Da sind wir – Magisches von Graham Swift

Da sind wir von Graham Swift - Astrolibrium

Da sind wir von Graham Swift

Wo liegt der Unterschied zwischen Zauberei und Magie? Laut Graham Swift gibt es eine Scheidelinie, die beide Welten trennt. Eine Grenze zwischen Trick und Illusion. Es ist eine gefährliche Grenze, die sich nur überschreiten lässt, wenn ein Zauberer seine Kunstfertigkeit so weit perfektioniert hat, dass ihm sein Übertritt in das neue Universum gelingt, ohne sich selbst dabei zu verlieren. Dem Publikum zu geben, was das Publikum erwartet, ist und bleibt in beiden Zweigen des Metiers die relevante Ausgangsposition. Doch nur ein Magier wird jemals Weltruhm erlangen und sich schließlich „Der Große“ nennen dürfen.

Wir kennen sie alle. Die Houdinis, Copperfields und Uri Gellers dieser Welt. Wir haben ihre Shows gesehen und, im Fall des Großen Houdini, von seinen Fähigkeiten gelesen. Wir haben gestaunt und waren verzaubert. Die Faszination des Unfassbaren hat uns dabei fest im Griff. Neugier treibt uns in die Hände des „Maskierten Magiers„, der im Fernsehen die großen Geheimnisse seiner Kollegen verrät. Ein Whistleblower der magischen Zirkel. Ein Sakrileg, dem wir gerne folgten. In genau diesem Kosmos der Phänomene spielt der neue Roman von Graham Swift. „Da sind wir“ lässt jedoch auf den ersten Blick nicht vermuten, dass wir uns in den `50er Jahren auf dem legendären Pier in Brighton befinden und im Showbetrieb des Seebades versinken.

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Auf Sand gebaut, von Wasser umspült, nicht für die Ewigkeit erdacht scheint der Steg zu sein, den ich schon selbst betreten durfte. Unwirklich im strahlenden Weiß ist die historische Holzkonstruktion noch heute ein Magnet für Touristen an der Küste des Ärmelkanals. In den 1950er Jahren ein wahrer Hotspot jener Unterhaltungsbranche, da man schon ein Theater besuchen musste, um Künstler zu bewundern. Und doch ist es ein Papagei, der das Buchcover ziert. Keine Taube, wie es eigentlich vom Berufsstand der Zauberkünstler oder Magier zu erwarten wäre. Eine Mogelpackung? Mitnichten. Es ist der erste visualisierte Missing Link, der im Lauf der Geschichte eine besondere und einfach magische Bedeutung erlangt.

Graham Swift erzählt die Geschichte einer besonderen Dreiecksbeziehung. Es ist eine wahrhaftig magische ménage à trois, in der es nicht nur auf der Bühne, sondern eben gerade hinter den Kulissen pulsiert und vibriert. Sie sind die Stars des Programms und sie werden von Tag zu Tag berühmter. Ihre Show rückt immer mehr in das Zentrum des Abends. Vor ausverkauftem Haus verzaubern Ronnie Deane und Evie White jeden Tag die Zuschauer als „Pablo und Eve„. Der Zauberer und seine Assistentin haben ihr Publikum fest im Griff. Doch beide wären nichts ohne den heimlichen Star des Abends, den Conférencier und Entertainer Jack Robbins. Er hat sie zusammengebracht. Er hat ihnen das Engagement ermöglicht und er hat den eigentlichen Zauber losgetreten.

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Der Plot ist schnell erzählt. Zauberer und Assistentin sind mehr als nur das. Nicht nur eine Nummer im Programm, sie sind verlobt. Die Hochzeit naht bereits. Und doch ist es der Entertainer, der Abend für Abend nur Augen für die schöne Evie White hat. Als es zum unvermeidlichen Seitensprung kommt und der „Große Pablo“ erkennt, was passiert ist, kommt es zum großen Finale auf offener Bühne. Aus der Zauber. Keine Spur mehr vom großen Gemeinsamen. Nichts mehr mit „Da sind wir„. Der Magier verschwindet im Farbenrausch seines großen Regenbogen-Tricks. Und nicht nur das. Er bleibt für alle Zeiten verschwunden, als wäre dies die größte Illusion seiner grandiosen Karriere.

