„Sechs Koffer“ von Maxim Biller

Sechs Koffer von Maxim Biller

Es gibt wohl kaum einen deutschen Schriftsteller, der in der breiten Öffentlichkeit kontroverser aufgenommen wird, als Maxim Biller. Es zieht sich wie ein roter Faden durch seine Lebens- und Literaturgeschichte, dass man ihn einerseits bejubelt und mit einer Sänfte durchs Land trägt, während man ihn gleichzeitig wie eine literarische Sau durchs Dorf treibt. Biller polarisiert. Biller provoziert und Biller weiß alles besser. Seine Auftritte im Literarischen Quartett haben ihn, den Schriftsteller und Erzähler, zu einem Kritiker werden lassen, der die Werke seiner Kollegen in ihre Bestandteile zerlegte und wertete. Das verhärtet die Fronten. Das macht aus einem Autor ein Amphibienfahrzeug im Literaturbetrieb. Schreiben und kritisieren. Ist das miteinander vereinbar? Kann man gleichzeitig fahren und schwimmen? Wie wird dann der neue Roman des Hybriden von jenen aufgenommen, deren Profession das Kritisieren ist und wie leben Kollegen damit, dass er nun den Anspruch erhebt, neutral gesehen und bewertet zu werden?

Es ist, wie es zu erwarten war. Einerseits bejubelt und auf der Sänfte der Shortlist des Deutschen Buchpreises durch die staunende Leserschar getragen, andererseits jedoch genau von jenen in die Tonne geklopft, von denen er als Kritiker stets Alles-oder-Nichts Literatur fordert, die zugleich wagemutig als auch komplex daherkommen soll. Hat hier ein subjektiv als negativ wahrgenommenes Fernseh-Image den Inhalt seines Romans überlagert? Steht Maxim Biller der alte Vorwurf im Weg, er selbst käme nicht mit Kritik zurecht? Ist es Futterneid auf der einen Seite, der zum Verriss tendiert und Verneigung vor einer wichtigen literarischen Stimme auf der anderen Seite, mit der man sich gut zu stellen hat, falls sie sich erneut zur Kritikerstimme erhebt? Kann man einen Roman, der von solchen Extremen flankiert wird eigentlich neutral betrachten? Nein. Das würde ihm nicht gerecht.

Sechs Koffer von Maxim Biller

Billers Buch bleibt Billers Buch. Maxim Biller von seinem Werk zu trennen wäre, als würde man Günter Grass als Person ausblenden, um dann sein Lebenswerk zu wiegen und zu werten. Was man jedoch können sollte, ist einem Roman eine echte Chance zu geben, selbst wenn man Vorbehalte gegen dessen Verfasser hegt. Ebenso neutral und unvoreingenommen sollte man sich einem Werk von der anderen Seite her nähern. Die Lorbeeren, die seinen Weg säumen, sollten mit Bedacht und ohne Abwägen möglicher Konsequenzen zu einem Kranz geflochten werden. Das meine ich mit neutral. Das hat eigentlich jedes Buch verdient. Und damit auch jeder Schriftsteller. Hier hilft kein grüner Klee, über den er gelobt wird. Auch keine Antipathie, gegen die er nicht anzuschreiben vermag. Ich versuche es. Keine Alles-oder-Nichts Rezension und doch vielleicht mutig genug, um dem Werk nahezukommen.

Sechs Koffer“ von Maxim Biller, erschienen bei Kiepenheuer und Witsch.

Maxim Biller geht ein sehr großes Wagnis ein. Er hebt die Immunität seiner Familie auf, um einen autobiografischen Roman über ein Familiengeheimnis zu schreiben, das bis heute wie ein großer Schatten die Vita des Schriftstellers bestimmt. Insofern handelt es sich hier um einen Familienroman mit historisch verbrieftem Setting. Es geht um die Geschichte einer jüdischen Familie, der es gelang dem Kommunismus zu entfliehen, in die Welt zu ziehen und ihr großes oder kleines Glück zu machen. Einziger Makel an der Geschichte ist das Opfer, das gebracht wurde, um sich loszueisen. Irgendjemand muss den Großvater Biller verraten haben. Irgendjemand hat ihn auf dem Gewissen. Ihn, den die sowjetische Geheimpolizei aufgespürt und 1960 hingerichtet hat.

Sechs Koffer von Maxim Biller

Dabei waren es nur kleine Wirtschaftsdelikte, die man ihm nachweisen konnte. Ein paar geschmuggelte Nähmaschinen, ein bisschen Devisenschieberei. Vergehen, die in der Hochzeit des Kommunismus, und noch dazu von Juden begangen, drakonisch und endgültig bestraft wurden. Nun lastet die Frage, wer den Großvater denunziert hat auf den in alle Winde zerstreuten Billers. Verdächtig ist jeder. Jeder verdächtigt jeden. Wer kommt in Frage? Dem geht Maxim Biller in der Rolle des Ich-Erzählers nach, indem er sich in die Zeitscheiben der verworrenen Familiengeschichte begibt, um Spurensuche auf der Basis eigener Erinnerungen zu betreiben. Verdächtig sind sechs Personen. Der eigene Vater, dessen drei Brüder, die eigene Mutter und seine Tante. Sechs Verwandte kommen auf diese Weise zu Wort. Menschen, die zeitlebens auf gepackten Koffern und auf einem Geheimnis saßen, das es nun zu lösen gilt.

