für den Tod eines weiteren Menschen verantwortlich sind. Zufall? Schicksal? Nein – Owen Sheers.

I SAW A MAN - Owen Sheers

I SAW A MAN – Owen Sheers – Mit einem Klick zum ungekürzten audible-Hörbuch

Ein psychologisches Meisterstück. Eine tiefe Charakterzeichnung voller Emotion und Schwäche. Die Verkettung von Ereignissen, auf die man keinen Einfluss hat und die Flucht vor der Wahrheit sind Eckpfeiler der Story. Fassadenkletterer an der Häuserfront des eigenen Lebens sind die Charaktere dieses fulminanten Pageturners. Und in der gelungenen Hörbuch-Adaption brilliert Devid Striesow in seiner Rolle des neutralen Erzählers und Betrachters. Doch wird es auch sein Schicksal sein, dass er diese Rolle aufgeben muss.

Eine Story voller Wendepunkte und mit allen Zutaten, die uns ans Buch fesseln oder die Pausetaste eines CD-Players vergessen lassen. Striesow liest etwas mehr als sieben Stunden. Eine leicht gekürzte Lesung. Länger braucht der Leser auch nicht. Was Hörer und Leser am Ende gemeinsam haben? Einen unglaublichen Moment, der uns alle schlagartig blättern und zurückspulen lässt. Brillant.

Globalisierung kennt keine Grenzen. Die menschliche Psyche kennt keine Grenzen. Dieser Roman kennt keine Grenzen. Ihr müsst entscheiden, ob ihr die Tür öffnet. Ihr müsst wissen, ob ihr bereit seid für I SAW A MAN. Ich war es. Ich bin gespannt, wie ihr die letzten Zeilen im Roman oder die letzten Sätze von Devid Striesow empfindet. Ich würde euch gerne dabei in die Augen schauen. Wirklich gerne.

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PS: Die Macht der Bilder, die Anonymität des Krieges und ihre Auswirkungen auf völlig Unbeteiligte ist einer der Schwerpunkte des Schaffens der politischen Malerin Peggy Steike. Zu ihrem Zyklus: Schonungslose Einsichten einfach dem Link folgen.

PPS: Immer wieder bemerkenswert, was sich nach dem Lesen und dem Hören in der weiten Welt des Internets ereignet. Und besonders schön, wenn sich Empfehlungen in wundervollen Rezensionen niederschlagen:

„I SAW A MAN“ auf dem QUODLIBET – HÖRBUCHBLOG