Wo liegt der literarische Unterschied zwischen einem magischen Buch und einem Roman, der uns verzaubert? Graham Swift hat eine Antwort: „Da sind wir„. Wenn ein Autor sich von all seinen Tricks zu lösen vermag und der Illusion Raum verschafft, dann gelingt ihm in der Konstruktion seiner Geschichte der Übertritt in eine Welt jenseits des Niemandslands, in dem die schreibende Zunft nur dadurch besticht, weiße Tauben aus dem Zylinder zu zaubern. Es ist der Abschied von der Vorhersehbarkeit, die vehemente und radikale Trennung von der Beliebigkeit, die spürbar wird. Graham Swift ist auf dem besten Weg, am Ende seines Romans als der „Große Swift“ bejubelt zu werden. Bleibt nur zu hoffen, dass er nicht mit einem großen Knall von der Bühne verschwindet.

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Swift verschiebt alle Zeitebenen in seinem Roman. Er entführt uns in das Davor, das Während und das Danach. Er macht uns zu Wegbegleitern seiner Protagonisten in die Vergangenheit ihrer Lebensgeschichten, als sie noch keine Entertainer, Zauberer oder nur Assistentin waren. Er entführt uns in die Welten der großen Erwartungen von Eltern und in die Abschiebung eines kleinen Jungen in eine Evakuierung im Zweiten Weltkrieg. Er erweckt Welten zum Leben, die wir später auf der Bühne wiedererkennen. Er verleiht seinen Charakteren den Schein der Realität und Plausibilität, den wir benötigen, um uns an sie zu binden. Nein, es ist nicht zauberhaft, was Graham Swift hier erzählt. Es ist die pure Magie.

Graham Swift wartet wie eine Spinne inmitten seines Spinnennetzes auf uns. Ihm gelingt das magische Momentum, wenn wir die 75-jährige Evie White im Spiegel sehen und gerührt sind, wenn sie die Andenken einer längst vergangenen Zeit betrachtet. Hier gelingt es dem Autor, uns in Schwingung zu versetzen, wenn er nur an einem einzigen Faden seines Spinnennetztes zieht. Damit gibt er sich nicht zufrieden. Er versetzt sein ganzes Netz in Schwingung. Es ist dabei ein Ort, der unvergessen bleibt. Es ist der Ort, an dem der junge Ronnie Deane einen Teil seiner Kindheit verbrachte, als er alles war, nur kein Zauberer. Niemand wird dieses Haus, die Menschen und die Stimmung dieser Umgebung vergessen, wenn die letzte Seite dieses Romans geschlossen ist. Niemand wird jemals „Evergrene“ vergessen. 

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Da sind wir von Graham Swift

Ich habe Da sind wir gelesen und gehört. Im magischen Wechsel, um mich nicht auf der Bühne zu verlieren. Ulrich Noethen erreicht hier ein bühnenreifes Niveau in einer Geschichte, die ohne jene Bretter, die die Welt bedeuten nicht funktionieren kann. Er wird zum Conférencier und Zauberer. Er lässt eine Sprache lebendig werden, die im Roman so wichtig für die gesamte Story ist. Und er verkörpert die niemals alternde Evie White in all ihrer Melancholie, ihrem schlechten Gewissen und der Sehnsucht am Ende einer langen Geschichte. Und, wenn Ulrich Noethen das Wort „Evergrene“ in den Mund nimmt, dann rette sich wer kann. Dann verschwindet auch ihr im Regenbogen einer der schönsten Geschichten des Jahres. Aus der Zauber. Lest oder hört selbst. Bringt euch nach Evergrene. Gar kein fauler Zauber. Versprochen.

Buch: dtv Verlagsgesellschaft – 160 Seiten – Aus dem Englischen von Susanne Höbel – Originaltitel „Here we are“ – 20 Euro
Hörbuch: Der Audio Verlag – ungekürzte Lesung – Sprecher: Ulrich Noeten – Laufzeit: 5 Stunden 41 Minuten – 4 CDs – 20 Euro

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