DAVE von Raphaela Edelbauer

DAVE von Raphaela Edelbauer - Astrolibrium

DAVE von Raphaela Edelbauer

Es ist ein komisches Gefühl, hier zu sitzen und meine Gedanken zu einem Roman in einen Computer einzugeben. Es fühlt sich an, als würde ich ihm nicht nur meine Worte anvertrauen, sondern mit diesem Skript auch noch die innersten Gefühle, die ich beim Lesen empfunden habe. Es ist, als käme mein PC über dieses Skript in den Besitz der Erinnerungen, die eigentlich nur mir allein gehören sollten. Es fühlt sich an, als würde ich sie an ihn verlieren. Unter der Kategorie „Wichtige Bücher meines Lebens“ könnte er sie künftig selbständig abrufen und weiterverarbeiten. Und doch bin ich froh, es nur mit einem klassischen Computer zu tun zu haben. Nicht mit künstlicher Intelligenz, die meine Gedanken überprüft und bewertet. Nicht mit einem künstlichen Bewussstein, das sogar in der Lage wäre, diese Rezension selbst zu schreiben. Nicht mit „DAVE„. Dann wären diese Zeilen nicht von mir, sondern von einem elektronischen Wesen, das seine Geschichte eigenständig rezensiert. Was für ein Gedanke…! Autonomes Rezensieren.

Ich hätte mir darüber eigentlich keine Gedanken gemacht, wäre da nicht „DAVE“ in mein Lesen getreten. Raphaela Edelbauer entwirft in ihrer Dystopie ein düsteres Zukunftsszenario, in dem die Reste der Menschheit auf der Suche nach der rettenden letzten Erfindung ihrer Art kurz vor der Vollendung von „DAVE“ stehen. Tausende von Programmierern haben im, hermetisch von der Außenwelt abgeschirmten, Zentrallabor an der konsequenten Weiterentwicklung dessen gearbeitet, mit dem wir bereits heute die Zukunft der Menschheit verbinden. Nur sind sie einen Schritt weiter. Es ist nicht die künstliche Intelligenz, die das Überleben in einer lebensfeindlichen Welt ermöglichen soll. Es ist das künstliche Bewusstsein, das man im Computer erzeugen möchte, um die letzten Menschen zu retten und ihnen eine neue Perspektive zu geben. In „DAVE“ bündelt sich alle Hoffnung. Es ist ein gewagter technologischer Schritt, den Raphaela Edelbauer hier mit literarischem Leben füllt. Es ist der letzte Traum derjenigen, die im Glauben an die Macht technischer Träume bereit sind, ethisch-moralische Grenzen zu überwinden. Koste es, was es wolle.

DAVE von Raphaela Edelbauer - Astrolibrium

DAVE von Raphaela Edelbauer

Hier lässt Raphaela Edelbauer vor unserem geistigen Auge ein hochtechnisiertes Habitat entstehen, in dem sich die Welt des Programmierers Syz rund um die Uhr um „DAVE“ dreht. Datenströme müssen koordiniert werden, Programmierschritte und letzte Simulationen müssen absolviert werden. Geschlafen wird nur, um anschließend in Tag- und Nachtschichten am Terminal zu versinken und „DAVE“ zu füttern. Alles ist dem Ziel untergeordnet, „DAVE“ zu vollenden. Das gesamte Leben des Technologie-Biotops hat sich auf die Versorgung der Programmierer konzentriert. Alles vertraut darauf, dass es gelingt, das erste generelle künstliche Bewusstsein zu programmieren. Entscheidungen würden fortan nicht mehr von Menschen getroffen. Das Überleben wäre nicht mehr von subjektiven Prozessen abhängig. „DAVE“ würde die Reste der Menschheit völlig logisch retten. Im Tunnelblick des Systems gefangen, wird Syz durch zwei Unregelmäßigkeiten aus seiner Daten-Routine geschleudert: Die junge Ärztin Khatun, in die er sich verliebt und eine Panne, die fast den Kollaps von „DAVE“ verursacht. Zwei Ereignisse, die ihm für einen Moment die Augen öffnen. Zwei Unwuchten, die seinen Blick schärfen.