„Sechs Koffer“ öffnet Maxim Biller. Dabei handelt es sich für mich, bildlich gesehen, um eine umgekehrt proportional aufgebaute Matrjoschka-Puppe. Im kleinsten Koffer, den Biller aus Sicht seines erst fünfjährigen Ichs beschreibt, verbergen sich die immer größer werdenden Koffer mit immer relevanter werdendem Inhalt. Über die weite Welt hat es die Verdächtigen verstreut. In unterschiedlichen Zeitscheiben finden sich Fährten und Anhaltspunkte. Moskau hinter dem Eisernen Vorhang, Prag im Prager Frühling, ein freies westliches Hamburg, Zürich, Montreal und London. Schauplätze einer Reise, bei der die Perspektiven sich zu einem großen Verwirrspiel um Daten und Fakten, Abläufe und mögliche Motive verdichten.

Sechs Koffer von Maxim Biller

Hier rekonstruiert Maxim Biller nicht nur die Geschichte seiner Familie, sondern in besonderer Weise auch die zeitgeschichtlichen Aspekte des Untergangs einer Diktatur, die jedoch zumindest noch den Großvater des Erzählers mit sich ins dunkle Grab zieht. Ja, es liest sich spannend. Ja, das ist geheimnisvoll genug, um einem Roman in einem stabilen Geflecht aus Handlungselementen Tragkraft zu verleihen. Und nein, es ist auf keinen Fall ausufernd oder episch in die Länge gezogen, was Maxim Biller hier erzählt. Etwas mehr als 200 Seiten gönnt er sich zur Spurensuche. Nicht besonders viel Raum, um einer vielschichtigen Geschichte auf den Grund zu gehen. Nicht viel Platz für einen Plot, der Geschichte und Familie, Religion und Vorbehalte, Flucht und Kriminalität, Tod und Intrigen miteinander zu einem Ganzen verwebt. 

Verwirrend wirken Elemente, die sich dem Zugriff des Lesers manchmal zu entziehen drohen. Es ist der erst fünfjährige Maxim, der das Innenleben seiner Eltern beschreibt, als sei er praktizierender Psychologe. Es sind die Widersprüche, die als Stilmittel eines Geheimnisses in den Sichtweisen der „Verdächtigen“ versteckt werden. Es sind Lieben und Leiden, die nicht nur Ländergrenzen, sondern auch die Anstandsgrenzen deutlich überschreiten. Biller scheint es manchmal nicht um Aufklärung zu gehen. Eigentlich ist dieses Geheimnis gar nicht dafür geeignet, gelüftet zu werden. Die Gegenwart zu leben und die Vergangenheit dabei nicht übermächtig werden zu lassen, das scheint für mich eine der zentralen Botschaften des Romans zu sein. Dass es trotzdem nicht gelingt, ist ebenso typisch für diesen Roman und die Authentizität mit der er in der Vita des Autors verankert ist.

Sechs Koffer von Maxim Biller – Der fehlende siebte Koffer

Ich habe mich an manchen Stellen des Romans nicht sehr wohl gefühlt in diesem Buch. Wo ich gerne ausführlicher gelesen hätte, war es zu minimalistisch. Wo ich dem fünfjährigen Ich-Erzähler nicht folgen wollte, hat mich der spätere und reifere Biller mit seinem rückblickenden Weitblick mehr begeistert. Wo ich Atmosphärisches vermisste wurde ich vom indirekten Charisma der Erzählung überrascht. Wo ich Betroffenheit und Empathie empfand, neutralisierte sich der Autor gegenüber der eigenen Familie. Er hat auf hohem Niveau mit mir gespielt. Er hat es gewagt, in den Mittelpunkt des jüdischen Miteinanders im Familienverbund das Schachern, Schmuggeln und Zweifeln zu stellen. Er hat sich vielleicht mit diesem Roman befreit, ohne dabei zu viel preiszugeben. Wer hat den Großvater verraten? Ein Leitmotiv des Romans, dem ich gerne auf den Grund gegangen wäre. Ein Buch, das lesenswert ist, für mich jedoch mit Einschränkung.

Jedenfalls darf man nicht erwarten, dass er dieses große Familiengeheimnis löst. Diesen siebten Koffer überlässt er seiner eigenen Schwester. Ihr Buch könnte diesem Geheimnis auf den Grund gehen. „In welcher Sprache träume ich? Die Geschichte meiner Familie“ wurde in Deutschland nur wenig beachtet. Könnte es sein, dass jetzt? Wäre es möglich, dass Leser nun beginnen, diesen siebten Koffer zu öffnen? Wäre es denkbar, dass Maxim Biller hier versucht, uns einen weiteren Koffer ins Bücherregal zu schmuggeln. Das wäre, der Familientradition folgend, nur logisch, aber wäre es legitim? Ich mag seinen Roman. Er verleitet mich jedoch nicht dazu, weiter in dieser Geschichte zu graben. Er ist zweifelsohne lesenswert. Eine Buchpreis-Bindung (Verzeihung für das Wortspiel) sehe ich jedoch nicht. Da hatte ich einen anderen Favoriten

Ich mag es nicht, wenn mir am Ende einer Geschichte zum zentralen Gegenstand des Spannungsbogens erzählt wird: „Das geht niemanden etwas an. Das verstehen Sie doch, oder?“ Nö, hab` ich nicht verstanden!

Sechs Koffer von Maxim Biller auf der Shortlist. Mein Favorit ist raus…

Ein Gedanke zu „„Sechs Koffer“ von Maxim Biller

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