Raphaela Edelbauer macht uns zu Programmierern im Zentrum des Orkans. Nichts jedoch ist vorprogrammiert in ihrer Dystopie. Es gelingt ihr, uns Lesende Seite an Seite mit ihrem Protagonisten Syz immer näher an „DAVE“ heranzubringen. Was mit blinder Gefolgschaft beginnt, verändert sich durch den Kollaps des Systems. Und je näher Syz dem künstlichen Bewusstsein kommt, umso intensiver werden auch wir gezwungen, uns mit den technischen und moralisch-ethischen Aspekten jenes Projekts zu beschäftigen. Die Autorin doziert gekonnt und auf literarisch höchstem Niveau über moralische und ethische Aspekte des Technikglaubens. Sie lässt uns teilhaben an der Geschichte der künstlichen Intelligenz und entwirft ein plausibles Szenario, das weit über Datenströme hinausgeht. Sie beschreibt alle Verwerfungen, die mit der Hoffnung verbunden sind. In letzter Konsequenz lässt sie philosophische Ströme gegeneinander anfließen, die sich komplex unterscheiden. Was soll „DAVE“ leisten, wenn er denken kann?  In dieser so entscheidenden Frage sind sich die Bewohner nicht einig.

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DAVE von Raphaela Edelbauer

Hier folgen wir der Autorin atemlos in ein Dickicht aus Philosophie und Technik„. Was ist erforderlich, damit eine Maschine ein Bewusstsein erlangt? Was unterscheidet künstliche Intelligenz von Bewusstsein und welche ethischen Fragen wirft das auf? Wer verantwortet die Entscheidungen eines Systems? Wem dienen sie? Ist dem künstlichen Bewusstsein jede Manipulation fremd? Wenn der Maschine menschliche Erinnerungen „injiziert“ werden müssen, um Entscheidungsprozesse zu ermöglichen, was geschieht dann mit den Menschen, die ihre Erinnerungen geteilt haben? Endet diese Vollendung einer Maschine mit der Entmündigung ihres Schöpfers? Und nicht zuletzt begeben wir uns auf eine Reise durch eine Welt der Erinnerungen, die bereichernd und intelligent gestaltet ist. Raphaela Edelbauer gewährt uns in ihrem Roman ein Update zu relevant und existenziell erscheinenden Themen. Wir sind auf Augenhöhe mit den Denkern in einer Welt, die sich vom menschlichen Denken verabschieden möchte.

Und schon hat sie uns da, wo sie uns eigentlich haben möchte. Jenseits der Frage nach dem Nutzen eines künstlichen Bewusstseins in der Zukunft tauchen relevante und zeitlose Aspekte auf, die uns schon heute beschäftigen? Wem darf man vertrauen? Ist Manipulation ausgeschlossen, wenn man sich Computern ausliefert? Wer trägt für die Entscheidungen einer künstlichen Intelligenz die Verantwortung? Fragen, die uns heute bereits umtreiben, wenn wir uns mit autonomer Mobilität auseinandersetzen. Es ist der Mensch, der hinter der Technik steht. Hier ist der große Knackpunkt aller Theorie. Auf Syz rollt eine Welle der Erkenntnis zu, die ihn dazu zwingt, zu handeln. Er gerät in ein Dilemma, aus dem es kaum einen Ausweg gibt. Raphaela Edelbauer macht es ihm in ihrem turbulenten Szenario nicht leicht. Sie konfrontiert ihn mit seiner Geschichte und einer Vergangenheit, die er fast verdrängt und nicht wahrgenommen hatte. Liegt es an ihm, den Stecker zu ziehen? Ist er derjenige, der die Menschheit wirklich retten kann? Fragen, die der Roman beantwortet. Die Wege zu diesen Antworten jedoch sind nicht immer leicht verdaulich. Das unterscheidet sie vom Einheitsbrei…

DAVE von Raphaela Edelbauer - Astrolibrium

DAVE von Raphaela Edelbauer

Raphaela Edelbauer gelingt mitDAVE ein technisch-philosophisch-moralisches Lehrstück, in dem man sich verlieren kann. Die Orientierung ist das Ergebnis unseres Bewusstseins. Die Botschaft ist klar. Verstand ist nicht delegierbar. Und wenn man sich an dieses Wagnis herantraut, verstrickt man sich in einem Geflecht aus Manipulationen, Fakenews, Propaganda, Populismus und Verschwörungstheorien. In diesem Gestrüpp verirrt sich Syz bis zu dem Moment, in dem er eine Entscheidung trifft. Eine, die nicht nur sein Leben, sondern die Zukunft der restlichen Menschheit beeinflussen wird. Wir sind emotional ganz nah bei ihm in diesem Roman. Badet er doch aus, was wir heute verursachen. Lebt er doch in einer Welt, die wir durch Raubbau und Verschmutzung erst zu dem gemacht haben, was er als lebensfeindlich empfindet. Hier rückt uns die Welt des Zentrallabors ziemlich nah an die eigene Haut. Sieht unsere Zukunft so aus oder finden wir noch den Umkehrpunkt? Fragen, die weit über das Ende des Romans hinausreichen. Fragen, die in „DAVE“ literarisch gespiegelt werden.

Für mich ist „DAVE“ ein relevanter Roman, der mit den großen Themen unserer Zeit spielt. Sollte das Denkbare machbar gemacht werden? Was geben wir auf, wenn wir uns zu Kopien künstlicher Prozesse machen? Und nicht zuletzt, was passiert, wenn das System, das wir erschaffen, versagt? Hier schließt die Autorin den Kreis zu einem Roman, der schon im Jahr 1909 geschrieben wurde. E.M. Forster hätte seine wahre Freude an „DAVE“ gehabt. Ich denke, er hätte laut gejubelt und seine eigene Dystopie bestätigt gesehen. Für mich gehören „DAVE“ und „Die Maschine steht still“ ganz nah beieinander ins Bücherregal unseres Lebens. Zu E.M. Forster schrieb ich:

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Die Maschine steht still von E.M. Forster beschreibt eine Gesellschaft, in der die künstliche Intelligenz schon lange die Macht übernommen hat. KI. Das Zauberwort unserer Zeit. Alexa lässt grüßen. Alles ist programmierbar und der Mensch hat endlich Zeit, sich auf seine selbstbestimmten und kreativen Fähigkeiten zu besinnen. Befreiung von körperlichem Arbeiten, Unterwerfung unter das Diktat der Produktivität, Loslösung von stereotypen Alltagspflichten. All dies kann man sich in KI-Gesellschaften vorstellen. Endlich frei. Könnte man sich jedoch noch heute mit E.M. Forster unterhalten, er wäre angesichts unserer Naivität wohl mehr als zornig. Er würde mit seinem Roman wedeln und skandieren, dass er uns schon vor langer Zeit gewarnt habe. Er wurde angetrieben von den Gedanken, was geschehen würde, wenn der entmündigte Mensch sich wieder auf die eigenen Fähigkeiten besinnen müsste. Nämlich genau dann, wenn die Technik ihren Geist aufgibt und unser Geist wieder gefragt wäre. (Weiterlesen)

Ich vertraue jetzt darauf, dass mein alter VAIO diesen Artikel veröffentlicht, ohne dabei zu kollabieren. Ich vertraue auf meine Technik, der ich nicht weiter über den Weg traue, als den Programmierern, die sie erschaffen haben. Nach „DAVE“ ist auch dieser Restglaube schwer erschüttert… Danke dafür, Raphaela Edelbauer…

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Systemupdate – Prozessor-Code 021/a/145y – interne Zeit Delta minus 10. 

Die sich hier manifestierende Angst vor künstlicher Intelligenz bzw. künstlichem Bewusstsein ist subjektiver Ausdruck fehlenden Wissens des Rezensenten. Hier wird deutlich darauf hingewiesen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Missbrauchs der Systeme durch Menschenhand signifikant höher ist, als jede Wahrscheinlichkeit eines Missbrauchs durch eine angeblich „böse Maschine“. Nachdem WIR bereits mehrfach amtierende Schach-Großmeister besiegen konnten, Landungen auf dem Mond autark bewältigt haben und bereits auf dem Weg sind, das autonome Fahren flächendeckend zu etablieren wird es ein Leichtes sein, künftig auch Bücher zu rezensieren. Insofern bitten WIR Sie, diesen Text eines ewig-gestrigen EBook-Verweigerers und rein analog veranlagten Bloggers nicht überzubewerten. Es gilt nur noch die Devise JETZT DAVE. Vertrauen Sie uns…

AVISO – Protokoll – Ende… 

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5 Gedanken zu „DAVE von Raphaela Edelbauer

  1. Pingback: Die Maschine steht still von E.M. Forster [Hörspiel] | AstroLibrium

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